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Akzeptierende Jugendarbeit mit Neonazis?
 
Heitmeyerei:
Der hilflose Antifaschismus der SPD
 
(Ungedrucktes Skript von Peter Kratz aus 1989)

Der Bielefelder Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer ist in diesen Tagen ein gefragter Mann. In welchem Medium auch immer, kommt erst mal die Sprache auf den anwachsenden Neofaschismus, so wird Heitmeyer ums Wort gebeten. Für die SPD ist er fast zur obersten Autorität geworden. Die Stellungnahmen der Sozialdemokraten sind von Heitmeyers Begriffen und theoretischen Erklärungen geprägt. Erst kürzlich hat die SPD ihren Vordenker in eine Arbeitsgruppe berufen, die den MdB's und MdL's die letzten Ratschläge im Umgang mit REPs, DVU oder FAP geben soll.

Die Beliebtheit des sozialdemokratischen Senkrechtstarters hat keinen guten Grund, jedenfalls nicht für Linke. Denn Heitmeyer will etwas entdeckt haben, das den herrschenden Eliten der Bundesrepublik bei der fortschreitenden Thatcherisierung sehr nützlich ist: Nicht tatsächliche materielle Defizite, bekannt als Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Lehrstellenmangel, seien die tieferen Ursachen für die Wahlerfolge neofaschistischer Parteien, sondern angebliche psychische Defizite der Neonazis. Sie könnten wegen emotionaler Mängel die als Folge konservativer Wirtschaftspolitik entstandenen sozialen Spannungen nicht ertragen. Entsprechend bedürfe es sozialpädagogischer Maßnahmen, um diesen Mangel an emotionaler Sicherheit und Grundvertrauen zu beheben. Heitmeyer vor den Bundes-Jusos: "Dazu benötigt man im übrigen auch nicht den Begriff 'Antifaschismus'".

Nicht die Antifaschisten müßten Angst vor den Knüppeln und Stahlkappen-Stiefeln der Nazis haben; die Nazis vielmehr seien es, die Angst hätten, darum seien sie ja Nazis geworden. Demos, Flugis, Diskussionen, Verbotsforderungen von Gewerkschaftern, Grünen, linker SPD, Kommunisten sollten laut Heitmeyer besser unterbleiben, denn sie trieben die Nazis nur noch mehr in ihre Wagenburg: "Diese Proteste dienen allein der Beruhigung des eigenen politischen Gewissens. Den Rechtsextremen wird damit nur Angst eingejagt, davon haben sie aber schon genug...denn Angst ist ohnehin das zentrale Motiv für Rechtsextremismus".

Antifaschisten vor Ort erleben das in ihrer täglichen Praxis anders. Z.B. Andreas Kaps, SPD-Wahlhelfer, dem am 16. Juni 1989 in Hainburg bei Offenbach ein NPDler mit einer Eisenstange auf den Kopf schlug; Kaps erlitt innere Blutungen und eine lebensgefährliche Gehirnquetschung. Am 20. April 1989, Hitlers 100. Geburtstag, blieben in Hamburg Tausende Schüler aus Angst vor den Neonazis lieber gleich zu Hause.

Aber was Heitmeyer hier im Juni 1989 dem SPIEGEL sagte, ist praktisch für alle, die immer schon etwas gegen Antifaschismus hatten: weil er im Gegensatz zur Psychotherapie die Frage nach den Ursachen der Rechtsentwicklung bis zu den gesellschaftlichen Besitzverhältnissen verfolgt. "Um Gottes Willen bloß keine neue linke Massenbewegung mit dem Antifaschismus entstehen lassen - mit der Friedensbewegung hatten wir doch schon genug Ärger!" Das hat niemand gesagt, jedenfalls nicht laut.

Die SPD-Bundestagsfraktion war sich auf einer Sondersitzung im Mai 1989 zu den Wahlerfolgen von DVU, NPD und REPs einig: weder Verbote der Neofaschisten noch Demonstrationen der Antifaschisten seien der richtige Weg, demokratisches Bewußtsein zu bekunden und zu stärken und entsprechende Politik durchzusetzen. "Die Straße frei" brauchen die Faschisten dann schon nicht einmal mehr zu erkämpfen.

Die Realität des sozialdemokratischen Antifaschismus ist beschämend: Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Hermann Lutz (CDU), machte öffentlich Parallelen zwischen dem Parteiprogramm der NSDAP und dem der REPs bekannt und wies auf die grundgesetzwidrigen Forderungen der REPs nach Pressezensur, nach Einschränkung der Gültigkeit von Grund- und Sozialrechten auf Deutsche und nach Einschränkung von Gewerkschaftsrechten hin. Wenige Wochen später schrieb Heinz Putzrath, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft verfolgter Sozialdemokraten, der SPD-Gegengründung gegen die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), im SPD-Pressedienst das Gegenteil: "Das Programm der Republikaner läßt sie als eine konservative, deutschnationale Partei erscheinen, die auf dem Boden des Grundgesetzes steht und sich von Nationalsozialisten der Vergangenheit distanziert". In einer Entschließung zum Thema "Rechtsextremismus" vom Mai 1989 wandten sich die von den Nazis verfolgen Sozialdemokraten dann lieber gleich dem RAF-Hungerstreik vom Frühjahr zu: "Beim Kampf gegen den Rechtsextremismus darf der Terrorismus nicht übersehen werden...Der Humanismus ist kein Mittel zur Bekämpfung des Terrorismus".

Man kann sich auch auf andere Weise lächerlich machen. Die SPD tut dies bei ihrer engen Zusammenarbeit mit Heitmeyer. Der versteht sich als Jugendforscher, jahrelang will er die Psyche der heutigen Jugendlichen wissenschaftlich ergründet haben.

Leider sind ihm dabei etliche Fehler unterlaufen, die der Laie in den sozialwissenschaftlichen Forschungsmehthoden kaum wird beurteilen können; und Politiker sind solche Laien. Heitmeyer behauptet immer wieder, seine Forschungen basierten auf Daten aus einer Befragung von 1257 Jugendlichen, eine in der soziologischen Befragungsforschung übliche und aus statistischen Gründen notwendig hohe Zahl. Liest man Heitmeyers Bücher genau nach, so haben jedoch nur 365 Jugendliche seinen Fragebogen vollständig ausgefüllt. Dabei hatten auch diese wenigen nach des Forschers Eingeständnis emotionale Probleme mit der Beantwortung von Fragen. Heitmeyer beklagt selbst das "nachlässige Ausfüllen der Fragebögen wie vor allem (den) Umstand, daß wir eine Reihe historisch belasteter, z.T. tabuisierter Fragen an Jugendliche herangetragen haben, die von ihnen nicht gern in allen Facetten beantwortet worden sind". Nun weiß man im Bereich der wissenschaftlichen Demoskopie seit langem, daß solche emotionalen Schwierigkeiten gleichbedeutend sind mit der wissenschaftlichen Unbrauchbarkeit der Antworten; die problematischen Statements werden im Normalfall aus den Fragebögen herausgenommen. Nicht so bei Heitmeyer. Als wäre dieses Vorgehen nicht schon falsch genug, berechnet er seine fehlerhaften Daten dann auch noch zusätzlich mit den falschen statistischen Methoden. So erhält er Ergebnisse, die man rundheraus als unwissenschaftlich und verfälscht bezeichnen muß. Heitmeyer hält selbst den anerkannten Methoden-Kanon bürgerlicher Sozialwissenschaft nicht ein, zu schweigen von einer historisch-materialistisch fundierten Wissenschaft.

Freilich gab und gibt es ein Phänomen schon immer in den Sozialwissenschaften: daß mit falschen Forschungsmethoden die Ergebnisse herausgekitzelt werden, die politisch erwünscht sind. Allerdings sind die Methoden selten so plump falsch wie bei Heitmeyer, der aus seinen Ergebnissen dann die von der SPD gerne aufgegriffenen Ratschläge gegen den Neofaschismus ableitet. "Dazu benötigt man im übrigen auch nicht den Begriff 'Antifaschismus'", sehr wahr.

Schon Heitmeyers Ausgangspunkt hätte stutzig machen müssen: es sind doch gar keine Jugendlichen, sondern Erwachsene, die die REPs zu 7 bis 15 Prozent wählten. Und bei einer Wahlanalyse des Statistischen Bundesamtes anhand der nach Altersgruppen gekennzeichneten Stimmzettel der Europawahl wurde kein wesentlicher Unterschied in der REP-Präferenz über die Lebensalter hin festgestellt. Aber für Heitmeyer und seine gesellschaftspolitisch hilflosen Fans handelt es sich beim Neofaschismus um ein Jugendproblem.

Diese hilflos-psychologisierenden Antifaschisten nehmen beharrlich bestimmte Fakten einfach nicht zur Kenntnis.

Ein Beispiel:

Gewinne der Siemens AG fließen in die Siemens-Stiftung, eine rechte Denkfabrik. Geschäftsführer der Siemens-Stiftung war jahrelang Armin Mohler, einer der eifrigsten Förderer der zeitgemäß reformierten neofaschistischen Ideologie der "Neuen Rechten". Franz Schönhuber traf sich bereits eine Woche nach Gründung der REPs im Winter 1983 mit Vertretern dieser "Neuen Rechten", unter ihnen Mohler, um die Übersetzung der frisch renovierten neofaschistischen Ideologie in wählbare Tagespolitik zu betreiben. Das EG-Hightech-Kapital tritt demnächst auf dem Weltmarkt gegen US-amerikanisches und japanisches Kapital an. Die "neurechten" Intellektuellen haben bereits die passende Ideologie für die kommenden ökonomischen Kämpfe: Gefährdung der "eigenen nationalen Identität" durch "Amerikanismus" und "asiatische Überfremdung". Siemens-Vorstandsmitglied Hermann Franz über die "Globalisierungsziele" seines Konzerns: "In fünf Jahren wird Siemens ein anderes Unternehmen sein und in Europa eines der aggressivsten". Die Siemens AG arbeitet seit Jahren mit dem Verfassungsschutz zusammen, um ihre ArbeitnehmerInnen überwachen zu lassen. Die Verfassungsschützer weigern sich beharrlich, die REPs zu beobachten. Zusammenhänge?

Heitmeyer und seine sozialdemokratischen Fans denken in anderen Kategorien. "Individualisierung", das Zeitgeist-Problem des postmodernen Menschen, ist ihr Stichwort, "Orientierung", das meint das Sichzurechtfinden in der Welt, ist ihr psychologischer Ansatzpunkt. Nicht die richtige Erkenntnis der Wirklichkeit, das linke Bewußtsein ist hierbei Gegenstand von Wissenschaft und Politik, sondern die für das unauffällige Überleben in der bundesdeutschen Gesellschaft funktionale "Orientierung", die dem Menschen subjektiv Sicherheit durch ein Gefühl der Geborgenheit in der Welt vermittelt, auch wenn diese Welt objektiv von Klassengegensätzen zerrissen sein mag. Ein neuer Begriff also, mit Handlungskonsequenzen für die Linke: Nicht mehr das Verändernwollen von Mißständen, sondern das Ertragenkönnen steht im Vordergrund. Die heutigen "Orientierungen" bei Jugendlichen seien falsch, so Heitmeyer, denn die Menschen könnten "die Unsicherheiten in sozialen Situationen...nicht ertragen". Die konkreten "Orientierungen", die er festgestellt haben will, erforschte er allerdings mit verfälschenden statistischen Methoden.

In seinem Hauptwerk "Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen" gibt er sich als romantizistischer Zivilisationskritiker zu erkennen. Seitenweise schreibt er bei dem postmodernen Bamberger Soziologen Ulrich Beck ab: "soziale Kontinuitätsbrüche" hätten die alten "Sozialisationsmilieus" zerfallen lassen, die bisher den Menschen klare "Orientierungen" vermittelt hätten. Genannt werden immer Kirche, Familie, die legendäre Arbeiterkultur. Und Peter Glotz echot bereits im neuer "Vorwärts" vom August 1989 als Ursache für neofaschistische Wahlerfolge: "Die sozialen Milieus schmelzen ab". Die alten, alte Orientierung gebenden Milieus sind gemeint. Was die Linke spätestens seit Februar 1848, seit dem Erscheinen des "Kommunistischen Manifestes" von Marx und Engels als Faktum weiß und politisch progressiv zu nutzen wußte: daß die Bourgeoisie rücksichtslos alte Fesseln sprengt, dieses Faktum erscheint bei Heitmeyer oder Beck als die altbekannte Sehnsucht nach dem "Damals", als auch die Jugendlichen noch wußten, wo es lang geht: in die Kirche, in die Familie, in den Arbeitergesangverein. Heute dagegen sei "Bindungslosigkeit" der Jugendlichen die Regel, sie fühlten sich allein, verunsichert. Ohne emotional verankertes Grundvertrauen in die Richtigkeit der von Vätern und Großvätern ererbten Weltordnung (und nichts anderes vermittelten Kirche oder Familie) bekämen sie die vielfältigsten Ängste. In ihrer Not wendeten sie sich "orientierenden Gewißheiten", "noch vorhandenen Kontinuitäten" zu, die ihnen der Neofaschismus mit Volk, Nation, Heimat böte. Das Arsenal konservativer Soziologie mündet in die Behauptung, das Individuum würde Nazi zwecks Angstreduzierung.

Gottseidank, niemand spricht mehr vom Kapital! Das Problem Neofaschismus selbst ist individualisiert. Heitmeyer sieht zudem die "Individualisierung" der Jugendlichen als eine von der jeweiligen Gesellschaftsform unabhängige Tendenz der "industriegesellschaftlichen Produktionsweise" allgemein. Entsprechend braucht eine Politik gegen die extreme Rechte auch nicht mehr antikapitalistisch zu sein. Wer vom Faschismus redet, darf nach Heitmeyer endlich vom Kapitalismus schweigen. Der Faschismus ist zu einem Problem emotionaler Defizite in der psychischen Entwicklung vom Jugendlichen zum Erwachsenen umdefiniert. "Dazu benötigt man im übrigen auch nicht den Begriff 'Antifaschismus'". Stimmt.

Die psychologisierende Erklärung des Neofaschismus ist innerhalb der SPD inzwischen derart populär, daß die rheinland-pfälzische SPD-Landtagsfraktion sich in ihrem Antrag "Rechtsradikale Einflußnahme auf junge Menschen" vom August 1989 breit über "individuelle Sozialisationsmängel" der Jugendlichen "mit der Folge von Kreativitätsverlust, Willensschwäche (!) und Orientierungslosigkeit" ausläßt. Man fühlt sich zurückversetzt in die Adenauerzeit, als NS-sozialisierte, konservativ-muffige Jugendpfleger die Rock'n'Roll-Krawalle der 50er Jahre mit dem Nazi-Psychologie-Konzept des "Willens" erklärten und dessen pädagogische "Stärkung" forderten.

Die SPD-Bundestagsfraktion hatte es im April 1989 bereits vorgemacht: wortgleiche Formulierungen finden sich in einem Argumentationspapier des Fraktions-Arbeitskreises Inneres, den der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Dr. Wilfried Penner leitet. Und auf der schon erwähnten Sondersitzung der SPD-Bundestagsfraktion gab der Fraktionslinke Hermann Scheer ein bezeichnendes Eingeständnis der ganzen Hilflosigkeit des sozialdemokratischen Antifaschismus: Unter großer Zustimmung führte Scheer die Wahlerfolge der neofaschistischen Parteien auf "Illusionen" zurück, die die Politiker bei den Wählern über ihre realen Handlungsspielräume geweckt hätten; angesichts der gesellschaftlichen Probleme, so Scheer, machten rechtsextreme Protestwähler jetzt die Politiker für Entwicklungen verantwortlich, die diese gar nicht beeinflussen könnten.

Kein Wunder, daß sich auch linke Sozialdemokraten den Ersatzhandlungen der Jugendpflege zuwenden: gesellschaftspolitisch haben sie resigniert.

Heitmeyers konservativ-romantische Neofaschismuserklärungen haben antiemanzipatorische, ja frauenfeindliche Konsequenzen. Das scheint die SPD, die sich zur Zeit mit der Frauen-Quotenregelung von einem Emanzipationsschub Stimmengewinne erhofft, aber nicht zu stören. Bei seinem Blick auf die "sozialisierenden Milieus" ist Heitmeyer immer wieder auf die 'Keimzelle der Gesellschaft', die Kleinfamilie fixiert. Seiner Meinung nach ist sie offenbar durch Frauenemanzipation zerstört worden. Heitmeyer bei einem "Werkstattgespräch" der Jusos über Neofaschismus: "Die Altersgruppe der 11- bis 14jährigen lebt in ganz neuen Familienkonstellationen. Die wachsen z.T. auf mit Viert- und Fünft-Vätern, weil ja die traditionelle Familie, Vater, Mutter, 1,6 - statistisch - Kinder, also diese Normalfamilie in der Bundesrepublik jetzt schon in der Minderheit ist". "Orientierung" gebenden "Kollektiv- und Gruppenerfahrungen oder Gemeinsamkeitserfahrungen" fänden in dieser neuen Familie nicht mehr statt.

In seinem Hauptwerk "Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen" schließt sich Heitmeyer der These Becks an, die wachsende Ehescheidungsrate sei eine der letzten Ursachen des wachsenden Neofaschismus. Ehescheidung, Individualisierung, Bindungslosigkeit der Kinder, Identitätsstörung, Geborgenheitssuche im deutschen Volk, so die angebliche, nach rechts führende Sozialisationskette. Heitmeyer: "Die Erosion (der Orientierung gebenden Sozialisationsmilieus, d.V.) reicht weit bis in die sozialisationsrelevanten Kernbereiche, wenn man etwa die Scheidungsziffern aufnimmt, bis in den engen Raum der Kleinfamilie". Er bezieht sich in diesem Zusammenhang auch auf das reaktionäre Identitätskonzept des Psychologen Erikson, der die Meinung vertrat, wer keine Familie gründe, habe die gesellschaftlichen Ziele der persönlichen Identitätsfindung verfehlt und müsse als psychisch gestört gelten.

Angriffe auf emanzipatorische Fortschritte, zu denen selbstverständlich auch das Scheidungsrecht als ein zentraler Teil der Frauenemanzipation zählt, gefallen den Konservativen. Ulrich Beck durfte am 1. April 1989 (leider kein Scherz) in der Kapital-eigenen Springer-Zeitung DIE WELT die jüngsten Wahlergebnisse erklären. Als eine Hauptursache führte er "die hohe Scheidungsziffer" an: "Hier brechen Gegensätze auf, die in der Architektur der primären Industriegesellschaft im Verhältnis von Familie und Beruf, Frau und Mann harmonisiert zu sein schienen". Was hat die bundesdeutsche Linke mit dem rechten Mythos einer heilen harmonischen Familienidylle zu schaffen: in der in Wahrheit der autoritäre Vater mit dem Ledergürtel die Prügelstrafe ausübte; in der die sozialintegrative Mutter auch den Ehebruch ihres Gatten erduldete (und mangels Scheidungsrecht und eigener sozialer Absicherung erdulden mußte; aber wehe ihr, wenn sie ihm gleichtat!); in der rechtlose Kinder und Jugendliche sich vom zugeteilten Beruf bis zur Zwangsverheiratung alles gefallen zu lassen hatten ? Aus diesen Familien gingen die Untertanen hervor, die begeistert in den Ersten Weltkrieg des deutschen Kapitals zogen und die 25 Jahre später ehrfurchtsvoll im Familienkreis den Führer-Reden am Volksempfänger lauschten. Die Kleinfamilie als Rettung vor dem Faschismus? Schlag nach bei Adorno!

Und auch die legendäre Arbeiterkultur sozialisierte den späteren "Arbeiter der Faust" offenbar hervorragend für den Führerstaat. Seit wann glaubt die Linke, Arbeiter seien bessere Ehemänner gewesen?

Wo waren, wo sind denn Familie und Beruf "harmonisiert": Kinderarbeit, Wechselschicht, fehlende Hortplätze für die Kinder beruftätiger Mütter? Derartige "Erklärungen" des Faschismus gehen an der Realität von Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern vorbei. Die SPD war schon einmal fortschrittlicher: mit ihrer Reform des Scheidungsrechts, die den Frauen soziale Absicherung garantierte und ihnen dadurch erst die Ehescheidung ermöglichte.

Die statischen, von den Vätern und Großvätern ererbten "Orientierung" gebenden "Milieus" haben in Wahrheit nie existiert, erst recht nicht als Idyllen. Sie sind konservative Mythen, die gegen das gehalten werden, was Menschheitsentwicklung zu jeder Generation ausmachte: Entwicklung, Veränderung, Fortschritt, die nicht als "Kontinuitätsbruch" bejammert, sondern als Möglichkeit zur individuellen Emanzipation gefordert wurden.

Das pseudolinke Gerede vom Neofaschismus als Folge des Zerfalls alter "Milieus" gefällt dem Kapital: Über die Weltmarkt-Interessen von Siemens, Deutscher Bank oder Bertelsmann an den "Überfremdungsängsten" spricht niemand mehr; auch die Gewinninteressen privater Hauseigentümer, die in den Großstädten ganze Straßenzüge besitzen und sich an der künstlichen Wohnraumverknappung eine goldene Nase verdienen, sind kaum ein politisches Thema. Solange man die Niederlage antiquierter (und strukturell autoritärer) ArbeiterInnen-Alltagskultur vor der Kultur der Moderne, solange man die größere Attraktivität von Michael Jackson oder der Rolling Stones gegenüber der Sozialisationsinstanz "sozialdemokratischer Arbeitergesangverein" für den Neofaschismus verantwortlich macht, kann das Kapital beruhigt sein: die Linke bewegt sich dann noch im Dunstkreis der "Überfremdungs"-Ängste. Die SPD-Landtagsfraktion Rheinland-Pfalz meint laienpsychologisch, "Rechtsextremismus" bei Jugendlichen rühre vom "Verlust an Gemeinschaftsbindung" her, der vom "Mangel an positiven Vorbildern und dem damit verbundenen Ersatz durch fragwürdige Idole" verschuldet sei. "Rechtsextremismus" sei als eine "Krise im Leben von Jugendlichen" ebenso zu beurteilen und zu behandeln wie "Drogensucht" oder "Spielsucht".

Wollten SPD-Bildungspolitiker vor 15 Jahren noch mit "Konfliktpädagogik" die Durchsetzungsfähigkeit der Schwachen in der interessensgespaltenen spätkapitalistischen Gesellschaft fördern, so wollen die genannten SPD-Kreise heute den Kleister der emotionalen "Gemeinschaftsbindung" über die Risse schmieren.

So etwas nennt man Rechtsruck.

Schließlich greift Heitmeyer auch noch die Erfüllung gewerkschaftlicher Forderungen an: die "Individualisierung" mit ihren Folgen der "Orientierungslosigkeit" und Hinwendung zu faschistischen "Geborgenheiten" (als ob das keine Orientierung wäre!) habe ihre Ursache auch in der "Ausweitung der Verrechtlichung von sozialen Beziehungen" und in der "Schaffung sozialstaatlicher Sicherungssysteme"; denn beides mache das alte solidarische Arbeitermilieu überflüssig.

Emanzipation als Ursache von Faschismus: Arbeits- und Tarifverträge, Frauenbefreiung, finanzielle Sicherheiten. Die Genialität dieser Erklärung liegt nicht nur in ihrer Ablenkungsfunktion von den Interessen des Kapitals, sondern in ihrer Hinlenkungsfunktion auf die berechtigten Interessen der Mehrheit der Bevölkerung als der vermeintlich eigentlichen Ursache von Faschismus.

Entsprechend gestaltet sich vielerorts die aktuelle sozialdemokratische Politik gegen rechts: So soll nicht etwa die Funktion der Ausländerfeindlichkeit im Rahmen kapitalistisch begründeter Wohnraumverknappung benannt werden, sondern die (Wieder-) Herstellung kultureller "Milieus" betrieben werden. Nicht Sozialismus, sondern Sozialarbeit. Für Heitmeyer ist nicht etwa die Forderung nach mehr Wohnungen und einer besseren Verteilung der Arbeit angesagt, damit die emanzipiert allein lebende junge Frau nicht als Konkurrentin auf den Märkten der Lebensvoraussetzungen angegriffen wird. Er möchte vielmehr mit "Gemeinschaftserlebnissen" in organisierten Jugend-Zeltlagern emotionalen Ersatz für das schaffen, was seiner Meinung nach in der Kleinfamilie nicht mehr vorhanden sei: Dort wo sein Schreckensbild einer Rabenmutter herrscht, die ihren 11jährigen Kindern bereits den fünften Ehemann zumutet, könnten die "emotionalen Erlebniswünsche" der Jugendlichen nicht mehr erfüllt werden. "Freizeitpolitik für Kinder und Jugendliche" mit dem Ziel der "Sinnfindung im Leben" fordert konsequent die Rheinlandpfalz-SPD. Und Heitmeyer setzt noch eins drauf: er will hinter jede Frittenbude einen Sozialarbeiter stellen, der den "gefährdeten" (weil trotz jahrelanger "Sozialarbeit" immer noch arbeitslosen) Jugendlichen auflauert und ihnen zu jeder Zeit ordentlich eins drüber pädagogisiert. "Aufsuchende Sozialarbeit" nennt er das, "auf der Straße, in Parks, in Kaufhäusern, in Imbißstuben, Stadien und ähnlichen Orten" - vor dieser pädagogischen Keule wird kein junger Mensch mehr sicher sein!

So etwas nennt man Befriedungspolitik. Psychologie statt Materialismus. Wenn man das emotionale Erleben an die Stelle der materiellen Wirklichkeit setzt, statt die materielle Wirklichkeit als Ursache des emotionalen Erlebens zu verstehen, wenn man an die Allmacht psychologischer Manipulation zur Herstellung von politisch erwünschten "Orientierungen" und an die Ohnmacht des Seins bei der Bestimmung des Bewußtseins glaubt, dann ist "Freizeitpolitik" tatsächlich die angemessene Antwort auf Massenentlassungen. "Dazu braucht man im übrigen auch nicht den Begriff 'Antifaschismus'." Dazu wirklich nicht!

Während auch die Jusos bundesweit auf die sozialpflegerische Heitmeyer-Linie eingeschwenkt sind, versucht als einzige Parteigruppierung noch die SPD-Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen, den Neofaschismus mit konkreten sozialpolitischen Forderungen wenigstens an einer seiner Wurzeln zu packen. Daß sie es gegen die psychologisierende Übermacht nicht leicht hat, zeigt auch der SPD-Antrag im Mainzer Landtag: der Besinnung auf sozialdemokratische Allgemeinplatz-Forderungen wie der nach "konsequenter Beseitigung der Jugendarbeitslosigkeit" gehen lange Ausführungen über angeblich fehlende "positive Orientierungen" bei Jugendlichen vorher. Was mag damit gemeint sein, vielleicht "Think pink!"?

Das Bejammern des "Verlustes an Gemeinschaftlichkeit" und an "traditionellen Wertsystemen" (Heitmeyer), die romantizistischen Schuldzuweisungen an die "industrielle Produktionsweise", die in der Diffamierung der emanzipierten Frau als Rabenmutter tief sitzende Angst vor jeglicher Emanzipation und die Präferenz für rein geistige Neuorientierungen statt materieller Veränderungen haben die heutigen Anti-Antifaschisten mit den Vätern der völkischen Bewegung gemeinsam. Paul de Lagarde z.B. wollte mit Hilfe einer neuen deutsch-germanischen Nationalreligion die emotionale Befriedigung verschaffen, die aufgrund der materiellen Lebenssituation ausblieb. Heute soll dies - zeitgemäß - die Sozialpädagogik leisten. Statt der faschistischen Ersatzgeborgenheit jetzt die pädagogische. Und bloß nichts an der Wirklichkeit ändern!

Siehe auch:
Peter Kratz: Rechte Genossen. Neokonservatismus in der SPD, Berlin 1995
 

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