Peter Kratz: "Rechte Genossen.
Neokonservatismus in der SPD", Kapitel 2
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2. Krisensozialismus und Sozialpatriotismus 
Formierung der Gemeinschaft gegen das Individuum 

Die Sozialdemokratie der 90er Jahre betreibt eine Politik der Gesellschaftsformierung, um den Sozialabbau zu ermöglichen, der die Hightech-Subventionen finanzierbar machen soll. Sie greift dabei auf den Antiliberalismus und Antihedonismus zurück, der ihre Politik bereits im Ersten Weltkrieg und teilweise in der Krisenzeit am Ende der Weimarer Republik bestimmte. Der Abbau sozialer und demokratischer Rechte, die ökonomische Eroberung und künstliche Verarmung Osteuropas, Konsumverzicht im Westen, der Ruf nach Zwangsdiensten zugunsten der Konzerngewinne: all dies pries die Sozialdemokratie bereits früher und preist sie heute wieder als Fortschritt an. Nationale Rhetorik geht dabei mit konservativer Zivilisationskritik in eins. Die materiellen Interessen der Mehrheit der Individuen werden geopfert zugunsten eines angeblichen Gemeinschaftsinteresses, das sich wiederum nur als Kapitalverwertungsinteresse der Besitzenden zeigt. 

Die gigantische Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums stößt bereits an die Grenze zur Massenverarmung, auch in Europa. In Deutschland sinken die Reallöhne seit 1986, mit kurzzeitiger Unterbrechung im "Wiedervereinigungs-Boom". Seit 1981 sinkt die Lohnquote - der Anteil der Nettolöhne und -gehälter der Arbeitnehmer am Nettovolkseinkommen - und erreichte 1991 gerade noch 56 Prozent. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger stieg seit 1980 um 75 Prozent, der Anteil der gezahlten Sozialleistungen am Bruttosozialprodukt fiel jedoch in derselben Zeit um fast zehn Prozent. Nach dem "Armutsbericht 1994" des DGB und des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes leben zehn Prozent der Deutschen mit nur der Hälfte des durchschnittlichen Haushaltseinkommens in Einkommsarmut. Mehr als vier Millionen Menschen beziehen Sozialhilfe, schätzungsweise weitere zwei Millionen wären anspruchsberechtigt, haben jedoch keine Anträge gestellt. Gerade in den neuen Bundesländern ist fast die Hälfte der Sozialhilfeempfänger bereits seit mehr als einem Jahr auf diese Zahlungen zum Lebenserhalt angewiesen. Fast 30 Prozent der Sozialhilfeempfänger sind Kinder und Jugendliche, in Ostdeutschland ist fast die Hälfte der Familien mit mehr als zwei Kindern einkommensarm. Dreiviertel der Arbeitslosen erhalten nach dem "Armutsbericht" gar kein Arbeitslosengeld. Fast eine Million Menschen in Deutschland sind obdachlos. 

Um die Massenverarmung zu stoppen, andererseits aber die Umverteilung zugunsten der Hochtechnologie-Konzerne nicht zu gefährden, wurde in den 80er Jahren in der Sozialdemokratie das demagogische Konzept des "Sozialismus in einer Klasse" entwickelt. Die Idee ist denkbar einfach: Der bescheidene Wohlstand der oberen Unterschicht und unteren Mittelschicht soll zugunsten des verarmten Teils der Unterschicht abgebaut werden. "Aufkommensneutrale Umschichtung" nannte Lafontaine dies im Bundestagswahlkampf 1994, "aufkommensneutral" für die Konzerne. Zusätzlich sollen Zwangsarbeitsdienste die Arbeitslosen von der Straße holen und ökologische Sanierungsarbeiten und Infrastrukturbauten verbilligen, wodurch wiederum die Konzerne entlastet werden. 

Die Debatte der 80er Jahre wurde unter dem Stichwort "Zukunft der Arbeit" geführt und hatte die Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich zum Ziel. Lafontaine, der mit Lohnverzichtsforderungen die Diskussion ausgelöst hatte, erklärte im März 1988 auf der Bundeskonferenz der SPD-Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AFA): "Wir beklagen den sozialen Abbau, den die Wenderegierung zu verantworten hat, aber wir können ihn in absehbarer Zeit nicht rückgängig machen. ... Wenn nach einem Raubüberfall der größte Teil des Proviants weg ist, ist man gleichwohl verpflichtet, den verbleibenden Rest mit den Weggefährten zu teilen." Auf die Frage der "Wirtschafts-Woche": "Und wie schaffen Sie genügend Arbeitsplätze?" antwortete er zur gleichen Zeit: "Wenn beispielsweise die Lehrer einverstanden wären, etwas weniger Stunden zu arbeiten und damit auch etwas weniger Einkommen zu haben, wäre es kein Problem, die Lehrerarbeitslosigkeit zu beseitigen. Das können Sie ebenso für ungezählte andere Berufsgruppen durchrechnen." Damals gab es noch breite Kritik aus allen Parteiflügeln. Es sei "keine tragfähige sozialdemokratische Handlungsanweisung, lediglich die Schafe zur Selbstbeschneidung und zur Verteilung des Mangels untereinander aufzurufen und die Neuverteilung des Überflusses der Wölfe nicht einmal mehr in einer langfristigen Perspektive anzudeuten", meinten z. B. Hans-Joachim Schabedoth und Heinrich Tiemann vom eher rechten, reformistischen Flügel der Jungsozialisten. 

Auf dieser sozialdemokratischen Debatte um die "Zukunft der Arbeit" konnte nach 1989 aufgebaut werden, um immer neue Pläne des Sozialabbaus zu propagieren. Seitdem die Massenarmut in Ostdeutschland sichtbar ist, wird aus der Sozialdemokratie heraus die Gelegenheit genutzt, in immer neuen Aufrufen und Erklärungen Konsumverzicht im Westen zu fordern. Was Lafontaine 1990 mit seinem "Lied vom Teilen" anrichtete, griffen 1992 Helmut Schmidt und Wolfgang Thierse mit Unterstützung des Daimler-Benz-Chefs Edzard Reuter in einem "Manifest für Deutschland. Weil das Land sich ändern muß!" auf: "Zurückstecken und den Lebensstil ändern", lautete ihr Appell an die Mehrheit der Bevölkerung. Das sei zwar schmerzlich, so die Millionäre, doch sei es jetzt nötig, freiwillig Verzicht zu leisten, um den inneren Frieden zu bewahren. Im Falle eines Krieges nähme die Bevölkerung dies ja auch auf sich, meinten die "Manifest"-Unterzeichner allen Ernstes. 

Diese neue Offenheit in der SPD ist keineswegs außergewöhnlich. Die Partei sei schließlich kein "Schutzbund der kleinen Leute und Betriebsrat der Gesellschaft" mehr, sagte Scharping im September 1993 auf der Organisationskonferenz "SPD 2000". Hier wurden die Parteifunktionäre auf die neue Linie für die nächsten Jahre eingeschworen: Unverzichtbar für die Politik der SPD sei jetzt das "Bündnis mit den Starken und Leistungsfähigen" in der Gesellschaft. "Alle staatlichen Leistungen - auch die steuerlichen und sozialen - (müssen) einer kontinuierlichen Überprüfung unterzogen werden", hieß es im Juni 1994 in dem bereits zitierten Papier der SPD-Wirtschaftspolitiker. Scharping hatte im Mai gegen "Mitnahmeeffekte" bei den Sozialleistungsempfängern gewettert und die Überprüfung aller Leistungszahlungen an Hilfsbedürftige nach einem SPD-Wahlsieg angekündigt. Bereits im Dezember 1993 war diese Politik bei der Haushaltsdebatte des Bundesrates konkret geworden. Lafontaine erklärte: "Die Sozialdemokraten sagen nicht, daß Einschnitte in konsumtive Ausgaben nicht vorgenommen werden dürfen. Wir haben deshalb schon beim Sozialpakt einer Begrenzung etwa des Zuwachses der Sozialhilfe zugestimmt. Wir haben das jetzt im Vermittlungsausschuß für die nächsten Jahre wieder getan. ... Deshalb gehören auch alle sozialen Leistungen auf den Prüfstand. Ich wiederhole das hier." 

Eine "weitgehende Überstimmung zwischen Lafontaine und Necker", dem Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, konstatierte der SPD-nahe Pressedienst "ppp" nach dem SPD-Wirtschaftsforum "Modernisierung des Standorts Deutschland" im Januar 1994, und zwar "hinsichtlich der begrenzten Verteilungsspielräume". Um den Konzernen Spielraum für die Hightech-Modernisierungen zu lassen, müßten die Zuwächse der öffentlichen Haushalte geringer ausfallen als das Wirtschaftswachstum. Hiervon wären dann vor allem die Sozialbereiche betroffen, denn z. B. die Technologieförderung aus staatlichen Subventionen soll ja weiter wachsen. Lafontaine legte auf dem Forum die Ziele klar: "Angesichts der Staatsverschuldung weiß doch auch jeder, daß jetzt nicht die Zeit für eine Nettoentlastung ist. ... Bei dem enormen Finanzbedarf für die Modernisierung der wirtschaftsnahen Infrastruktur brächte jede Schwächung der Investitionskraft des Staates der Wirtschaft auch mehr Schaden als Nutzen." 

Er fuhr fort: "In diesem Zusammenhang ein Wort zur Pflege: Nach meiner Auffassung darf durch die Einführung einer Pflegeversicherung keine zusätzliche Kostenbelastung der Unternehmen entstehen." Das SPD-regierte Schleswig-Holstein schaffte dann als erstes Bundesland und gegen den Protest der evangelischen Kirche im September 1994 den Buß- und Bettag als arbeitsfreien gesetzlichen Feiertag ab, der bekennende Christ Johannes Rau kündigte dasselbe für Nordrhein-Westfalen an. Lafontaine ging noch weiter und wies auf mögliche Leistungseinschränkungen und weitere Feiertags-Opfer der Beschäftigten hin: "Wir müssen dafür Sorge tragen, daß sich die Pflegekosten und Beitragssätze in Grenzen halten. Sollte sich später herausstellen, daß ein Feiertag nicht ausgereicht hat, um die Belastung der Unternehmen zu kompensieren, muß erneut entschieden werden." Lafontaine forderte hier auch "ein entschiedenes Vorgehen gegen den Mißbrauch sozialer Leistungen" und "eine vorurteilsfreie Debatte über Löhne". Seiner Meinung nach müsse "bei Arbeitnehmern, die besonders qualifiziert und knapp sind, eine längere Arbeitszeit möglich sein" - was einer Zwangsverpflichtung gleichkommt. Norbert Walter, der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, forderte im Oktober 1994, "die Arbeitszeit für Ingenieure und Techniker in Deutschland deutlich anzuheben", dies verlange der Zwang zur internationalen Konkurrenzfähigkeit. Übrigens wird dies auch im Programm der Partei "Die Republikaner" vertreten. Daß die Wahl Hans-Olaf Henkels zum Chef des "Bundesverbands der deutschen Industrie" in der SPD-Spitze begrüßt wurde, wundert da nicht mehr. Henkel schrieb der SPD im Januar 1995 ins Stammbuch: "Das Herumgeeiere über Umbau oder Abbau (des Sozialtaates, P. K.) führt nicht daran vorbei: Wir müssen wirklich abbauen." Und drei Monate später sagte er: "Wir müssen endlich einmal den Mut aufbringen, die ausgeuferten Leistungsgesetze auf den Prüfstand zu stellen." Das hatte die bayrische SPD-Landesvorsitzende Renate Schmidt schon im November 1994 nach einer Tagung des rechtssozialdemokratischen "Seeheimer Kreises" fast wortgleich gesagt. 

"Wir müssen unangenehme Entscheidungen treffen und Wahrheiten offen aussprechen", sagte Scharping hierzu bereits im November 1993 auf dem Wiesbadener Parteitag. Er war auch bereit, Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich zu akzeptieren. Die "Teilzeit-Offensive" zur Vermehrung von Halb- und Drittelarbeitsplätzen anstelle einer Vollbeschäftigung ummäntelt diese Politik noch etwas. Tatsächlich jedoch ist die vermehrte Einführung von Teilzeitarbeit nichts anderes als Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich im gesellschaftlichen Maßstab, die eine Verarmung derer nach sich zieht, die jetzt schon kaum mit Vollzeitlöhnen über die Runden kommen. Mitten in den Tarifauseinandersetzungen der Hightech-Schlüsselbranche Metall- und Elektroindustrie 1994 brachte die Sprecherin des SPD-Parteivorstands, Dagmar Wiebusch, eine Pressemitteilung heraus, die unter der Überschrift "SPD und Gesamtmetall: Arbeitskampf muß vermieden werden" den neuen Sozialpakt gegen die arbeitende Bevölkerung offenbarte. 

Auf allen Ebenen sozialdemokratischer Politik schlägt die Forderung nach Sozialabbau durch. Der Pforzheimer SPD-Oberbürgermeister Joachim Becker z. B. beklagte 1994 in seinem Buch "Der erschöpfte Sozialstaat" die vermeintliche "Lawine sozialer Gefälligkeiten". Auf diesem Niveau hatte in den 70er Jahren Franz Josef Strauß gegen "Gratifikationen" gehetzt und - damals gegen den Protest der SPD - die in Jahrzehnten erkämpften Sozialleistungen als Almosen diffamiert, die in Zukunft einbehalten werden sollten. "Unser Sozialstaat ist nicht mehr finanzierbar", meinte nun Becker ganz im Stil des konservativen Rollback. Er forderte auch die Privatisierung "öffentlicher Aufgaben" vom Straßenbau bis zu den Schulen, allerdings verschwieg er noch die Konsequenzen: Straßenbenutzungsgebühren und Schulgeld. Diese Politik ist bereits Realität. In zahlreichen sozialdemokratisch regierten Großstädten wurden 1994/95 z. B. die Mittel im Jugendbereich gekürzt, obwohl der Mangel an Ausbildungsplätzen, Drogen- und Gewaltprobleme eher ein verstärktes Engagement erforderten. Becker wurde folgerichtig vom rechtsextremen "Studienzentrum Weikersheim" des berüchtigten Marinerichters Hans Filbinger zu dem Kongreß "Aufbruch und Erneuerung" aufs Hambacher Schloß eingeladen, der als Gegenveranstaltung zu den Befreiungsfeiern am 8. Mai 1995 gedacht war und bei dem sich die neokonservative Szene von Steffen Heitmann bis zum Umfeld der "Jungen Freiheit" treffen sollte. 

"Menschen mußten immer verführt, gedrängt und genötigt werden, sich zu mühen und zu plagen. Freiwillig taten sie das selten. Das ist heute nicht anders als früher", schrieb Prof. Dr. Meinhard Miegel, Vorstand des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft Bonn, im November 1994 in dreiseitigen Zeitungsanzeigen der "Deutschen Bank". Wie bekommt man Menschen dazu, für Aktionärsgewinne zu arbeiten, während ihnen die Sozialleistungen gekürzt werden, die Gebühren für Hallenbad- und Büchereibenutzung erhöht, die Kindergärten geschlossen werden? Der schwäbische SPD-Oberbürgermeister Becker hat auch bereits an einen Zwangsarbeitsdienst für Sozialhilfeempfänger gedacht. Wo die Leistungen, die die Arbeitnehmer erarbeitet und mit ihren Sozialbeiträgen und Steuern für den sozialen Notfall bereits vorfinanziert haben, als "Gefälligkeiten" verspottet werden, liegt Zwang in der Tat nahe. 

Lafontaine forderte dies ungeniert im April 1994 in der Wochenzeitung "Freitag" unter dem Titel "Zukunft der Arbeit: Kulturgesellschaft als Prinzip". Seine Argumentation mag als Klippschullatein erscheinen, zeigt jedoch, welches Verständnis von europäischer Kultur sich innerhalb der Sozialdemokratie breit macht und in wessen Interesse dies steht. Die Stelle sei daher im Zusammenhang zitiert: "Mehr denn je ist Solidarität gefragt. Die Verpflichtung junger Menschen für das Gemeinwohl stand - auch etymologisch gesehen - am Anfang der republikanischen Idee. In dem Begriff 'res publica' - übersetzt: Die öffentliche Sache - steckt etymologisch das Wort 'pubes'. Unter dem Gesichtspunkt der sprachlichen Herkunft also ist die 'öffentliche Sache' einmal die Sache des 'Knaben' gewesen - kulturgeschichtliche eine Anspielung auf die Funktion der unverheirateten jungen Männer in den frühen römischen Gemeinschaften: Sie waren zu einer Art sozialem oder militärischem Dienst verpflichtet. Noch im 20. Jahrhundert empfinden wir es ja als selbstverständlich, daß junge Männer zum Wehrdienst eingezogen werden. Dabei nehmen wir hin, daß die Zivildienstleistenden relativ benachteiligt werden. Denn über die Möglichkeit, junge Menschen ganz allgemein zu einem sozialen oder ökologischen Dienst zu verpflichten, wird nur sehr zaghaft gesprochen. Durch eine solche Institutionalisierung der gesellschaftlichen Solidarität aber könnte manches Problem verringert werden." 

Wenn die Altlasten der industriellen Standorte von einem "ökologischen" Zwangsdienst beseitigt werden, verringern sich nicht nur die Kosten für die Verursacher: die Stahl-, Elektro-, Chemie- und Energiekonzerne nämlich, die ansonsten für die gesundheitsbedrohenden Arbeiten horrende Lohnzahlungen aufbringen müßten. Zudem kommen auch noch die Arbeitslosen von der Straße, ihre soziale Unterstützung kann eingespart werden. 

"Für eine allgemeine Dienstpflicht" sprach sich im August 1994 auch Florian Gerster aus, inzwischen SPD-Minister für Arbeit, Soziales und Gesundheit in Rheinland-Pfalz. Es bestehe ein "Trend zur Entsolidarisierung der Gesellschaft" - nicht etwa durch das Bündnis der SPD mit den "Starken", sondern durch die "Maxime der Selbstverwirklichung" des Individuums, die durch eine "Allgemeine Dienstpflicht" zurückgedrängt werden könne. Die müsse dann auch Frauen "offenstehen", wie Gerster es ausdrückte. "Der Wehrdienst stünde gleichberechtigt neben den Diensten im Sozialwesen, dem Umweltschutz und der Entwicklungshilfe." Bei weiter wachsenden gesellschaftlichen Problemen führt eine Politik, die die Gewinne der Besitzenden schont, geradewegs zu Zwangsverpflichtungen der Mehrheit der Bevölkerung.  (27) 

Generalpläne gegen die Mehrheit 

"Der Adolf-Nazi hat doch vorgemacht, daß so etwas geht", rumpelte Helmut Schmidt im Juni 1991 vor der Friedrich-Ebert-Stiftung unbedacht los. Die Bemerkung, die den Kaiser plötzlich so nackt erscheinen ließ, bezog sich auf die Finanzierung der Infrastruktur-Investitionen in Osteuropa. Hier müßten nun schnellsten Straßen gebaut werden, Eisenbahnen, Datenautobahnen. Eine Art von Generalplan Ost (28) hatte schon der vormalige Verteidigungs-Staatssekretär und Minister für Forschung und Technologie unter Bundeskanzler Helmut Schmidt, Andreas von Bühlow, im September 1989 vorgelegt. SPD-MdB Bühlow - gegen den sein Finanzamt 1993 den Vorwurf der Steuerhinterziehung im Zusammenhang mit Parteispenden erhob und der gleichzeitig Sprecher der SPD im Bundestags-Untersuchungsausschuß "Kommerzielle Koordination" war (der Ausschuß untersuchte das Wirtschaftsgebaren des DDR-Devisenbeschaffers Alexander Schalk-Golodkowski) - stellte schon einen Monat nach Öffnung des "Eisernen Vorhanges" durch die ungarische Regierung in einem internen Arbeitspapier die Frage: "Was müßte in und an den östlichen Volkswirtschaften umgestellt und verändert werden, um sie westlichen Leistungsstandards anzunähern?" - nicht etwa dem westlichen Lebensstandard! Seine Antworten beinhalteten die radikale Verarmung der Bevölkerung Osteuropas und die Öffnung der dortigen Gesellschaften für die Ausbeutung durch westliche Konzerne. 

Punkt 1 seines Papiers forderte die sofortige Enteignung der Mehrheit der Bevölkerung bis auf Armutsniveau: "In allen sozialistischen Wirtschaften besteht ein riesiger Kaufkraftüberhang. Jede Verbesserung der Warenproduktion wird von dem jederzeit verfügbaren und auf Hortung angelegten Kaufkraftüberhang erschlagen. Dieser Überhang muß durch eine Währungsreform vermindert und/oder auf Zeit durch Sperrung der Konten unschädlich gemacht werden." Diese sozialdemokratische Forderung nach dem Diebstahl des Ersparten, erstmals hier erhoben im September 1989, wurde für die Konten der DDR-Bürger 1990 teilweise Wirklichkeit. Wer nach der Enteignung noch Geldvermögen übrig hätte bzw. als Teil einer neuen Bourgeoisie schnell Profite einfahren könnte, sollte dies schleunigst westlichen Konzernen geben: "Schnelles Hochziehen eines qualitativ hochwertigen Konsumgüterangebots mit Hilfe westlicher Versandhäuser", lautete Bühlows sechster Punkt, "Joint Venture mit Quelle, Otto Versand, Ikea etc.". Auch an die Interessen der Finanzkapital-Monopole dachte der SPD-Politiker: "Es muß ein dezentral ausgerichtetes Bankwesen geschaffen werden" - damit es nicht zum Konkurrenzmonopol erwachse. "Die westeuropäischen Banken sollten sich an regionalen Investitionsbanken beteiligen." 

Daß nichts weiter als zügelloser Imperialismus gemeint war, verschwieg Bühlow nicht. "Das größte Problem wird die Freisetzung und Beseitigung der Bürokraten-Hydra sein. Das gesamte Normenwerk, das die Gängelung in Gang hält, muß vermutlich in Gänze beseitigt werden. Erlaubt ist alles, was nicht ausdrücklich verboten ist." Das hatten die Deutschen in Osteuropa ja schon einmal praktiziert, während des Zweiten Weltkriegs. Und als wolle er nachdrücklich daran erinnern, fuhr Bühlow im militärischen Stakkato fort: "Umfassende Übernahme von westlichen Regelwerken zur Festsetzung der Rahmenbedingungen privaten Wirtschaftens erforderlich. Dazu das ganze Staatsinterventionsrecht zur Sicherung des öffentlichen Interesses bzw. der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Geht hin bis zur Thematik z. Bsp. der DIN-Normen", die den neuen Markt über die Deutsche Industrie-Norm für deutsche Produkte reservieren sollten - ein seit Jahrzehnten erprobtes Verfahren. "Schaffung von Kooperationen zwischen westlichen und östlichen Unternehmen. Troubleshooterorganisationen mit Vollmacht zum Freischießen dieser Unternehmen von bürokratischen Hemmnissen." Und auch an die Besatzungsverwaltung dachte er im September 1989 bereits, die nach dem "Freischießen" die Verwaltung übernehmen sollten: "Wie ist unser Potential an 'Ehemaligen, Pensionären', die auf 2 bis 3 Jahre bereit sein könnten, Hilfestellung zu geben?" Den neuen Imperialismus wollte Bühlow nur der Möglichkeit nach international einbetten: "Versuch einer westeuropäischen Absprache über die einzuschlagenden Wege. Wer macht was, wer hilft wo. Steuervergünstigung für Anlaufkosten." Doch sollte der Versuch scheitern, hätte Deutschland eben wieder alleine ran gemußt. 

Die soziale Verelendung der Mehrheit der osteuropäischen Bevölkerung war als Voraussetzung hoher Profite der West-Konzerne gleich eingeplant: "Niedriges Lohnniveau Ost mit Know How West incl. Qualitätskontrolle könnte öfter zum Zuschlag führen als rein westliche Hochlohnangebote. ... Primitivstabsicherung des Wohnungsbedarfs für sozial Schwache durch öffentliche Hand. Steigerung im Wohnungsstandard nur noch privat." Ob auch an die Einrichtung von Lagern mit Baracken und Holzpritschen zur "Primitivstabsicherung" gedacht war, ließ Bühlow offen. Sein frühzeitiger Plan wurde zwar nicht breit diskutiert, doch diese Art von Politik zeitigte bereits nach wenigen Jahren Erfolge. Einer Studie des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF) zufolge starben von 1989 bis 1993 mehr als 800.000 Osteuropäer durch die Auswirkungen der sozialen Krise. Die Todesrate in den untersuchten Ländern Albanien, Bulgarien, Tschechische Republik, Slowakei, Ungarn, Polen, Rumänien, Rußland und der Ukraine sei so hoch wie sonst nur zu Kriegszeiten. Dramatisch sei der Anstieg von Mord und Selbstmord, in Rußland liege die Mordrate bereits doppelt so hoch wie in den USA. Die "Armutskrankheiten" Tuberkulose und Diphterie seien teilweise um das 50fache angestiegen, es werde weniger Milch, mageres Fleisch, frisches Obst und Gemüse verzehrt als in den Zeiten des real existierenden Sozialismus, was auf steigende Mangelernährung hindeute. Immer mehr Kinder kämen mit Untergewicht zur Welt, so der Ende 1994 veröffentliche UNICEF-Bericht. 

Bühlows Vorschlag einer Radikalkur zur "Modernisierung" der osteuropäischen Gesellschaften, der an die sozialen Zustände nach faschistischen Machtübernahmen wie in Chile oder Brasilien erinnert, blieb keineswegs ein Einzelfall am Rande der SPD. Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Wolfgang Roth, ein führender Wirtschaftspolitiker seiner Partei und heute Vizepräsident der Europäischen Investitionsbank, legte zur selben Zeit einen "Euro-Plan für Ungarn und Polen" vor, den die SPD-Bundestagsfraktion sogleich übernahm und als Entschließungsantrag in den Bundestag einbrachte. Roth orientierte sich dabei an den Vorschlägen des damaligen Vorstandsvorsitzenden der "Deutschen Bank", Alfred Herrhausen, die sich "mit den sozialdemokratischen Vorstellungen über eine wirksame westliche Unterstützung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Reformen in Polen und Ungran" deckten, wie Roth erklärte. Die Veränderungen in diesen Staaten "und auch der Sowjetunion" lägen "zuallererst im westlichen Interesse", nicht etwa im Interesse der osteuropäischen Bevölkerung. Roth und die SPD-Bundestagsfraktion ließen keinen Zweifel daran, "worum es uns wie Alfred Herrhausen geht", so Roth in einer Presseerklärung. Ein Punkt des "Euro-Plans" lautete: "Förderung von Investitionen westeuropäischer Unternehmen in Ungarn und Polen durch zeitlich befristete stille Teilhaberschaft eines westeuropäischen Bankinstituts (nach dem Muster der Deutschen Entwicklungsgesellschaft) oder andere wirksame Förderinstrumente, die auf Minderung der Gründungsrisiken der investitionswilligen westeuropäischen Unternehmen abzielen." Roth forderte im September 1989 für Polen und Ungarn "langfristige Kredite der Europäischen Investitionsbank", deren Vizechef er 1994 wurde. "Altbundeskanzler Helmut Schmidt hat Recht", meinte er, "wenn er fordert, daß die Politik jetzt den Mut haben muß, von der Bevölkerung Opfer zu verlangen, damit wir diese historische Chance für den Ausbau des europäischen Hauses nicht verpassen." Die SPD-Bundestagsfraktion garnierte die wörtlich übernommenen Positionen Roths dann noch mit dem Hinweis, dies alles sei für Osteuropa "auf Dauer die Voraussetzung für stabile demokratische Entwicklungen", weil man den eigenen Wählern wohl nicht ohne ideologische Soße das Gericht der "Deutschen Bank" vorsetzen wollte. 

Im Dezember 1989 forderte Wolfgang Roth ähnliche Maßnahmen, wie Bühlow sie im September für Polen und Ungarn aufgeschrieben hatte, nun auch für die noch bestehende DDR. Er drückte sie allerdings vornehmer aus. "Selbstverständlich" müßte es eine Preisreform geben, "so daß Preise Knappheiten und Produktionskosten widerspiegeln. ... Leistungsgerechte Bezahlung von Arbeitnehmern und Managern, um die persönliche Motivation zu verbessern und auch die Bereitschaft zur Weiterbildung und Umschulung zu stärken", sei eine vordringliche Maßnahme. Im Klartext hieß das Lohn- und Gehaltssenkungen. Ziel sei die Abschöpfung von Kaufkraft und die Verwendung der Ersparnisse der DDR-Bürger für Industrie-Investitionen, die allerdings ausschließlich westlichen Konzernen zugute kommen sollten. 

"Ost-West-Verkehrswege, Telekommunikationsnetz, Ausbau des Stromverbundes" usw. sollten sofort in West-Regie und mit Finanzierung aus dem Bundeshaushalt "in Angriff" genommen werden, um vollendete Tatsachen zu schaffen, noch bevor überhaupt der Anschluß der DDR an die Bundesrepublik beschlossen war. Dies schaffe "günstige Aussichten für unsere Unternehmen, ihre Gewinn- und Wettbewerbsposition", so Roth. Die Schließung bzw. Übereignung der DDR-Betriebe im Interesse der westlichen Konzerne hatte Roth als damaliger wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion einen Monat nach der Grenzöffnung bereits klar im Sinn: "Die schnelle Modernisierung der Unternehmen der DDR kann dagegen nicht primär mit Steuergeldern, sondern nur von den westdeutschen oder westlichen Unternehmen geleistet werden. ... Das wirtschaftliche Risiko von Investitionen läßt sich dadurch mindern, daß sich der Staat nach dem Muster der Deutschen Entwicklungsgesellschaft (DEG) an Unternehmens- oder Joint-venture-Gründungen in der DDR beteiligt." Die DEG allerdings sicherte bisher die Konzern-Direktinvestitionen in der "Dritten Welt" ab, die zu den sozialen und ökologischen Katastrophen der dortigen Volkswirtschaften führten. 

Um all dies zu finanzieren, hielt Roth neben der Enteignung der DDR-Sparvermögen auch Konsumverzicht im Westen für nötig: "Für eine begrenzte Zeit (sollen) Produktionsmöglichkeiten nicht für unseren eigenen Bedarf" genutzt werden. Stakkato-Ton ist wohl obligatorisch, wenn es um die Eroberung des Ostens geht: "Bei der gegenwärtigen hohen Kapazitätsauslastung der westdeutschen Wirtschaft erfordert Produktion für einen Realtransfer in die DDR, daß bisherige Nachfrager und Kunden sich bescheiden." Dies sollte vor allem auch Westeuropa treffen, über eine finanztechnische Verteuerung deutscher Produkte für die übrigen Europäer und eine Verbilligung europäischer Produkte für deutsche Aufkäufer innerhalb des Europäischen Währungssystems: "Hierzu ist eine schon längst fällige kräftige Aufwertung der DM im EWS erforderlich." Die Ausplünderungspolitik sollte also nicht nur den Osten treffen. 

Kein Wort fiel dem ehemaligen Juso-Vorsitzenden Wolfgang Roth dazu ein, daß die deutscheuropäischen Konzerne aus Konkurrenzgründen längst die Schließung der überlebensfähigen DDR-Unternehmen mit ihren breiten Absatzmärkten im gesamten Osten planten und dann auch durchsetzten. Verelendung in Osteuropa und Versorgungsengpässe in Westeuropa waren die gewollte Voraussetzung für die Extraprofite der deutschen Konzerne. Die Subventionen für die schnelle Mark der Wenigen sollten von der Mehrheit der Bevölkerung erbracht werden. Die später mit SPD-Unterstützung im Bundestag und Bundesrat durchgesetzte erste Etappe der Einsparungen im Sozialbereich war notwendige Folge dieser Politik: Kapitalbeschaffung. (29) 

Deregulierung gegen demokratische Rechte 

Die "Kostenentlastung der Wirtschaft", die die SPD anstrebt, um die Hightech-Modernisierungen zu finanzieren, geht über den angestrebten "Pakt zwischen Regierung, Tarifparteien und Bundesbank" hinaus. Nicht nur eine Senkung der Staatsquote am Bruttosozialprodukt und weitere Absenkungen der Realeinkommen - vor allem in Ostdeutschland durch langsamere Anpassung der Löhne und Gehälter an das Westniveau -, auch eine "Deregulierung von links" (Glotz) - das Absenken von gesetzlichen Sozial-, Bürgerbeteiligungs- und Sicherheitsstandards - soll diese Kostenentlastung ermöglichen. So hieß es in der wirtschaftspolitischen Erklärung der SPD vom Juni 1994: "Zu einer Politik für mehr Wachstum und mehr Beschäftigung gehört eine Entbürokratisierung auf allen staatlichen Ebenen. Der Staatsapparat muß verkleinert werden. Überregulierung, überflüssige Zentralisierung und bürokratische Erstarrung müssen abgebaut werden. Die Genehmigungsverfahren für Investitionen müssen gestrafft und beschleunigt werden. Die Genehmigungsdauer für Industrieanlagen sollte in der Regel unter 6 Monaten liegen. Aufgaben, die zur Zeit noch vom Staat erfüllt werden, die aber von Privaten besser wahrgenommen werden können, sollten privatisiert werden." 

Im Februar 1995 bestätigte Uwe Thomas in der Glotz-Zeitschrift "Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte", was man schon vermutet hatte: daß es sich bei der angeblichen "Deregulierung von links" - wie er seinen Beitrag betitelte - um ein Zurück zum Manchester-Kapitalismus handelt. "Wir brauchen dringend mehr 'Anarchie' des Kapitalmarkts durch Verture Capital und Öffnung der Börse für Newcomer und Störenfriede." Dazu müsse "eine Börse, die risikoreich Kapital mit hohen Gewinnchancen anzulegen gestattet", geschaffen werden. SPD-MdB Ernst Schwanhold - Mittelstandsbeauftragter der SPD-Bundestagsfraktion, wie er sich nennt - sagte im April 1995, wer das Risiko bezahlen soll. Neugegründete Firmen in der Medizin- und Informationstechnik, Bio- und Gentechnologie sowie Umwelt-Technik, berichtete das "Handelsblatt", sollen nach Schwanhold ihre Gewinne steuerfrei einfahren können; dagegen sollen die Anleger dieser Firmen ihre Verluste in der Steuererklärung hundertprozentig mit anderen Einkünften verrechnen können. Sein Abgeordneten-Kollege Josef Vosen, technologiepolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, wollte im Mai 1995 sogar die Goldreserven der Bundesbank verkaufen und als Risikokapital solchen Hasardeur-Unternehmern zur Verfügung stellen - gefährliche Konzepte, wie man sie seit den Tagen der frühen Weimarer Republik und ihren sozialen Krisen nicht mehr gehört hat. 

Auch für die Produkte, die neue Möglichkeiten der Kapitalverwertung eröffnen sollen, ist für Uwe Thomas unbedingt mehr Mut zum Risiko nötig. Er nannte in NG/FH als Beispiel die Atomkraft und bejahte die Frage: "Kann die Kernenergie dereguliert werden?". Voraussetzung sei eine "Risikobewertung durch den Markt", "Kernkraftwerke müssen gegen Unfälle und ihre Folgen in vollem Umfang versichert werden", denn "wer Deregulierung will, der muß Haftung akzeptieren". Die sichere Atomkraftnutzung werde sich dann automatisch gegen die unsichere durchsetzen, wenn nur die Versicherungsprämien entsprechend gestaffelt seien, so Thomas im Vertrauen auf die Marktmechanismen. Allerdings dürfe es auch Ausnahmen geben: bis man "weltweite Lösungen des Problems" erarbeitet habe, seien "Kompromisse unausweichlich". Im Frühjahr 1995 stand derartiges auch im "Daimler-Benz High Tech Report": Herbert Henzler, Professor für "Internationales Management" an der Ludwig-Maximilians-Universität München, hielt "ein Plädoyer für den Garagen-Unternehmer" - ein Lieblingswort von Glotz und Thomas - und ermunterte: "Risiko erwünscht". Seine Stichworte waren hier auch Teilzeitarbeit, Telearbeitsplätze zu Hause, Ladenschlußzeiten, Rabattgesetz: "Weg von der Vollkasko-Mentalität". 

Diese "Deregulierung von links" ist ein demagogisches Konzept, nicht nur, weil die Konzerne es erfunden haben, die noch nie links waren. Denn wer im Manchester-Kapitalismus tatsächlich das Risiko trägt - beim Bankrott des Unternehmens wie beim Gau seiner Technik -, das hatte dem Prinzip nach schon Friedrich Engels 1845 in seinem Buch "Die Lage der arbeitenden Klasse in England" beschrieben, von "Frühes Alter" über "Überflüssige Bevölkerung" bis "Unglücksfälle", und alles "nach eigener Anschauung und authentischen Quellen", wie der Untertitel hieß. Ob Thomas der Bevölkerung die Auswirkungen seiner Hasardeur-Politik zumutet, nachdem er eigene Erfahrungen mit ihnen sammelte, darf bezweifelt werden. 

Entbürokratisierung ist eine wohlfeile Forderung. Doch was dies im Klartext bedeutet, zeigte die Zustimmung der SPD im Bundesrat, als die Bürgerbeteiligung und die Kontrollmechanismen in der Genforschung eingeschränkt wurden. Vor allem die demokratischen Mitwirkungsrechte sind dem Chefdenker Peter Glotz ein Dorn im Auge. Auf dem Kongreß "Zukunftssicherung durch Innovation und Technologie", den die SPD-Landesregierung von Schleswig-Holstein und die Technologiestiftung des Landes im Mai 1994 in Kiel abhielten, sagte Glotz: "In vielen Fällen lassen sich Innovationsbedingungen auch an Stellen verbessern, wo das kein Geld kostet. Angesprochen ist damit vor allem die Fülle staatlicher Vorschriften, Regelungen und Auflagen, die je für sich zwar gute Gründe haben mögen, die in ihrer Kumulation aber immer undurchsichtiger geworden sind und wegen mangelnder Koordination zwischen der Vielzahl zuständiger Behörden die Genehmigungsverfahren für Investitionsvorhaben, nicht zuletzt im High-Tech-Bereich, immer mehr verlängern. Hinzu kommt die inflationsartige Ausweitung von Einspruchsrechten mit der Folge, daß der Weg durch die Instanzen zunehmend länger wird und daß das Behördernrisiko für ein innovatives Unternehmen manchmal größer ist, als das Marktrisiko." 

Was der frühere SPD-Technologieminister Andreas von Bühlow "Freischießen" nannte, drückte Glotz lediglich milder aus: Ein hemmungslos entfesselter Kapitalismus soll seine gefährlichen, aber profitträchtigen Produkte weitgehend ohne soziale und demokratische Einschränkungen auf den Markt werfen können. Was an Mitbestimmungsrechten erkämpft wurde, um soziale und ökologische Risiken für die Mehrheit der Bevölkerung einzudämmen, ist für Glotz nur "Behördenrisiko" für den wieder zu befreienden Unternehmer. Die Konzerne sind entlastet, das Risiko für Gesundheit und Sicherheit trägt wieder nur die Mehrheit der Bevölkerung. Eine solche Kahlschlagpolitik im Bereich erkämpfter Rechte hat bisher nur ein Beispiel in Deutschland: die 30er Jahre, als die Gesetze an die Modernisierungsbestrebungen der deutschen Konzerne angepaßt und demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten in Betrieben und Gesellschaft abgeschafft wurden. So weit freilich will in der SPD niemand gehen, vor allem nicht so auffällig. 

Im September 1993 hatte Lafontaine vor der Friedrich-Ebert-Stiftung über "Zukunftsperspektiven für das Modell Deutschland" gesprochen und die Grundzüge für "eine effizientere Verwaltung" dargelegt, die in einer de facto bestehenden Großen Koalition bereits verwirklicht würden: "Mittlerweile hat sich im Bundesrat ein großer Konsens herausgebildet, daß die Beschleunigung von Genehmigungsverfahren notwendig ist. Die entsprechenden Mehrheiten sind auch immer wieder zustande gebracht worden. ... Ich glaube, wenn wir vor der Aufgabe stehen, Innovationen zu beschleunigen, muß diese Strukturreform nicht umfangreich begründet werden." Perfiderweise gab Lafontaine als einzige Begründung die angeblich zu lange Genehmigungsdauer für "ökologische Anlagen", "beispielsweise Abfallbeseitigungsanlagen" an. 

Scharping vertrat auf dem "Modernisierungs"-Forum im Januar 1994 ähnliche Positionen. Edzard Reuter gab später die Sprachregelung für den SPD-Wahlkampf aus: "Wir müssen eine neue Auffassung davon entwickeln, was schlanke Bürokratie wirklich heißt, wie sich der überregulierte Staat öffnen läßt, was bürgernahe Verwaltung in der Praxis bedeutet." Der Scharping-Berater hat Erfahrung: Von 1992 bis 1994 baute er bei Mercedes-Benz 40 000 Arbeitsplätze ab, bei der DASA 10 000. "Das sind Rationalisierungsschnitte, die notwendig sind, um die Kosten auf ein wettbewerbsfähiges Niveau zu bringen." (30) 

Bei der Pflegeversicherung setzte Scharping die Zerschlagung des bisherigen Sozialversicherungsprinzips durch. Auch dies gehört zur Deregulierung, die gegen den vehementen Protest des Arbeitnehmerflügels der Partei von oben herunter verfügt wurde. Zum ersten Mal seit Bismarcks Sozialgesetzgebung müssen die Arbeitnehmer die Folgen gesundheitsschädlicher Arbeit auch der Form nach alleine tragen, denn der Arbeitgeberanteil an den Beiträgen wurde abgeschafft, und sei es durch den "Ausgleich" der Beiträge über Mehrarbeit am bisher arbeitsfreien Buß- und Bettag. Lafontaine fordert seit Jahren längere Arbeitszeiten im Betrieb, die Sonntagsarbeit, die Abschaffung fester Arbeitszeiten für mittlere Angestellte. Damit liegt er auf der Linie des neuen BDI-Chefs Hans-Olaf Henkel, der die Sonntagsarbeit bei IBM einführte. "Ein guter Entwicklungsingenieur ist nie außerhalb seiner Arbeit", begründete Lafontaine diese Forderung vor der Friedrich-Ebert-Stiftung schon 1993. Errungenschaften der Arbeitnehmerbewegung, für die zum Teil hart gekämpft wurde, werden ruckzuck über Bord geworfen. 

Auch die Postreform wurde letztlich mit Unterstützung der SPD verwirklicht. Sie ist eines der größten Deregulierungswerke der 90er Jahre. Die sozialdemokratische Kritik bezog sich vor allem darauf, daß zu wenig dereguliert worden sei: Der wachsende Wettbewerb auf dem Telekommunikationsmarkt sei zu wenig berücksichtigt worden, die "Stärkung der Rolle Deutschlands" - vor allem auf den Märkten Osteuropas - "als Know-How-Träger im Bereich der Kommunikationsdienste und -industrie" sei sicherzustellen, indem die Postdienste auf betriebswirtschaftliche "unternehmerische Führung" verpflichtet würden, so die SPD-Forderung. Doch auch bei der Postreform geht es nur darum, neue Möglichkeiten der privaten Kapitalverwertung zu erschließen. Dies bedeutet heute bereits, daß in kleineren Dörfern die Briefzustellung und die öffentlichen Telefonzellen abgeschafft werden, weil sie nicht rentabel sind. SPD-MdB Gottfried Bernradt, Verhandlungsführer seiner Fraktion für die Postreform, meinte im Juni 1994, mindestens 80 000 Arbeitsplätze müßten bei der Post noch abgebaut werden, um die "Wettbewerbsfähigkeit" zu erlangen. Sie ist offenbar inzwischen das einzig gültige Kriterium für diesen staatlichen Dienstleistungsbereich. Die Anbindung ländlicher Bereiche und sozial ärmerer Bevölkerungsteile an die gesellschaftliche Infrastruktur spielt dagegen kaum noch eine Rolle. Auch dies ist ein Stück realer Sozialabbau, Verschlechterung der Lebensqualität. Und in der Tat: Die "elektronische Post" braucht keine Briefträger, wohl aber Computer, z. B. von Siemens-Nixdorf.  (31) 

Zu den sozialdemokratischen Deregulierungsvorhaben gehörte bereits der Versuch Lafontaines in den 80er Jahren, die Vollbeschäftigung durch eine "Neudefinition der Arbeit" statt durch neue Arbeitsplätze zu erreichen. "Arbeit" sollte bis zum gänzlichen Lohnverzicht dereguliert, aber ideologisch aufgeladen werden. "Die Neudefinition der Arbeit hebt den Begriff der Arbeitslosigkeit auf", meinte er schlau vor der AfA-Bundeskonferenz 1988: "Es ist überflüssig zu erwähnen, daß die langjährige Fixierung des Arbeitsbegriffes auf die Erwerbsarbeit, also auf die bezahlte Arbeit, eine Ungerechtigkeit gegenüber den Menschen darstellte, die eine unbezahlte gesellschaftlich unverzichtbare Arbeit geleistet haben und immer noch leisten. ... Auch die Forderung nach Gleichstellung der Frau in Beruf und Gesellschaft verlangt, die starre Trennung von bezahlter Erwerbsarbeit und Familienarbeit aufzuheben. Der Begriff der Arbeit sollte daher in Zukunft seine Bestimmung und Bewertung nicht in erster Linie aus der damit verbundenen Bezahlung erhalten, sondern daraus, inwieweit die Arbeit gesellschaftlich nützlich ist und inwieweit sie dem einzelnen Chancen zur Selbstverwirklichung, nach Emanzipation bietet." 

Lafontaines Pläne wurden 1988 sogleich von links kritisiert. Elisabeth Vogelheim vom Vorstand der IG Metall warf Lafontaine die Übernahme der CDU-Frauen- und Familienideologie vor: "'Wir brauchen ein neues Verständnis von Arbeit. Arbeit ist nicht nur Arbeit, und Leistung ist nicht nur Leistung, wenn sie im Rahmen der Erwerbsarbeit erbracht werden. Arbeit gibt es nicht nur im Erwerbsleben, sondern auch in der Familie, im sozialen Dienst und im öffentlichen Leben. Die Arbeit in diesen Bereichen ist derjenigen im Beruf gleichwertig und muß deshalb entsprechend ihrer gesellschaftlichen Bedeutung anerkannt werden. ...' Dieses Zitat ist nicht von Oskar Lafontaine", so Vogelheim, "auch wenn es sich so anhört, sondern es ist einer der Leitsätze der CDU für eine neue Partnerschaft zwischen Mann und Frau. Aber bei Oskar Lafontaine findet man ähnliche Sätze." 

Im April 1989 konnte der SPD-Ministerpräsident beim "Zweiten Philips-Forum" der "Deutschen Philips Industrie GmbH" unter Leitung von Moderator Peter Glotz seine stark mutterkreuzverdächtigen Ansichten mit denen Kurt Biedenkopfs vergleichen, der bereits 1985 "die neue Sicht der Dinge" in seinem gleichnamigen Buch niedergelegt hatte. "Emanzipation heißt ... die Wiedergewinnung der natürlichen Rolle der Frau", meinte Biedenkopf, "die Zeit der Wiederentdeckung der Familie und der Hauswirtschaft als Ort der Identität des Menschen" sei angebrochen. Die Ausgliederung der meisten Frauen aus dem Gesellschaftsprozeß wurde hier mannigfach ideologisiert. "Zwei Querdenker im Gleichklang", berichtete "Die Welt" über das "Philips-Forum", "Kurt Biedenkopf und Oskar Lafontaine entwickelten ein in wesentlichen Teilen deckungsgleiches Bild der Zukunft der Bundesrepublik Deutschland. ... Bei manchem Sozialdemokraten mochten Sirenen schrill erklungen sein, als Lafontaine mit Blick auf künftige soziale Netze und Systeme in Europa eine 'intelligente Industriepolitik' forderte und anfügte: 'Die Kosten sozialer Sicherungssysteme sind nicht sakrosankt.'" 

Das war im Frühjahr 1989. Wie weit die SPD mit ihrer angeblichen "Deregulierung von links" am Ende zu gehen bereit ist, zeigte das rheinland-pfälzische Transplantationsgesetz von 1994, mit dem der damalige Mainzer Ministerpräsident Scharping sogar die Leichen ausschlachten wollte. Statt durch eine Humanisierung des Arbeitslebens - gerade auch bei den rheinland-pfälzischen Chemie-Konzernen - den gesundheitlichen Verschleiß zu reduzieren, sollten den Gehirntoten auch ohne deren vorherige Zustimmung Organe entnommen werden können, um abgenutzte gegen sie auszutauschen. Den alternativen Weg, über die Organspende für den nicht vermeidbaren Notfall öffentlichkeitswirksam aufzuklären und so die Spendebereitschaft der Menschen zu erhöhen, schloß Scharping aus, er wählte die Zwangslösung. Nach öffentlichen Protesten nahm auch Scharping das Gesetz 1994 zurück. Schon 1979 wollte der damalige SPD-Justizminister Hans-Jochen Vogel, später Partei- und Fraktionsvorsitzender und Kanzlerkandidat, die sogenannte Widerspruchslösung bei der Organentnahme durchsetzen, nach der die Hirntoten immer dann hätten ausgeschlachtet werden können, wenn sie zu Lebzeiten nicht ausdrücklich dagegen widersprochen hätten. Vogel fand damals jedoch keine Mehrheit. Eine solche Mißachtung der Würde des menschlichen Individuums, bis hin zum Anspruch des Staates auf den Körper des Toten, hat es seit den Zeiten der staatlich verordneten Eugenik, der medizinischen Menschenversuche und schließlich der Euthanasie nicht mehr gegeben. Das historische Beispiel zeigt, wo die ethische Deregulierung enden kann. Daß sich nicht jeder Arzt bei der Transplantation an die umstrittenen Kriterien des medizinischen Todes hält, zeigen im übrigen die aktuellen Beispiele des Organhandels aus der "Dritten Welt" in den Norden. 

"Die Unverfügbarkeit des Lebens als absolutes Prinzip hat völlig außer Zweifel zu stehen; auch nur der leiseste Anschein eines möglichen Eingriffs in dieses Grundrecht ist unter allen Umständen zu vermeiden", schrieb der damalige Obmann der SPD-Bundestagsfraktion im Rechtsausschuß, Hans de With, noch 1985 nach einer Anhörung über Sterbehilfe. Es scheint, als gelte dieser Grundsatz keineswegs mehr derart apodiktisch. Die Aachener SPD-Bundestagsabgeordnete Ulla Schmidt, von Beruf Sonderschullehrerin, bezweifelte 1992 in der Debatte um das "Erlangener Baby" (die Schwangerschaft einer Hirntoten) bereits den Wert behinderten menschlichen Lebens und stellte den Sinn von Brutkästen für Frühgeborene in Frage. Zu groß seien oftmals die mentalen Defizite und das Leid der Kinder, als daß man hier von menschenwürdigem Leben sprechen könne. Die ersten Schritte ethischer Deregulierungen in die Richtung eines Peter Singer sind auch in der SPD bereits getan. 

Der erschreckende Biologismus, mit dem die skandalträchtige SPD-Frauenpolitikerin Ulla Schmidt ihre Ablehnung des umstrittenen medizinischen Experiments begründete, zeigt gleichzeitig die Quelle dieser ethischen Deregulierung auf: "Die natürliche Lebenseinheit von Fötus und Schwangerer" werde "aufgelöst", die Schwangerschaft hirntoter Frauen "stellt die Evolution auf den Kopf. Sie macht den Fötus zum Adressat medizinischer Intervention", so Schmidt, als wäre das ungeborene Leben generell für die medizinische Betreuung tabu. Bei welcher Gesundheitsreform mag eine Politik enden, die medizinische Eingriffe von den Gesetzen der Evolution abhängig macht? Aus einer verqueren Argumentation heraus erklärte Schmidt implizit jedes behinderte Leben für nicht lebenswert: "Dieses Kind" (von einer Hirntoten geboren, P. K.) "wird im sozialen Umgang immer vor der Frage stehen, soll ich es den anderen gegenüber offenbaren oder nicht, oder wissen nicht ohnehin alle Bescheid? Dieses Trauma wird Auswirkungen auf die Identitätsbildung des Kindes haben. Die sicher auch beeinflußt wird mit einem verstärkten gesellschaftlichen Interesse oder gar sozialer Kontrolle, sei es durch die medizinisch-psychologischen Kontrolluntersuchungen hinsichtlich der Beurteilung der körperlichen, psychischen, intellektuellen oder moralischen Entwicklung, sei es durch die informellen Kontrollen durch Gleichaltrige, Angehörige, Schule etc. Dieses Kind wird dann mit großer Sicherheit ins Blickfeld professioneller und sozialer Aufmerksamkeit geraten. Was hier über die Familie aufgrund der technischen Möglichkeiten hereinbricht, kann nicht mehr als Fortschritt gelten. Die Grenzen des menschlich Erträglichen sind weit überschritten." 

Demnach müßte alles menschliche Leben, das einer unausgesprochenen Norm widerspricht, gewissermaßen aus Mitleid getötet werden. Die beiden Beispiele zeigen auf, daß sich in der Sozialdemokratie ein merkwürdiger Unterschied in der Legitimation medizinischer Eingriffe an Hirntoten breitmacht, der in beiden Fällen die Menschenwürde mißachtet, wenngleich die Argumentationen auch in entgegengesetzte Richtungen zu verlaufen scheinen. Diese Politik erinnert an die sozialdarwinistischen Vorstellungen des führenden sozialdemokratischen Gesundheitspolitikers der 20er Jahre, Alfred Grotjahn, eines geistigen Vorbereiters der Nazi-Euthanasie. 

Die Ärztin Heidi Schüller, früher einmal als Sportlerin prominent und im Bundestagswahlkampf 1994 Schatten-Gesundheitsministerin für ein Kabinett Scharping, wollte nach der Wahl sogar alten Menschen das Wahlrecht absprechen lassen: "Schauen sie sich doch Alzheimer-Patienten an", sagte die Jugendfanatikerin kurzerhand generalisierend, "die nicht mehr wissen, wieviel Uhr es ist oder welcher Tag - wählen dürfen sie aber." Das war dann doch zu laut. Der SPD-Bundesgeschäftsführer Verheugen meinte, der Vorschlag sei "so abwegig, daß er für die SPD nicht einmal diskussionswürdig ist".  (32) 

Dienstmädchen und Subbotnik 

Der Sozialdemokrat Fritz Scharpf, Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln, erfand Mitte der 80er Jahre als angeblichen Weg zur Vollbeschäftigung den "Sozialismus in einer Klasse", die Solidarität der Habenichtse untereinander, deren Anteil am Kuchen immer kleiner wird und deshalb in sich neu aufgeteilt werden soll: Mittelverdiener sollen an Kleinverdiener abgeben, damit die Großverdiener geschont werden können. Durch erhöhte Steuerbelastung der Arbeitnehmer und Entlastung der Besitzenden sollen letztere zu Investitionen in Arbeitsplätze bewegt werden. Scharpfs Ideen werden heute eingesetzt, um die Hightech-Subventionen zu finanzieren, nicht etwa, um Vollbeschäftigung zu erreichen. Denn seitdem die osteuropäischen Arbeitsmärkte durch billige und zeitlich befristete Werkverträge geöffnet wurden und zahlreiche Ausländer nach der faktischen Abschaffung des Asylrechts in die Illegalität getrieben wurden, aus der heraus sie sich auf minimal bezahlte Arbeitsverhältnisse einlassen müssen, besteht für die Unternehmen kaum noch eine Veranlassung, die einheimischen Arbeitslosen teuer legal und auf Dauer zu beschäftigen. Wo jährlich eine Million und mehr Osteuropäer und zunehmend auch Iren und Briten auf Baustellen, bei der Ernte, in Gaststätten und Privathaushalten als billige Lohnsklaven verpflichtet werden - ohne Sozialversicherung, ohne Wohnung, "Primitivstabsicherung" jetzt auch innerhalb Deutschlands: sie schlafen auf Parkplätzen neben den Arbeitsstellen -, da zeigt sich Deregulierung konkret. Die Auswirkungen des zweiten Schiffsregisters zum Beispiel, das deutschen Reedereien erlaubt, teure deutsche Schiffsleute zu entlassen und ausländische gegen Billiglöhne auf unsicheren Seelenverkäufern einzustellen, zeigen empirisch, daß es um Vollbeschäftigung jetzt sicher nicht geht. 

Scharpf habe "ein Konzept eingebracht, wonach die Vollbeschäftigung zu erreichen ist, wenn die Gerechtigkeit mißachtet wird", kritisierte die IG Metall-Zeitschrift "Der Gewerkschafter" 1988, vor der Phase der Osteroberungen, vor der Phase der erneuten Weltmacht-Position Deutschlands. Die gestiegenen Renditeansprüche des Anlagekapitals müßten befriedigt werden, so Scharpf, die Verteilungsansprüche der Arbeitnehmer müßten daher im Ganzen reduziert und untereinander neu aufgeteilt werden: Garantierte Mindestprofite hier, Umverteilungspolitik beschränkt auf die Arbeitnehmerschichten dort. Das hatte Peter Glotz bereits ähnlich 1984 gefordert: "Es muß klipp und klar sein, daß die Linke vernünftige Bedingungen der Kapitalverwertung in Deutschland garantiert." In seinem "Manifest für eine Neue Europäische Linke" von 1985, das ausgerechnet im neokonservativen Siedler-Verlag erschien, sprach Glotz bereits nicht mehr von Vollbeschäftigung, sondern von der Weltmarktkonkurrenz: "Wenn alles so weitergeht wie bisher, sind wir schon am 50. Jahrestag der Konferenz von Jalta ein imaginäres Museum; besucht von amerikanischen, sowjetischen, japanischen und dereinst vielleicht auch chinesischen Reisegruppen mit Pauschalprogramm; sozusagen die Griechen der Römer, die 'Graeculi'." Klippschullatein allenthalben. 

Um den Sozial- und Konsumanteil auf Dauer zu verkleinern, müssen die Arbeitnehmer gesellschaftlich eingebunden oder ihre Ansprüche repressiv zurückgedrängt werden. Scharpf und seine Anhänger rechnen mit der Funktion faschistoider, formierter Gesellschaften, die den Fehler des historischen Faschismus vermeiden, offen und massiv gegen die Unterschichten und ihre Interessenvertreter vorzugehen. Statt dessen orientieren sich diejenigen, die erneut einer gesellschaftlichen Formierung auf ein unbestimmtes "Ganzes" das Wort reden, um den einzelnen Teilen - den Individuen der Gesellschaft - den Wohlstand zu nehmen, mehr und mehr am Modell des letzten Weimarer Reichskanzlers vor Hitler, General Kurt von Schleicher, und der hinter ihm stehenden Konservativen Revolution. Schleicher suchte den historischen Kompromiß gegen Demokratie und Sozialstaat im Zusammengehen mit dem rechten Gewerkschaftsflügel. Unterstützt wurde er von Nationalrevolutionären und dem Strasser-Flügel der NSDAP sowie den damaligen Hochtechnologie-Konzernen. 

Scharpfs "strategische Wunderwaffe ist 'die Fähigkeit der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften, allen Arbeitnehmern durch höhere Steuern und durch Verzicht auf Arbeitszeitbestandteile und Unternehmenszuwächse den notwendigen Solidarbeitrag abzuverlangen'", zitierte ihn die Gewerkschaftszeitschrift der IG Metall. Die Gewinnquote erkläre er zum Tabu, das nicht durch Konsumansprüche angetastet werden dürfe. "Der Gewerkschafter" sah bereits bei Scharpf kritisch, was Glotz und Thomas mit dem "Dritten Wirtschaftswunder" erst noch anrichten wollen: "Scharpf plädiert für die Verwaltung der Krise im Inland bei verteilungspolitischer Abstinenz der Arbeitnehmerschaft als Ganzes und liebäugelt mit der Verlagerung der Krise ins Ausland durch wettbewerbspolitische Aggressivität der exportorientierten Kapitalfraktionen." 

Scharpfs Versuch, die Arbeitnehmer verstärkt auszubeuten und dies als "Sozialismus" zu verkaufen, hatte ein breites Echo. Die Herrschenden sahen darin zum ersten Mal seit zwanzig Jahren ein ideologisches Konzept, um auch in den Zeiten der Hochkonjunktur ihren Vorteil überproportional zu vergrößern. Allerdings erbrachte das Konzept keine Vollbeschäftigung. Denn einerseits waren die Renditeansprüche in der Hochzinszeit weit besser zu befriedigen, wenn man gerade nicht industriell investierte. Zum anderen gibt es in Hightech-Fabriken eben nicht sehr viele Arbeitsplätze. Hinzu kommt das ausländische Reservoir billigerer Arbeitskräfte. 

Scharpf antwortete auf diese Wirklichkeit mit seinem Artikel "Soziale Gerechtigkeit im globalen Kapitalismus", den Glotz zur Vorbereitung einer großen Koalition des Sozialabbaus 1993 in der Zeitschrift "Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte" abdruckte. Der soziale Sprengstoff wachsender Verarmung sollte entschärft, dauerhafte Billiglöhne im eigenen Land legalisiert werden: "Es muß einerseits für Arbeitgeber wieder rentabel werden, Beschäftigung auf weniger produktiven Arbeitsplätzen und für weniger produktive Personen anzubieten - und es muß andererseits für die Bezieher von Sozialeinkommen möglich werden, auch relativ gering entlohnte Beschäftigungsangebote anzunehmen, ohne daß sie deshalb ein Einkommen unterhalb der Armutsgrenze akzeptieren müßten", so Scharpf. Nach dem "Umbau des Sozialstaates" sollte das Sozialsystem über Steuern finanziert werden statt über Sozialabgaben, zu denen die Unternehmer bisher beitragen müssen. Neu einzurichtende Niedriglohngruppen unterhalb der Armutsgrenze sollten dann staatlich bezuschußt werden, damit sie gerade soeben über die Armutsgrenze kämen. Die finanziellen Mittel müßten über neue Öko-Steuern eingetrieben werden: "Überdies hätte man beim Übergang zur Steuerfinanzierung auch die Option einer (aufkommensneutralen) Verlagerung der Kosten des Sozialstaats auf ökologisch vorteilhafte Steuern, ohne daß man dabei mit massivem Widerstand der Wirtschaft rechnen müßte." Anke Fuchs und Ernst Schwanhold, zwei führende SPD-Sozial- und Wirtschaftspolitiker, haben die Vorschläge heute übernommen. 

Auch dieses Konzept ist gänzlich demagogisch, wie der letzte Satz zeigt. Entweder führen "ökologisch vorteilhafte Steuern" zu einer Verbesserung der Umweltsituation, weil Umweltschädigung zu teuer ist - dann reduzierten sich auch die Einnahmen aus den Öko-Steuern, was ökologisch erwünscht wäre, nicht aber finanzpolitisch. Denn es stünden dann auch weniger Steuern zur Finanzierung des Sozialsystems bereit, weiterer Sozialabbau wäre die Folge. Oder die Arbeitnehmer pochen auf den Erhalt und Ausbau des Sozialsystems, dann müßten die Einnahmen aus ökologischen Strafsteuern kräftig weiterfließen - und dazu muß die Umwelt weiter kräftig zerstört werden. Mit diesem Konzept werden die sozialen und ökologischen Interessen gegeneinander ausgespielt. Auf beiden Gebieten wird es keine Verbesserungen geben, lediglich die Unternehmen würden von den Kosten des Sozialsystems befreit und verfügten nun über einen größeren Anteil des Mehrwerts, um Hightech zu finanzieren. Deshalb wird der Widerstand der Wirtschaft gegen diesen "Umbau" nicht sehr groß sein. 

Das Konzept erscheint eleganter - weil vermittelter - als das offene Zwangskonzept eines allgemeinen Arbeitsdienstes, das Lafontaine und Florian Gerster vorschlugen. Der finanzierende "Staat" - das wären jetzt nur noch die Arbeitnehmer allein, nachdem das Kapital von seinen Sozialbeiträgen entlastet würde, aber die Möglichkeit behielte, die ökologischen Strafsteuern auf die Warenpreise zu schlagen. Die Kampfkraft der Arbeitnehmer radikal zu schwächen, ob durch Formierung oder offene Repression, ist ein weiteres Ziel des Scharpf-Konzeptes: "Für die neuentstehenden Niedriglohn-Beschäftigungsverhältnisse ... dürften die Gewerkschaften sich gerade nicht auf Lohnsteigerungen konzentrieren, die hier einer Arbeitsplatzvernichtung gleichkämen. Statt dessen läge hier ihre Aufgabe vor allem in der Einflußnahme auf staatliche Entscheidungen über die Höhe des garantierten Subsistenzeinkommens und über die Höhe der Zuschüsse, mit denen niedrige Erwerbseinkommen subventioniert werden. Da die Steuerlast dafür in erster Linie von Beziehern höherer Erwerbseinkommen zu tragen wäre," - also von besser verdienenden Arbeitnehmern - "liegen die Schwierigkeiten einer solchen Doppelrolle (der Gewerkschaften) gewiß auf der Hand." Die alten und die neuen sozialen Bewegungen wären gelähmt, die Kapital-Seite gestärkt, weil sich widerstreitende Forderungen innerhalb der Öko- und Arbeit-Seite blockierten. Eine Formierung der Gesellschaft auf die Weltmarktinteressen der Hightech-Konzerne ergäbe sich fast zwangsläufig, denn der Lebensstandard ließe sich - wenn überhaupt - nur noch über die Exportgewinne steigern. 

Im Niedriglohnbereich - der wohl für solche gesundheitsgefährdenden Arbeiten wiederhergestellt werden müßte, die Lafontaine mit Zwangsarbeit erledigen lassen wollte - und beim Hauspersonal erblickt Scharpf ein Arbeitsplatzreservoir, das aufgrund der hohen Ansprüche der einheimischen Arbeitnehmer an ihre Tätigkeiten und ihr Einkommen bisher brach liege. Hier sollen die Millionen Menschen untergebracht werden, die heute keine Lebensperspektive haben. "Bei niedrigeren Kosten können Arbeitsplätze im Privatsektor in größerer Zahl angeboten werden. ... Und auch wer das Unglück hat, einmal aus dem Erwerbsleben herausgefallen zu sein, kann sich wieder hineinarbeiten - zunächst auf weniger anspruchsvollen Arbeitsplätzen und mit wachsendem Selbstvertrauen dann auch mit anspruchsvolleren und besser bezahlten Aufgaben." Zum sozialen Elend kommt das psychische des Verlustes von Prestige und Selbstwert. Scharpf scheitert schon an der heutigen Wirklichkeit, in der Fünfzigjährige keine zweite Karriere mehr beginnen. Nach Lage der Dinge sind die Niedriglohngruppen die Endstation und nicht ein neuer Start. 

Im Februar 1994 redete Scharpf in einem "Vorwärts"-Interview Klartext und nannte die Wirtschaftsbereiche, in denen die Arbeitslosen unterkommen sollten: "Im Handel, im Handwerk, in Gaststätten oder privaten Haushalten. Schuhputzer wohl kaum. Aber Haushaltshilfen - warum nicht!" Und auf den Einwand des "Vorwärts", daß sich gute Jobs durch gute Arbeitsbedingungen und soziale Sicherheit auszeichneten, meinte Scharpf: "Nur weiß niemand, wie sich die Zahl guter Jobs so ausweiten läßt, daß jeder einen bekommen kann. Das ist doch des Pudels Kern: Sind manche Jobs für uns so igitt, daß wir sie gar nicht anfassen, oder halten wir es mit den Amerikanern, die sagen: Jede redliche Arbeit ist besser als die Verurteilung zur gesellschaftlich unproduktiven Untätigkeit?" - vor allem, wenn erzwungene "igitt-Arbeit", z. B. bei der Sanierung ökologischer Altlasten, über allgemeine Dienstverpflichtungen auch noch die Konzerne entlastet. Scharpfs Konzept führt zu einem sozialstaatlichen Rollback in die 30er Jahre, das nur ein Ergebnis hat: die Hightech-Modernisierung auf Kosten des Sozialen und des Konsums. Seine Äußerung zu den "igitt-Jobs" wird ebenso von den rechtsextremen "Republikanern" vertreten, die mit demselben Argument - ohne die Amerikaner als gutes Beispiel zu nennen - die Zumutbarkeitsregelung des Arbeitsförderungsgesetzes streichen wollen. "Nach republikanischem Arbeitsethos", so steht es im Parteiprogramm der REPs von 1993, "kann es keine von vornerein unzumutbare Arbeit geben. Daher ist die Sperrzeitenverordnung im Hinblick auf Arbeitslosengeldbezug entsprechend neu zu gestalten." 

Der Präsident des "Deutschen Industrie- und Handestages" DIHT, Hans Peter Stihl, machte im Juli 1994 den gemeinsamen Sinn von Scharpfs Lob der Niedriglohngruppen und Glotzs Bildungspolitik für Eliten und gegen das Abitur für die Massen klar: Auf Betreiben der Gewerkschaften seien bei jeder Tarifbewegung der letzten 20 Jahre die unteren Lohngruppen überproportional erhöht worden, so daß die Billiglohngruppen weggefallen seien. Das erhöhe die Arbeitslosigkeit. "Wir haben also mit der Tarifpolitik die Arbeitsangebote eingeschränkt auf immer weniger Mitarbeiter, die in der Lage sind, eine so hohe Leistung zu erbringen", wie sie für die Hochlohngruppen zu erbringen sei. Die Möglichkeit zur untertariflichen Bezahlung, die Stiehl nun fordert und die Lafontaine durchblicken ließ, als er zu einer "vorurteilsfreien Debatte über die Löhne" aufrief, gab es zuletzt unter der Notverordnungspolitik der Reichskanzler Heinrich Brünung und Franz von Papen in der Krisenzeit der frühen 30er Jahre. Immer schlechter bezahlte Arbeitsplätze für immer schlechter ausgebildete Arbeitnehmer - das soll jetzt wieder die Lösung des Problems der Massenarbeitslosigkeit sein.(33)  

Scharpfs Ideen haben sich heute in der Sozialdemokratie durchgesetzt, nachdem er vor allem Lafontaine, Glotz und Fuchs - letztere vor allem im rechten gewerkschaftlichen "Seeheimer Kreis" einflußreich - als Verbündete gewinnen konnte. Der neue Vorsitzende der Grundwertekommission der SPD, Wolfgang Thierse, erklärte im November 1993, das Kommissions-Papier "Ermutigung zur Politik - Gesellschaft in der Krise", das die Positionen sozialdemokratischer Politik in den 90er Jahren manifestiert, sei "aufgrund wesentlicher Vorarbeiten" Scharpfs geschrieben worden. Das Papier sieht denn auch die Wiedereinführung von Niedriglohngruppen vor, die staatlich subventioniert werden sollen. Thierse ließ bei der Pressevorstellung des Papiers durchblicken, daß eine Weiterentwicklung des Scharpf-Konzeptes hin zu unterbezahlter Zwangsarbeit möglich ist: "Wenn eine Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft wieder deutlich werden läßt, wo die Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger selbst gefragt ist und wo der Staat am Zuge ist, kann Bürgersinn mit Aussicht auf Erfolg gefordert und erwartet werden." 

Die Verpflichtung des Individuums auf das Gemeinwohl dient der ideologischen Rechtfertigung von Verzichtsforderungen im Bereich des Sozialen und des Konsums. Die Argumentation ist dabei glasklar neokonservativ bzw. "neurechts", denn der "Bürgersinn" wird explizit gegen die Interessen und Ansprüche des Individuums definiert, während der Bestand eines nicht näher spezifizierten Kollektivs - ein völkisches, wie man bei Thierse sehen wird - "ganzheitlich" die Individualrechte dominiert. 

Als "neue Kultur des Helfens" pries der "Vorwärts" im Mai 1991 die "Selbsthilfe" und "Ehrenamtlichkeit" an. Ein Artikel von Sabine Uhl, SPD-Jugend- und Sozialsenatorin in Bremen, beschäftigte sich zwar kritisch mit den Vorschlägen von Ulf Fink, damals Chef der christlich-demokratischen Arbeitnehmervereinigung CDA, die Selbsthilfe an die Stelle des Sozialstaats zu setzen. Letztlich stimmte Uhl jedoch den Grundpositionen Finks zu. "Über weite Passagen gibt es auch zu sozialdemokratischen Positionen Berührungspunkte. Die Befunde sind eindeutig: Die primären sozialen Netze sind geschwächt. Wir brauchen eine neue Kultur des Helfens", so die SPD-Politikerin. Dann nahm sie deutlich Abstand zu Finks Positionen: "Man muß nicht zwischen den Zeilen lesen, um zu erkennen, aus welchem Lager er kommt. 'Sozialer Dienst als demokratische Bürgerpflicht' ist nicht nur eine Kapitelüberschrift bei Fink, es ist ein Lösungsansatz", den sie ablehnte. Das war 1991. Doch heute ist dieser Lösungsansatz in der SPD hegemonial, Lafontaine ist da nur ein Beispiel. 

Im November 1993 schrieb Udo Knapp im "Vorwärts" über die "Hohe Schule der neuen Sozialdemokratie". Der frühere Mitarbeiter der Bundestagsfraktion der Grünen ist inzwischen zur SPD konvertiert und stellvertretender Landrat im vorpommerschen Wolgast geworden. Die Anti-Sozialstaats-Politik der Grünen hat er beibehalten und wendet sie nun - knappe Kassen - beim Aufbau Ost an. "Die Wiedervereinigung gelingt", schrieb er euphorisch. Und zwar so: "Der Weg von der Totalversorgung in der DDR zur Selbstverantwortung in der Daseinsvorsorge in der Bundesrepublik heute, von der Staatsbestimmung in der Erziehung zur Selbstverwaltung in der Eltern-Kita zum Beispiel wird beschritten ... und verändert das soziale Gefüge nachhaltig. Deshalb ist hier im Osten ein Strukturwandel in der sozialen Vorsorge einfacher als im alten Westen." 

Schon 1984 warnte Arno Klönne in seinem Buch "Zurück zur Nation?" vor der Sozialstaats-Feindlichkeit der Grünen. "Mehrdeutig" sei die grün-alternative Kritik: Einerseits enthalte sie die Utopie einer Gesellschaft "freier Gemeinden", andererseits bediene sie die neokonservative Politik des Sozialabbaus. "Manche Deutungsmuster der 'Konservativen Revolution'" der 20er und frühen 30er Jahre seien "im Feld und Umfeld der Grün-Alternativen weit verbreitet", diagnostizierte der Sozialdemokrat Klönne. "Bei allen sonstigen Differenzen tritt damals wie heute, hier wie dort ein gemeinsames, zentrales Argument auf, nämlich die prinzipielle Negation der 'entmündigenden sozialen Verwaltung der Menschen', als deren Urheber Sozialdemokratie und Gewerkschaften angeklagt werden." Klönne analysierte die weltanschaulichen Gemeinsamkeiten: "Industrieller Konsumismus" werde von den Grünen heute so angeprangert wie damals von den Ideologen der Konservativen Revolution; dem "Konsumismus" werde vorgeworfen, Anspruchsdenken gegenüber dem Sozialstaat zu fördern, der "Sozialdemokratismus", der die Lebensrisiken absichern wolle, müsse zurückgedrängt werden zugunsten eines heroischen, an Naturprinzipien orientierten Lebens. 

1984 hoffte Klönne, die Warnungen würden gehört werden: "Gewiß ist nicht zu erwarten, daß eine solche Art von 'Postmaterialismus' die Massen ergreifen könnte. Aber auch die 'Deutsche Bewegung' oder die Strömung der 'Konservativen Revolution' waren keine Massenbewegungen. Ihre historisch-politische Bedeutung lag vielmehr im Bereich der Ideologieproduktion, in der Umdefinition realer Probleme, in der Verwirrung der Begriffe, in der Destruktion sozialreformerisch-demokratischen Denkens, in der Zerstörung 'universalistischer' (also sozialistischer oder sozial-christlicher oder bürgerlich-egalitärer) Orientierungen zugunsten einer neuen politischen Naturmythologie. Den Gewinn daraus zog damals, mochten sich manche Repräsentanten der 'Konservativen Revolution' dann auch noch so sehr dagegen wehren, die faschistische Massenbewegung. Diese wiederum, mochte sie noch so sehr 'Blut- und Boden'-Bilder inszenieren, wurde eingespannt für eine Politik der rapiden großkapitalistischen 'Modernisierung'; die irrationale Hoffnung auf Wiederherstellung gesellschaftlicher 'Naturzustände' endete in einem Schub der Durchkapitalisierung von Lebensverhältnissen." 

Was Klönne 1984 gegen die Grün-Alternativen richtete, müßte er zehn Jahre später auch an der Sozialdemokratie kritisieren. Ohne alle Irrationalismen der Naturverehrung mitgegangen zu sein, hat die SPD vom linken Flügel bis in die Parteiführung hinein diese konservativ-faschistoide Kritik am Bedürfnis der Besitzlosen nach sozialer Sicherheit übernommen. Doch geht es jetzt nur noch sekundär um Ökologie, primär dagegen um die Umverteilung gesellschaftlichen Wohlstands auf die Konzerninteressen. 

Udo Knapp schrieb im Mai 1994 im "Vorwärts" die Titelgeschichte "Den Sozialstatt von unten her neu befestigen" - ein Artikel voller sozialer Demagogie. "Erinnern wir uns", meint der Konvertit, "am Anfang der Arbeiterbewegung stand nicht die 'verwaltete Solidarität', ... sondern 'selbstorganisierte Solidarität'. ... Beispiel Kindergärten: Bei uns im Landkreis Wolgast an der Ostsee, gleich an der polnischen Grenze, stand die Alternative: Schließung vieler Kinder-Einrichtungen, da sie unbezahlbar geworden waren, oder ihre Wiedereröffnung als Eltern-Kindertagesstätte. Der Anfang war schwierig. Aber heute gibt es nach nur anderthalb Jahren Vorlauf neun Eltern-Kindertagestätten - von Peenemünde über Koserow bis nach Loddin auf der Insel Usedom. Die Kommunen übernehmen nur noch die Sachkosten für das Gebäude und seine Unterhaltung. Die Eltern organisieren und finanzieren den Betrieb ihrer Einrichtung selbst. Elternmitarbeit ist Bedingung für die Mitgliedschaft im Verein. Die Höhe der Löhne der voll qualifizierten Erzieher bestimmen die Eltern nach ihren Möglichkeiten." 

Die Zeiten der staatlich garantierten Kinderkrippen-Plätze in der DDR sind eben vorbei. Die Elternhilfe wird von den arbeitslos gemachten Frauen übernommen, die bis 1989 mit eigener Berufstätigkeit und eigenem Einkommen eine Selbständigkeit gegenüber ihren Ehemännern hatten. Es ist auch ein Stück Deregulierung, daß die Mütter in der sozialen Wirklichkeit nun wieder die Dienstmädchenrolle haben - sogar unbezahlt. Die Profi-Erzieherinnen bekommen nur noch Nirdriglöhne, "nach den Möglichkeiten" der Eltern, wenn diese nicht gar arbeitslos sind. Denn die neuen Sozialstaats-Modelle grün-alternativer Sozialdemokraten funktionieren nur in der wohlhabenden oberen Mittelschicht und Oberschicht. Das "Bündnis mit den Starken", das Scharping zur gleichen Zeit beschwor, hat eine Wirklichkeit. 

"Beispiel 'neues Alter': In Hattingen, im Ruhrgebiet", so Knapp im Mai 1994 über den abgewickelten Stahlstandort mit Massenarbeitslosigkeit, "hat der Verein 'Neues Alter' ohne jede öffentliche Hilfe eine Bildungsstätte für Alte gebaut. Gewerkschafter, Frührentner aus der Stahlindustrie und dem Bergbau haben die Verzweiflung über ihr zwangsweise so frühes Aussteigen aus dem Arbeitsleben in eine Offensive für 'lebenslanges Lernen' übersetzt. Alles ehrenamtlich, versteht sich. ... Die Offensive für einen erneuten Gesellschaftsvertrag sozialdemokratischer Solidarität kann und wird aus den neuen Bundesländern besondere Impulse erhalten. Denn in der alten DDR gab es - wenn auch als staatlich verordnete und streng reglemenierte Solidaritätspflicht - ein breites ehrenamtliches Netz von sozialer Hilfe. ... Diese Strukturen sind weggebrochen oder wurden überhastet aufgegeben. Die Erfahrung mit ihnen und die Erinnerung an die soziale Verantwortung, die sie getragen haben, ist lebendig geblieben, sie kann genutzt werden." Auch eine Art nationaler Identität, eine ganz besonders demagogische Rettung von DDR-Identität: Subbotnik, jetzt allerdings, um die Konzerngewinne zu schonen. Nicht der "gesicherte Arbeitsplatz" wird als Traditionselement aus der früheren DDR herübergerettet, wie Stefan Heym in seiner Rede als Alterspräsident des Deutschen Bundestages kritisierte, sondern die unbezahlte Mehrarbeit. "Wir müssen in Deutschland ein Klima schaffen, das von den Ostdeutschen nicht verlangt, alles für falsch zu halten, was bisher ihr Leben ausgemacht hat", meinte Wolfgang Thierse nach der verlorenen Bundestagswahl 1994. "Wiedervereinigung als soziale Offensive aus den neuen Bundesländern und von unten - das klingt ermutigend", so Knapp. Allerdings weniger für die Betroffenen. 

Auch hier ist die SPD-Linke nicht grundsätzlich anderer Meinung, wenn es um eine "aufkommensneutrale Umverteilung" zwischen den Arbeitnehmern geht, durch den "Sozialismus in einer Klasse". "So leid es mit tut", meinte "spw"-Redakteur Uwe Kremer, "aber wer es mit dem Sozialstaat, den Zukunftsinvestitionen, dem Aufbau im Osten und überhaupt mit dem sozialökologischen Umbau und mit der Ablehnung eines Sparkurses ernst meint, der wird sich beim Abkassieren nicht auf die obersten 10 Prozent der Einkommensbezieher beschränken können." Zu den Forderungen nach Konsumverzicht gehört auch die "linke" Arroganz gegenüber den materiellen Bedürfnissen und Wünschen der Mehrheit der Bevölkerung. Der "spw"-Autor Christoph Meyer verspottete "die Arbeiterklasse der Ex-DDR", weil sich Menschen ihre Arbeit durch Haushaltsgeräte erleichterten: "Neues Auto, Fernseher, Waschmaschine. Glücklich strahlt die Gattin des Ex-Brigadiers in die Fernsehkamera: Die Einheit sei doch eine wundervolle Sache. Fast stehen ihr die Tränen in den Augen." Die westdeutsche SPD-Linke - eine wohlhabende Mittelschichts- und Schickeria-Linke, die Entbehrungen nicht aus eigener Erfahrung kennt - hat keine Phantasie für die konkreten Auswirkungen der "Deregulierung von links". Nicht nur die reale Lebenssituation in Arbeitnehmerhaushalten ist ihr unbekannt. Es fehlt auch oftmals jedes Verständnis für die gesellschaftspolitische Bedeutung der Formierungskonzepte, die als "Sozialpakt" oder "Sozialismus in einer Klasse" angepriesen werden. Um dieses Verständnis zu entwickeln, wäre eine antifaschistische Beschäftigung mit der Konservativen Revolution und der "Neuen Rechten" Voraussetzung, die jedoch in der SPD generell seit Jahren gemieden wird.  (34) 

"Formierte Gesellschaft" 

Diese Wirklichkeit eines "Krisensozialismus" läßt sich nur durch massive Einschränkungen demokratischer Rechte durchsetzen, denn zu groß würden die Widerstände derer, die ins Elend gestoßen werden. Doch die sozialistische Linke schaut in ihrer Kritik an dieser Politik immer noch zu sehr auf offen repressive Maßnahmen. Es gab Modelle - auch sozialdemokratische -, die die Ausplünderung der Arbeitnehmer zugunsten der Konzerne ohne faschistischen Terror, wie er historisch bekannt ist, durchsetzten. Ganzheitliches Denken im Sinne des heutigen New Age, organizistische Gesellschaftsvorstellungen lagen dem zugrunde. Die Modelle sind erstaunlich aktuell. 

Der große Plan der Konservativen zur Gesellschaftsumgestaltung in den 60er Jahren, die "Formierte Gesellschaft", ist nur scheinbar mit der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger 1966 untergegangen. Fast schon war die Große Koalition zum Teil eine Erfüllung des Plans. Der damalige CDU-Vorsitzende und Bundeskanzler Ludwig Erhard trug das Konzept der "Formierten Gesellschaft", ideologische Grundlage für ein System staatsmonopolistischer Regulierungs- und Deregulierungsmaßnahmen, auf dem Bundesparteitag der CDU im März 1965 vor, als großen Wurf für die Modernisierung der westdeutschen Gesellschaft. Erhard war im März 1944, als die Niederlage des deutschen Kapitals im Kampf um die Hegemonie in Europa absehbar war, von der "Reichsgruppe Industrie", dem Gesamtverband aller industriellen Unternehmer Nazi-Deutschlands, mit der Erarbeitung einer Denkschrift darüber beauftragt worden, wie die Konzernvermögen über den "Zusammenbruch" des nationalsozialistischen Regimes und über die erwarteten sozialen Konflikte gerettet werden könnten. Die "Reichsgruppe Industrie" stimmte im Anschluß daran ihre Pläne mit den obersten Wirtschaftslenkern des Nationalsozialismus ab. Nicht zuletzt deshalb wurde die Parteitagsrede Erhards von der Linken der 60er Jahre als Neuaufguß faschistischer Gesellschaftskonzepte gewertet.  (35)  

Der Faschismusforscher Reinhard Opitz analysierte den Ideenkomplex der "Formierten Gesellschaft", zu dem auch der - heute würde man sagen: "neurechte" - Publizist und stellvertretende Hauptgeschäftsführer des Industrie- und Handelstages Rüdiger Altmann beitrug, im September 1965. Sein Artikel wirkt streckenweise wie eine Analyse der heutigen Ideen von Scharpf, Glotz und Thomas. Der Plan Erhards und Altmanns sah die gigantische Steigerung der industriellen Leistungsfähigkeit Westdeutschlands vor, die durch "Formierung" aller gesellschaftlichen Gruppen auf ein Ziel hin erreicht werden sollte. Konkurrierende gesellschaftliche Interessen, die als Hemmnis für den zielorientierten Gesellschaftsprozeß wirken könnten, sollten ausgeschaltet werden. Die Interessenvertretungen sollten korporatistische Organisationen ("'befestigte' Gruppen") übernehmen, die an das "Gemeinwohl" gebunden werden sollten, um die "Überwindung der zerstörerischen Kräfte des Pluralismus weltanschaulicher und verbandsorganisatorischer Prägung" (Altmann) zu erreichen. In einer "Reform der deutschen Demokratie" sollten die Gewerkschaften entmachtet und die pluralistisch-demokratische Staatsverfassung in eine korporatistische Leistungsgemeinschaft umgewandelt werden. Die politischen Institutionen - Parlamente und Regierungen, Verwaltungen und Gerichte -, ebenso die gesellschaftlichen Organisationen sollten durch Umstrukturierung "in die Lage versetzt werden, der Dynamik des politischen und öffentlichen Lebens in höherem Maße gerecht zu werden" (Erhard) - Deregulierung damals. 

"Der Unternehmer muß sich als Schlüsselgestalt der künftigen gesellschaftlichen Ordnung empfinden", die Unternehmen sollten zu "kraftvollen Zellen einer sich neu bildenden Gesellschaftsordnung" werden, so lauteten Schlüsselsätze der "Formierten Gesellschaft". Der Abbau von Sozialleistungen zugunsten von "Selbstverantwortung" sollte den industriellen Kraftakt finanzieren. Altmann hob "das faschistische Experiment" als ersten und zeitweise erfolgreichen Versuch der Modernisierung durch "Formierung" hervor und verwies darauf, daß diese "Formierung" bereits in der Weimarer Republik begonnen habe. Nationalsozialistische Verbrecher hätten die nützlichen Prinzipien jedoch "mißbraucht". 

Die "Formierte Gesellschaft" sollte auch einen geistig-moralischen - wenn nicht gar spirituellen - Überbau haben. Altmann verwies auf die "Aufgabe einer stärkeren Vergeistigung unseres gesamtgesellschaftlichen Bewußtseins, ... denn in Krisenzeiten ist der Rückgriff auf ein gesamtgesellschaftliches Bewußtsein notwendig, um eine Solidarität, einen Zusammenhalt der Gesellschaft zu bewahren. ... Die Bildung des gesamtgesellschaftlichen Bewußtseins ist auch die notwendige Voraussetzung eines tragfähigen, schöpferischen Nationalbewußtseins." Ausdrücklich - übrigens auf der heutigen Linie Schäubles - forderte er, die "Vergeistigung" auf nationaler Grundlage auch "im religiösen Bereich" zu betreiben. 

Opitz bewertete dies 1965 so: "Die Formierte Gesellschaft ist die nach Prinzipien der Wirtschaftsrationalität total durchorganisierte Gesellschaft." Sie verfolge die Errichtung einer "industriellen Großmacht Gesamtdeutschland" mit einem "zugeordneten europäischen Staatengürtel", es gehe nach wie vor "um den europäischen Osten" als Objekt der Begierde des deutschen Kapitals. "Das also ist das Programm", schloß Opitz. "Vorgetragen im Jahre 1965, 20 Jahre nach dem Zusammenbruch der letzten totalen Formierung der deutschen Gesellschaft und inspiriert von den gleichen Industriekonzernen, die damals nach dem 'Gesamtunternehmer' riefen; die sich 1932 im Industrie-Club ... seine Pläne vortragen ließen und ihn an die Macht brachten, weil er versprach, ihnen jene Märkte und Räume in der Welt zu verschaffen, um die es ihnen jetzt wieder - nun also zum dritten Mal - geht. Es hat ja keinen Sinn, darum herumzureden." 

Dreißig Jahre später stellt sich die Führungsriege der Sozialdemokratie als Erbin Erhards vor. Und auch mit Blick auf die Gegenwart ist Opitz voll zuzustimmen, wenn er - 1965 mit Blick auf Erhard, Altmann und die damals kommenden Jahre - schrieb: "Natürlich ist dieses Formierungskonzept kein Nationalsozialismus. Es ist frei von rassistischen Parolen, frei von manch anderen spezifisch nationalsozialistischen Momenten. Fragt man jedoch, wie unter den heutigen Bedingungen, in der Zeit nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus, angesichts der veränderten Weltlage und der veränderten Bündniskonstellationen, ein neues deutsches Programm zur Durchsetzung der alten Ziele der wilhelminischen und Hitlerschen Großmachtpolitik aussehen müßte - die Antwort kann wohl nur lauten: Genau so! Aus dem Plan der Formierten Gesellschaft spricht eine 'klügere', die Fehler der Hitlerzeit, den technischen Fortschritt und die allgemeine innen- und außenpolitische Situation in Rechnung stellende deutsche Großmachtpolitik. Die Begründungen haben sich verändert, die Ziele sind geblieben. Die modernen Industriellen des Jahres 1965 wollen gewiß nicht den unmodernen Faschismus des Jahres 1933; sie wollen einen 'zeitgemäßen', der den technologischen und politischen Verhältnissen der Jahre 1965 bis 1970 angepaßt ist." 

Für die Jahre bis 2000 kann die Einschätzung von Opitz weitergelten. Letztlich ist das Konzept der Formierten Gesellschaft eine Anwendung der Ideen der Konservativen Revolution, also der intellektuellen Vorbereiter und Köpfe des Faschismus, wobei auf offenen Terror und Repression des "Faschismus an der Macht" verzichtet wird. Der Verzicht fällt leicht, wenn es relativen Wohlstand statt einer revolutionären Linken gibt. In den Zeiten des (Privat-) Fernsehens haben es die Herrschenden einfach, von sozialen Ungerechtigkeiten abzulenken.  (36) 

Auch in der heutigen Sozialdemokratie ist man sich weitgehend darin einig, daß staatliche Eingriffe manche anarchische Tendenz des Kapitalismus zähmen müßten. In der Theorie vom staatsmonopolistischen Kapitalismus, die in den 70er Jahren die gesellschaftstheoretische Debatte innerhalb der SPD beherrschte, wurde noch kritisiert, daß die Lenkungsfunktion des Staates gegenüber der Wirtschaft ausschließlich im Interesse der Monopole, der marktbeherrschenden Konzerne, ausgeübt werde. Entscheidungsleitend müßte jedoch das Interesse der Mehrheit der Bevölkerung an Emanzipation, sozialer Sicherheit und der Befriedigung der Kultur- und Konsumbedürfnisse sein: sozialistische Kriterien für hohen Lebensstandard. Inzwischen wird der staatsmonopolistische Kapitalismus jedoch nicht mehr kritisiert, sondern als Vorteil in der Weltmarktkonkurrenz angesehen. Seine vermeintlich vorteilhaften Auswirkungen studiert man vor allem am Beipiel Japans, dessen bisherige Gesellschaftsstruktur - "formiert" bis ins Detail - den japanischen Konzernen Wettbewerbsvorteile verschafft habe. 

Beispielhaft stellte dies "Der Spiegel" in einer Serie über die "Exportmaschine Japan" 1989 dar: Der Erfolg der "Eroberungsfeldzüge" des japanischen Kapitals sei vor allem "einer eigenartigen Mischung von Plan- und Marktwirtschaft" zu verdanken. "Die Generalstabsarbeit für diese Feldzüge wird vom Staat geleistet", von einem Lenkungsministerium, das die Gesellschaft auf vorgegebene, gemeinsam zu erreichende Ziele ausrichte und auf das die deutschen und europäischen Gesellschaftsmodernisierer immer neidvoller blicken. Das "Miti" (Ministry of International Trade and Industry, Handels- und Industrieministerium) ist der organisierte Gesamtkapitalist, der das "Gemeinwohl" koordiniert. Es bestimmt die Branchen der Exportoffensiven und koordiniert deren Weltmarkt-Aktivität, die es mit staatlichen Subventionen lenkt und finanziert. So jedenfalls sieht das Bild der japanischen Institution aus, das deutsche Wirtschaftszeitschriften als Vorbild ausgeben. Miti-eigene Forschungsinstitute lieferten den Firmen Erkenntnisse, die sie selbst nur mit hohem Eigenaufwand gewinnen könnten - in Japan zahlen es die Steuerzahler bereitwillig. "Das Miti ist der Dirigent des japanischen Konzernorchesters", zitierte "Der Spiegel" einen Mitarbeiter der Super-Innovationsbehörde. Und tatsächlich war sie das Vorbild für die kleineren Branchen-"Agenturen", die in Deutschland in den letzten Jahren vom Staat eingerichtet wurden, um Finanzierung, Forschung und privatwirtschaftliche Produktion und Verkauf - oftmals wiederum an den Staat, etwa in der Weltraumtechnologie - zu koordinieren: z. B. die "Deutsche Agentur für Raumfahrtangelegenheiten" (DARA) in der Weltraumtechnologie, z. B. die "Agentur für nachwachsende Rohstoffe" in der Ökotechnik. Gesetzlich abgestützt, "wählte das Miti erfolgversprechende Produkte aus, auf die sich die Entwicklungsarbeiten konzentrieren sollten. Es förderte bestimmte Forschungsprojekte, setzte Produktions- und sogar Qualitätsziele und sorgte dafür, daß die Banken genügend Geld zu den Firmen schoben. Unter Miti-Führung koordinierte eine Beratergruppe, in der die Industrie, die Universitäten und die Regierung versammelt waren, die weitere Entwicklung der Elektronik-Branche" - und wurde Beispiel für die gesellschaftlichen Lenkungsgremien, die Peter Glotz und Oskar Lafontaine vorschweben. 

Alle europäischen Modernisierungsplaner haben vom japanischen Formierungs-Modell gelernt. 1992 meldete "Der Spiegel" in einem weiteren Anti-Japan-Artikel ersten Vollzug. "Es geht, wie etwa EG-Forschungskommissar Filippo Pandolfi fordert, um strategisch plazierte öffentliche Aufträge, um neue Technologien und Märkte zu erschließen. In der SPD, aber auch bei der CDU mehren sich ... die Befürworter einer solchen Politik. ... Auch in der Industrie finden solche Ideen immer mehr Anhänger. 'Die reine Lehre der Marktwirtschaft', meint IBM-Chef Henkel, 'hilft hier nicht weiter.'" 

Doch die Errichtung einer solch machtvollen Institution wie das Miti scheiterte in Europa bisher an der kulturellen Tradition des Sozialstaates, aber auch an der des Individualismus, die bis in die Konzernspitzen durchschlägt. "Die japanischen Firmen unterwerfen sich den Anordnungen des Miti freiwillig. Japanischen Managern ist die Einzelkämpfer-Mentalität der in individualistischer Tradition verwurzelten europäischen und amerikanischen Unternehmer fremd. Sie verstehen sich als Teil der vom Kaiser geführten japanischen Großfamilie, pflegen ein ausgeprägtes Gruppengefühl; das Miti wird als Organisator der Gruppe wie selbstverständlich akzeptiert", so schwärmte "Der Spiegel" 1989. "Natürlich (!) sind Konsens und gemeinsames Handeln in Japan leichter zu erreichen als im Abendland, denn die japanische Kultur hat nicht das europäische Verständnis von Individualität und Emanzipation. Folgerichtig fehlt den meisten Bürgern auch die Fähigkeit, kritisch oder konfliktbereit aufzutreten. Lieber ordnen sie sich der Gruppe und den nationalen Idealen unter. So etwas vereinfacht es ungemein, ein Wir-Gefühl zu erzeugen. Dieses Wir-Gefühl nutzen japanische Unternehmesführer für die Zwecke der Firma. Der Gruppengeist ebnet zugleich das Gefälle zwischen oben und unten in den Betrieben ein." So wird faschistische Betriebsideologie der 30er und 40er Jahre verkauft: Was in der japanischen Kultur verwurzelt ist, kann jedenfalls nicht nationalsozialistisch sein. 

"Für den Schaffensdrang im Dienste der Volksgemeinschaft", so orientierte "Der Spiegel" seine Leser auf das, was Europa fehlen soll, "machen Kenner der japanischen Seele gesellschaftsreligiöse Motive ausfindig. ... Als Mitglieder eines auserwählten Volkes, meinen sie, seien sie berufen, der Welt ihre (ökonomische) Überlegenheit zu demonstrieren. ... Sie schaffen für den Ruhm der Nation." 

"Es stört den Stolz und das Selbstverständnis der Japaner, irgendwo abhängig zu sein", meinte der Berater aller Bonner Forschungs- und Technologieminister der letzten 25 Jahre, Ingolf Ruge, 1989 im "Spiegel-Gespräch". "Der Erfolg der Japaner liegt einmal in ihrem Fleiß, in ihrer Sorgfalt, in ihrem Nationalbewußtsein, zum anderen aber in ihrem System der engen Kooperation zwischen Staat und Wirtschaft. Davon können wir nur lernen." 

"Plan-orientierte Marktwirtschaft" und "die einzig funktionierende Zentralverwaltungswirtschaft der Welt" nennt das Miti sein System. Es ist Planwirtschaft unter den Bedingungen des Kapitalismus - der Kern konservativ-revolutionärer und faschistischer Wirtschaftspolitik, der unter Verzicht auf offenen Terror - "modern" eben - durchgesetzt werden kann. Das "japanische Wirtschaftswunder" wird gestützt von Kulturtraditionen der Unterordnung, der Konfliktscheu nach innen, des Fleißes im Interesse der Obrigkeit - Traditionen, die von der Konservativen Revolution, dem Faschismus und der "Neuen Rechten" Europas als "europäische kulturelle Indentität" im "Indoeuropäertum" der vorzivilisatorischen Keltogermanen ebenso gesucht wurden wie im Preußentum der letzten zweihundert Jahre. Das bedeutet für die hochzivilisierte EU konkret: geringeres Einkommen, niedrigere Lohnsteigerungen, geringerer Gewerkschaftseinfluß, dafür Gemeinschaftsgefühle und öffentliche Anerkennungen für brav erfüllte Leistungen, aber auch: Gerüstetsein gegen den Feind. "Der Spiegel" wußte schon 1989 in seiner Japan-Serie: "Mit Defensive allein läßt sich kein Match gewinnen. ... Die zweite Angriffswelle der Japaner rollt. Anders als bei der ersten Attacke sind die Angegriffenen gewarnt. Anders als in den Siebzigern scheinen die alten Industrieländer diesmal bereit zu sein, sich zu verteidigen und, wenn irgend möglich, selbst in den Angriff überzugehen."  (37) 

Peter Glotz und einige Ideologen in seiner Umgebung haben begriffen, daß Formierung not tut. Vor allem Glotz, der in Schäubles "Kerneuropa-Konzept" einer deutsch geführten Großmacht sogleich wichtige positive Elemente für eine sozialdemokratische Politik fand, macht kein Hehl aus seiner Nähe zu korporatistischen Gesellschaftsvorstellungen, mit denen die deutscheuropäischen Konzerne ihre japanischen Konkurrenten überrunden sollen. In einem Streitgespräch mit Peter von Oertzen, der fast schon Stamokap-Positionen vertrat, bekannte Glotz dies 1988 in seiner Zeitschrift "Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte". Das Gespräch wurde von Tilman Fichter moderiert. Oertzen erhob den Vorwurf, Glotz wolle eine gezielte und koordinierte staatliche Industrie- und Strukturpolitik nur im Interesse der Konzerne und zitierte seinen Kontrahenten mit dem Satz: "Der Staat muß langfristige Ziele formulieren, die die Wirtschaft marktwirtschaftlich abarbeiten muß." Ironisch kritisierte er die Glotz-Position: "Ich sehe schon vor meinem geistigen Auge die Vorstände der großen Konzerne mit schweißbedeckten Gesichtern die 'Ziele' einer 'sozialdemokratischen' Regierung 'abarbeiten'." 

Doch Oertzens Ironie hätte 1994 zur Wirklichkeit eines sozialdemokratischen Regierungsprogramms werden sollen. Das fast schon peinliche Flehen der SPD-Spitze um eine Große Koalition und die faktische Große Koalition über den Bundesrat haben einen Teil bereits verwirklicht. Daran würde auch eine Verbingung mit den Grünen, die die Rolle der FDP eingenommen haben, wohl nichts ändern. Es sind allerdings inzwischen andere Ziele sozialdemokratischer Politik, als noch vor der Wiedervereinigung, zu den Zeiten eines relativ starken sozialistischen Flügels in der Partei. Glotz steht heute für Investitionslenkung - ein Konzept der Parteilinken der 70er Jahre -, allerdings im Interesse der Hightech-Konzerne, also nach dem japanischen Erfolgsmodell. An Selbstbewußtsein fehlt es ihm dabei nicht, höchstens an Realitätssinn, wenn er davon spricht, daß "wir als Staat sagen, die oder jene Subvention geben wir nicht", um eine andere Lenkung zu erreichen. Seine Vorstellung der Formierten Gesellschaft ist knallhart. "Wilde Lohnerhöhungen" dürfe es nicht mehr geben, sagte er 1988 im Gespräch mit Oertzen, die Gewerkschaften müßten dazu gezwungen werden, "einen Teil des Geldes im Unternehmen zu lassen". Deregulierung müsse her, Glotz erklärte sie an den Diskussionsfeldern der 80er Jahre: "Freie Arbeitszeitwahl oder Flexibilisierung ist ein solches Thema, Ladenschlußzeiten wäre ein weiteres." Diese Wirtschaftspolitik weist kaum noch einen Unterschied zu der der extremen Rechten auf. Das REP-Parteiprogramm fordert den "Investivlohn" in derselben Weise wie SPD-Politiker: Statt Lohnerhöhungen soll es eine formale Beteiligung der Arbeitnehmer am Betriebskapital geben, die jedoch niemals zur Verfügungsgewalt wird und auch nicht als individuelles Vermögen realisiert werden kann. 

Glotz ließ 1988 nicht einmal in der Wortwahl Zweifel an seinen Zielen: "Ich baue auf Korporatismus: starke Gewerkschaften, innovative Unternehmer und einen Ziele definierenden Infrastruktur-Staat." Die Stärke der Gewerkschaften wird hier offenbar in der "Sozialpartnerschafts"-Politik des IG Chemie-Vorsitzenden und SPD-MdB Hermann Rappe gesehen, mit Hilfe der Arbeitgeberseite gegen die Chemiearbeiter vorzugehen, wie im Tarifkonflikt 1985, wie 1994/95 wieder. Unter "extremen Verhältnissen", so äußerte sich Horst Mettke, für Tarifpolitik zuständiges Mitglied im Hauptvorstand der IG Chemie 1985, müßten die Gewerkschaften eben "bestimmte Verantwortlichkeiten" übernehmen, auch gegen die Mitglieder gerichtet. Fragt sich immer nur, wer "extrem" definiert: Die Japan-Hysterie deutscher Politiker und Journalisten beschwört ständig den Extremfall des angeblich untergehenden Europa herauf. 

Den erfolgreichen Versuch der unter Rappe "formierten" IG Chemie, bei der Arbeitszeitverkürzung die gewerkschaftliche Einheit zugunsten der Unternehmer aufzubrechen, beschrieb der Verantwortliche, Mettke, so: "Wenn die Arbeitgeber nicht den Vorteil gehabt hätten, zu sagen, 'es gibt auch Gewerkschaften, mit denen das anders geht, und wo andere Regelungen gefunden werden können'! Ich weiß nicht, wie das ausgegangen wäre, wenn 17 Gewerkschaften alle an der gleichen Arbeitszeitfront gestanden hätten. Die Lage wäre dann sicherlich ein bißchen anders gewesen." Korporierte Gewerkschaften waren übrigens eine Eigenheit des mediterranen Faschismus bis in die 70er Jahre. 

Der "Vorwärts" schrieb im Februar 1992, gegen die Gefahren aus Japan gelte es, "die vorhandenen Stärken des deutschen Standortes zu pflegen: die hervorragende Infrastruktur, die Indentifikation von Beschäftigten mit 'ihrem' Betrieb, der Leistungswille und der soziale Friede" - also die Erfolge einer 30jährigen Formierungspolitik zu bewahren. "Das setzt freilich ein kräftiges Ja zum Sozialstaat voraus", so der "Vorwärts" scheinheilig. Dann durfte Udo Knapp den Sozialstaat "von unten" neu definieren. 

Wenn an der Spitze so gesprochen wird wie von Rappe, Mettke, Glotz, dann kann dies als Leitfaden dienen, um die Positionen der linken Basis realistisch zu interpretieren. Der "spw"-Redakteur Uwe Kremer schrieb im September 1994, das Regierungsprogramm Scharpings biete Anknüpfungspunkte für eine "solidarisch-ökologische" Politik, die die "Spielräume politischer Gestaltung im gegenwärtigen Kapitalismus" nutze. Kremer will ein "gesellschaftliches Bündnis" des Unverbündbaren, in das "sowohl Vorstellungen radikalreformerischer Politik aus Gewerkschaften und neuen sozialen Bewegungen wie auch Modernisierungsinteressen von Kapitalfraktionen" eingehen sollen. Dabei setzt er auf "Modernisierung der Industrie und Sicherung ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit auf den Gebieten technologisch hochwertiger Qualitätsproduktion (u.a. mit Schwerpunkt auf Infrastrukturfeldern wie Energie, Verkehr und Kommunikation)" sowie den "fortgesetzte(n) Abbau unmittelbar staatlicher bzw. qausi-staatlicher Beschäftigungssektoren im Zuge weiterer 'Entbürokratisierung' wie auch finanzpolitisch begründeter Reduzierung von Staatsapparaten sowie Verkauf von staatlichen Wirtschaftssektoren" - das zielt z. B. auf die Post- und Bahnreform, zwei Unternehmen, die stromlinienförmig zur privaten Kapitalverwertung auf dem eroberten osteuropäischen Infrastruktur-Markt hergerichtet werden. Der "öffentlich geförderte Beschäftigungssektor", der die zahlreichen neuen Arbeitslosen - Ergebnis einer solchen Politik - einbinden soll, entspricht dann den Plänen Scharpfs. 

Während Kremer gerade im SPD-Wahlprogramm von 1994 noch "Spielraum für eine Dynamik in den Klassenbeziehungen" sah, forderten die Autoren der WSI-Studie über "Grundzüge eines Modernisierungs- und Beschäftigungsprogramms" im selben "spw"-Heft die "Solidarität der Arbeitsplatzbesitzer mit den Arbeitslosen", also die Durchführung des "Sozialismus in einer Klasse", um die Modernisierung zu finanzieren. Konkret fühtren die DGB-Ökonomen das IG Chemie-Modell einer Reduzierung der Wochenarbeitszeit an, bei dem die Arbeitszeitverkürzung auf die Lohnerhöhungen angerechnet werden soll. Die Auswirkungen dieses Bündnisses des rechten Gewerkschaftsflügels mit den Hightech-Konzernen ist die Absenkung des Lebensstandards der Mehrheit. 

Im Bundestagswahlkampf 1994 griffen die Jusos in Kiel auf Ludwig Erhard als Krisenhelfer zurück. Ihre Zeitschrift "Rotkielchen" brachte neben Wahlanzeigen für den Kieler SPD-Bundestagsabgeordneten Norbert Gansel einen Artikel "Wohlstand für niemand?", der Erhards Buch "Wohlstand für alle" aufnahm: "Wenn es denn hülfe, was wäre einzuwenden gegen die ein oder andere Nullrunde bei Löhnen und Renten", meinen die Jusos, "gegen die eine oder andere Kürzung bei Sozialleistungen." Und dann verweisen sie auf Ludwig Erhard und das "Wirtschaftswunder" der 50er Jahre: "Der Staat muß die Rolle des obersten Schiedsrichters spielen." Einem organizistischen Erhard-Apologeten stimmen sie zu: "Es ist seine (des Staates) Aufgabe, die Ordnung des Spiels und die für dieses Spiel geltenden Regeln aufzustellen." Die Schiedsrichterrolle sei heute "außer Gefecht gesetzt", schrieben sie bedeutungsschwanger, und wo die Gefechte gefochten werden sollen, konnte man leicht erahnen: "Weltweite Entwicklung zu Massenwohlstand und umweltverträglicher Zivilisation setzt deshalb in einer weltweiten Marktwirtschaft weltweite politische Macht voraus" - die Strategie von Glotz, die Strategie des weltweiten Eingreifens. "Großraum-Regionen" müßten geschaffen werden, wohl unter deutscher Vorherrschaft zumindest in Europa. Der Kieler Juso Rainer Wolff verwies sogar auf den Ökofaschisten Herbert Gruhl, der vorbildhaft die neue Weltordnung aufgezeigt habe. So kann die Stamokap-Theorie nach hinten losgehen, wenn sie erst einmal organizistisch und privatkapitalistisch gewendet ist.  (38) 

"Kriegssozialismus" seit 1914 

Die SPD kennt historische Vorläufer solcher Gesellschaftsformierungen zugunsten der Modernisierung von Kapitalverwertungsmöglichkeiten, und zwar nicht erst seit den Augusttagen 1914, als der Burgfrieden mit Kaiserreich und Kapital geschlossen wurde, um den Ersten Weltkrieg als imperialistischen Eroberungskrieg führen zu können. Diese sozialdemokratischen Formierungskonzepte waren Garanten für die Kontinuität der antisozialen, antiliberalen und antiemanzipatorischen Politik bis in die heutige Zeit, weil sie desorientierend auf die Unter- und Mittelschichten wirkten. Die ideologischen Begründungen führender SPD-Politiker für die Zustimmung zu den Kriegskrediten und ihre Weiterentwicklung bis 1915/16, als die Parteimehrheit zur Verteidigung des Imperialismus überging, bildeten eine Grundlage der Konservativen Revolution. Sie lagen der Nachkriegspolitik zugrunde, als die SPD-Mehrheit 1918/19 im Verein mit dem preußischen Militarismus den Arbeiteraufstand niederschlagen ließ, als sie 1923/24 die faktische Militärdiktatur verhängte und als eine Minderheit 1932/33 mit einem nationalrevolutionären Putsch sympathisierte. Sie erleichterten ab 1933 die Eingliederung der Arbeitermassen in die nationalsozialistische Volksgemeinschaft erheblich. Sich mit diesem Teil der SPD-Geschichte zu beschäftigen, ist lehrreich, um die heutige neokonservative Entwicklung der Partei zu verstehen. 

Ausgerechnet der Nationalrevolutionär Karlheinz Weißmann erinnerte die SPD 1993 an den "Kriegssozialismus" als sozialdemokratisches Formierungskonzept in Krisenzeiten. In der Zeitung der Bundeszentrale für politische Bildung, "Das Parlament", veröffentlichte er eine Rezension des Buches "Vaterlandslose Gesellen" von Dieter Groh und Peter Brandt. Rechtzeitig zur neuen Formierung Deutschlands schrieb Weißmann von "der Sehnsucht nach einer patriotisch(er)en deutschen Sozialdemokratie" und der Kritik am "Verrat" des linken SPD-Flügels an Deutschland, denen Groh und Brandt Ausdruck gegeben hätten. 

Seit der Parteigründung durch Ferdinand Lassalle wurde versucht, die Sozialdemokratie zu Gesellschaftskonzepten der organizistischen Formierung hinzuführen. Josef Bloch und der Kreis um Blochs "Sozialistische Monatshefte", in denen SPD-Reichstagsabgeordnete und Gewerkschaftsführer für sympathisierende Intellektuelle wie für ein breites Publikum der Arbeiterschaft schrieben, setzten dies um die Jahrhundertwende fort. Finanziell unterstützt aus Bankenkreisen der früheren Umgebung Bismarcks, drängte Bloch mit seiner Zeitschrift, die er unter dem Herstellungspreis verkaufte, den marxistischen Parteiflügel um August Bebel schließlich soweit zurück, daß die Ideen seines Kreises die Mehrheits-SPD schon bei den Entscheidungen für den Ersten Weltkrieg dominierten. Ergänzt wurden Blochs Bemühungen von der nationalrevolutionären Lensch-Cunow-Haenisch-Gruppe, die sich 1914 vom Marxismus abwandte und einen extremen Nationalismus mit staatlicher Wirtschaftslenkung verband. In etlichen Arbeiten, die diese Linie kritisch darstellen und ihren Endpunkt 1933 in der Tolerierungspolitik eines Teils der SPD gegenüber der Regierung Hitler sehen, wird die Ursache dieser Entwicklung in der Staatsfixierung der sozialistischen Bewegung gesehen. Der "Etatismus" habe geradewegs in den totalen Staat der Nazis geführt. 

Tatsächlich jedoch scheinen die nationalen Formierungsbestrebungen, die Teile von SPD und Gewerkschaften als Alternative zur marxistischen Politik sozialer, international zu erreichender Gleichheit verfolgten, wegen ihrer inhaltlichen Übereinstimmungen viel eher für den Siegeszug des Faschismus in den Köpfen der Unterschicht mitverantwortlich zu sein. Die Forderung nach organizistischer Staatsgestaltung, die erst von den Lassalleanern und dann von Bloch und seinem Kreis jahrelang vertreten worden war, hatte die Köpfe verwirrt. Die sozialdemokratischen Monarchisten Friedrich Ebert und Phillip Scheidemann wollten dann noch Tage vor der Novemberrevolution die Regentschaft eines Hohenzollenprinzen retten, wenn Wilhelm II. nur schnell genug als Kaiser zurückträte. Die antiliberale Formierungspolitik seit Lassalle ließ einen Teil der Arbeiterschaft und der mit ihr verbündeten Intellektuellen schon auf dem Felde des Bewußtseins kapitulieren. Sie war ausgerichtet auf das vermeintlich klassenübergreifende, volksgemeinschaftliche Ziel der Stärkung Deutschlands, das - ebenso rassistisch wie chauvinistisch - an der vermeintlichen Überlegenheit des "deutschen Wesens" festhielt. Nationalismus bildete die Grundlage für das Gefühl, nun endlich "gleich" zu sein, während in der Wirklichkeit die soziale Ungleichheit, die ungleiche Verteilung von Lebenschancen, extrem verschärft wurde. Man gab die dialektische Verankerung der sozialistischen Klassik in den liberalen Freiheitsrechten des Individuums zugunsten eines antipluralistischen Gemeinschaftsgedankens auf. Überbauphänomene sollten das Zusammengehörigkeitsgefühl bestimmen: Gemeinsame Sprache und Kultur, die sich erst im 19. Jahrhundert durch Handel und Zusammenschluß von Märkten herausgebildet hatten, traten an die Stelle der Solidarität gegen gemeinsam erlittene materielle Unterdrückung. Der Zweifel, daß die realen Machtverhältnisse dieser wohligen, romantischen Gemeinschaftsvorstellung entgegenstehen könnten, wurde von der Sehnsucht betäubt, endlich anerkannt zu sein, dazuzugehören - wenn auch nur im ideellen Bereich. 

Lassalle, eigentlich ein Nationalrevolutionär, kein Sozialist, forderte bereits das faschistische Führerprinzip, noch in die Ausdrucksweise der völkischen Bewegung gekleidet: "Wir müssen unserer aller Willen in einen einzigen Hammer zusammenschmieden und diesen Hammer in die Hände eines Mannes legen, zu dessen Intelligenz, Charakter und guten Willen wir das nötige Zutrauen haben, damit er aufschlagen könne mit diesem Hammer!" Sein "ursprüngliches Volkskönigstum" entsprach der Glorifizierung des germanischen Wahlherzogtums der Völkischen und Faschisten. Auch Friedrich Naumann, der in den Jahren des Ersten Weltkriegs eine Politik unterstützte, die die Sozialdemokratie in die Regierungsentscheidungen einbezog, trat für ein "soziales Volkskaisertum" ein, wie er es nannte. Dieser Idee entsprechen ebenso heutige Führer-Konzeptionen der "Neuen Rechten" und ihrer Verbündeten - auch z. B. bei Rudolf Bahro, der explizit auf die Herzog-Idee zurückgreift -, sie hat jedoch nichts zu tun mit individuellen Freiheitsrechten und Emanzipation. (39)  

Der Antimarxist Joseph Bloch - als litauischer orthodoxer Jude aufgewachsen und im kaiserlich-preußischen Berlin von inneren Assimilierungszwängen getrieben - entwickelte sich zu einem pangermanischen Nationalisten, der vor dem Ersten Weltkrieg zu den einflußreichsten Ideologen der SPD gehörte. Seine zahlreichen Schriften wirkten durchschlagend auf die tatsächliche Politik der Partei, er war als Revisionist des Sozialismus letztlich erfolgreicher als Eduard Bernstein, der ihn in vielen Fragen bekämpfte. Im Gegensatz zu Bernstein war Bloch antibritisch und protektionistisch eingestellt, vertrat klar antiparlamentarische Positionen. Er trat für einen machtvollen Führerstaat ein und forderte eine "organische sozialistische Demokratie" der "Solidarität der Klassen" anstelle der "individualistischen, Köpfe zählenden Demokratie" - exakt ein Ausdruck, den z. B. Bahro heute gegen demokratische Strukturen verwendet, eine Idee, die der historische Faschismus wie die heutige "Neue Rechte" verfechten, um die sozialen Interessensgegensätze zu verdecken. 

Der Sozialismus sei auf die deutsche Volksseele angewiesen, auf "die deutsche Gesinnung", wie Bloch es 1908 nannte. In ihr sollten sich die Inhalte sozialistischer Gesellschaftsgestaltung bereits zeigen, deshalb seien Klassenkampf und nationale Solidarität zwei Seiten derselben Medaille. Die Nation galt ihm als höchster moralischer Wert, der Sieg des Preußentums sollte schon der Sieg des Sozialismus sein. Die Geschichtsmythologie Oswald Spenglers, nach der Deutschland zu den "jungen" aufstrebenden Nationen zähle, England dagegen zu den absteigenden, wurde von Bloch bereits 1914 ausgeführt. Damit verbunden war die Ablehnung des aufgeklärten, liberalen Denkens als "britisch". Er setzte sich für die deutsche Aufrüstungspolitik ein, denn Deutschland müsse - hier einmal gemeinsam mit Frankreich (Kerneuropa!), gegen Großbritannien - Europa neu gestalten und dominieren und sich ein überseeisches Empire verschaffen, um mit den Konkurrenten mithalten zu können. Bloch nannte als solche bereits Rußland, Großbritannien, USA und Ostasien. Um dies zu erreichen, sei eine überragende Führerfigur an der Spitze der Nation nötig, die das "Volksganze" repräsentiere. 

Die "Sozialistischen Monatshefte" (SM) waren ein frühes Projekt der antimarxistischen "Querfront" der Konservative Revolution. Zur Gründung 1895 - zwei Jahre lang erschien das Blatt noch unter dem Titel "Der sozialistische Akademiker" - knüpfte Bloch an die Deutschen Burschenschaften und die antinapoleonische Zeit an, in der die Befreiungskriege der deutschen Fürsten und Frühkapitalisten sich auch romantizistisch gegen die Moderne und gegen die politischen Ideale der Französischen Revolution, "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit", richteten. Im ersten Editorial - "Was wir wollen" - las man: "Wir stehen hier als freie Burschen, eingedenk des alten Spruchs: Für Ehre, Freiheit, Vaterland!" Der Rückgriff auf die vorsozialistische, romantisch-völkische Zeit war Programm. Um die Jahrhundertwende gehörte Georges Sorel - heute eine beliebte Referenz der "Neuen Rechten" - zu den ständigen Autoren der SM. Romane des konservativen Zivilisationskritikers Gabriele d'Annunzio - ebenfalls ein Vordenker des intellektuellen (Neo-) Faschismus -, wurden hier positiv besprochen: d'Annunzio "dürstet nach der That, nach der befreienden That"; "es gilt, die Schönheit aus dem Sumpfe der modernen Kultur zu befreien", hieß es 1897. Der spätere Lebensphilosoph Ludwig Klages konnte hier seine reaktionäre Kritik an der Moderne plazieren, Willy Hellpach - später ein Säulenheiliger völkisch-pantheistischer Neuheiden - schrieb hier über die Einheit von Gott und Welt. Zu den frühen Autoren der Jahrhundertwende, die dem Blatt teilweise über 30 Jahre die Treue hielten, gehörten auch SPD-Politiker, die später zu den Hauptvertretern der nationalistischen Richtung zählten: Wolfgang Heine, Karl Severing, Otto Braun, Friedrich Stampfer, die Kriegshetzer des Ersten Weltkriegs Ludwig Radlof und Ludwig Frank, dann auch Gustav Noske, August Winnig, der Hofgeismarer Jungsozialist Heinrich Deist, Ernst Niekisch, in den frühen 30er Jahren die Niekisch-Anhänger Theodor Haubach und Carl Mierendorff. Hier schrieben aber auch Kurt Eisner, Eduard Bernstein, Carl Legien, Otto Rühle oder Gustav Landauer, nur am Anfang auch Rosa Luxemburg und Wilhelm Liebknecht. 

Radlof pries hier 1910 "Arbeitsfreude, Willenskraft und Begeisterung für ein großes Ziel" als "alte und neue Jugendideale" der sozialdemokratischen Bildungsarbeit an und wandte sich gegen den "Haß auf die Kapitalistenklasse", denn der Kapialist handele genauso ethisch wie der Sozialdemokrat. Und schon wenige Tage nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs ging Bloch in die Vollen: Der "Burgfrieden" zwischen Sozialdemokratie, Kaiserreich und Kapital solle als Beispiel für kommende Friedenszeiten genommen werden, die "Solidarität der Klassen" solle den "Kampf der Klassen ergänzen", und zwar auf der Basis des "Bewußtsein(s) von der Einheit der Nation". Die SPD habe "die Sache der deutschen Nation als die ihrige erkannt" und müsse das deutsche Großmachtstreben gegen das britische Empire unterstützen. "In dem größten Krieg der Weltgeschichte, der jetzt begonnen hat", so Bloch Mitte August 1914, "hat die deutsche Nation den Willen zum Sieg. Sie darf ihn haben, weil sie für eine innerlich gerechte Sache kämpft. Daher wird sie siegen." 

Der Gewerkschaftsführer Theodor Leipart, der 1932 die "Querfront" Kurt von Schleichers gegen die Weimarer Republik unterstützte und 1933 sogar mit den Nazis zusammenging, schrieb 1915 in SM über "die gemeinsamen Interessen der Arbeiter und der Industrie". Er beteuerte die "Heimatliebe" der Arbeiter und versicherte, daß auch den Gewerkschaften im Krieg "das Wohl des Ganzen über die Interessen der einzelnen Klassen" gehe. Deshalb hätten sich die Gewerkschaftsführer zur Formierung und Gleichschaltung mit den Unternehmerorganisationen bereitgefunden und mit ihnen "Kriegsarbeitsgemeinschaften" gebildet, Vorläufer der späteren "Deutschen Arbeitsfront" der Nazis. 

Die Formierung auf die nationale Gemeinschaft war auch in der Sozialdemokratie immer expansiv gerichtet, wie die Kämpfe um Elsaß-Lothringen und die Kolonien zeigten. Lassalles Anhänger hatten im preußischen Landtag 1870 für die Kriegsanleihe gestimmt und den Eroberungskrieg gegen Frankreich befürwortet, der auf die Kohle- und Erzvorkommen Lothringens gerichtet war, während die Sozialisten um August Bebel und Wilhelm Liebknecht dies verweigerten und sich gegen die Annexion aussprachen. Bismarck hatte später im Reichstag mehrfach versucht, den Populärmonarchismus der Lassalleaner gegen die Politik der Sozialisten auszuspielen. Im Januar 1918 dann, als die Arbeiterinnen und Arbeiter im großen Streik "Frieden, Freiheit und Brot" statt der Fortsetzung des neuerlichen Krieges gegen Frankreich forderten, als die rechte Gewerkschaftsführung ihnen die Streikgelder verwehrte und die Revolution jetzt schon fast ausgebrochen wäre, da nahm der SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzende Philipp Scheidemann das umstrittene Gebiet unter deutsch-sozialdemokratischen Schutz. Im Reichstag erklärte er zur Fortsetzung des Krieges: "Elsaß-Lothringen ist deutsches Land und deutsch bleibt es." Doch das französische Kapital rächte sich für die deutsche Annexion von 1871 und behielt das Land zur eigenen Ausbeutung. Problemlos konnten die Nazis den Spieß dann wieder umdrehen, großdeutsche Sozialdemokraten hatten es mental vorbereitet. 

Auch Bloch verband die imperialistische Expansion - ähnlich wie der SPD-Kolonialpolitiker Gustav Noske - mit dem vermeintlichen Interesse des deutschen Proletariats an einem Wohlstand, der auf der Ausbeutung der Nachbar- und Kolonialvölker und ihrer Rohstoffe basieren sollte: Die deutsche Arbeiterklasse sei nicht lebensfähig ohne Kolonien. So konnte die Formierung auf das Ziel "Weltmacht Deutschland" als sozialistische Politik ausgegeben werden. Zusätzlich wurde diese Politik, den Kolonialbesitz Deutschlands auszuweiten und zu festigen, mit einer rassistischen Herabstufung der Kolonialvölker ideologisch überbaut: Einerseits müßten die Deutschen den Wilden erst noch Kultur beibringen, andererseits könnten nur die Sozialdemokraten dies mit vermeintlich humanen Methoden tun. "Dürfen wir Kraft unserer höheren Kultur uns anmaßen, über diese niederen Völker zu gebieten und sie im Laufe der Dinge zu uns emporzuziehen?", fragte Ludwig Radlof 1915 in seinem Durchhaltebuch "Vaterland und Sozialdemokratie". "Im Kern ist es fraglos, daß wir ein Recht auf Eingliederung neuer Stämme und Völker haben", gab er die Antwort, die auch die Annexionspolitik in Europa rechtfertigen sollte, "sofern wir uns als gesittete Nation ihnen gegenüber benehmen." Er schrieb sogleich, was den Nichtdeutschen in Europa bevorstehe, wenn die angeblich höhere Kultur der preußischen Tugenden über sie komme: "Dabei wird ein Arbeitszwang wohl schwerlich zu vermeiden sein." Das deutsche Kapital wollte billige Arbeitskräfte als Kriegsbeute, um den Faktor Arbeit finanziell zu entlasten und so seine Standortvorteile auf dem Weltmarkt zu verbessern. 

Derart gewappnet, forderte die Mehrheits-SPD dann 1919 in der Nationalversammlung ebenso wie auf der internationalen Berner Sozialistenkonferenz die Rückgabe der Kolonien. Der "Vorwärts" erklärte im Juni 1919 den gerade verlorenen Kolonialbesitz zur Existenzbedingung für das deutsche Volk und erhob für die "sozialdemokratische deutsche Republik" - wie es in Bern geheißen hatte - den Anspruch, an der "Kulturarbeit der weißen Rasse in Afrika und der Südsee teilzunehmen". Doch dahinter verbarg sich nur der Zugang zu billigen Rohstoffen, den die Weltmarkt-Konkurrenten nicht behindern könnten. 

In SM vertrat z. B. der SPD-Reichstagsabgeordnete Wolfgang Heine 1914 chauvinistischen Positionen, wie sie in der SPD schon vor Beginn des Ersten Weltkriegs weit verbreitet waren. Die relative Prosperitätszeit seit der Jahrhundertwende, Glanz und Gloria des Hohenzollern-Kaisertums ließen die Untertanen stolz auf Deutschland sein, auch die sozialistischen. "Unserer deutschen Kultur" wollte Heine "einen besonderen Vorzug anderen gegenüber zuerkennen" und befand zu Kriegsbeginn, "wir haben sogar eine positive Aufgabe, nämlich die Welt nicht um den deutschen Geist zu bringen, den sie nicht entbehren kann. Darum sind wir im höchsten Recht", Krieg zu führen; deshalb solle die deutsche Arbeiterbewegung "deutsche Siege ehrlich feiern". Bereits in der Diktion der Konservativen Revolution berauschte er sich an "kühnen todesmutigen Taten", die mit Hilfe der "Wunderwerke deutscher Technik" begangen würden: "unsere Kanonen, unsere 42er Mörser, unsere Waffen und unsere Luftschiffe" - damals neben den U-Booten der Gipfel deutscher Kriegs-Hochtechnologie. Nach der Revolution wurde Heine Minister. 

Doch es war schließlich der hergebrachte Primat der Innenpolitik - so analysiert es Susanne Miller, langjährige Vorsitzende der Historischen Kommission beim Parteivorstand der SPD in den 80er Jahren -, der die Sozialdemokratie 1914 zum Burgfrieden mit Kapital und Adel veranlaßte. Die Hoffnung der organizistisch ausgerichteten Parteirechten bestand darin, daß einerseits das gemeinsame Kriegserlebnis formierend wirke, andererseits demokratische und sozialistische Forderungen als Lohn für die "patriotische Bewährung" durchgesetzt werden könnten. Die Gewerkschaften unterstützten offen den Kriegskurs und die Regierung des Kaisers, der Junker und der Konzerne. "Mag der Krieg noch Monate oder Jahre dauern", so zitierte Radlof 1915 aus der Gewerkschaftspresse, "er wird das Volk eher fester zusammenschweißen und seine Kräfte ins Ungeahnte wachsen lassen." Der Vater aller Dinge läßt das deutsche Wesen über sich hinaus wachsen: eine klassische faschistische Denkfigur. Die Zeitschrift des Metallarbeiterverbandes schrieb im November 1915: "Eine neue Zeit ist angebrochen, andere Menschen hat der Krieg in kurzer Zeit aus uns allen gemacht. Das gilt unterschiedslos für hoch und niedrig, für arm und reich, für Privatpersonen und Staatsdiener. Solidarität und Hilfeleistung ... ist über Nacht Gemeingut eines großen und leistungsfähigen Volkes geworden. Sozialismus, wohin wir blicken!" 

"Statt eines Generalstreiks führen wir für das allgemeine preußische Wahlrecht einen Krieg", zitiert Miller einen der führenden SPD-Kriegseuphoriker, den Reichtagsabgeordneten Ludwig Frank, der sich gleich im August 1914 als Kriegsfreiwilliger meldete und sogleich an der Front fiel. Man war sogar vom Friedenswillen des deutschen Kapitals überzeugt, mit dem gemeinsam man die "Unabhängigkeit Deutschlands" erstreiten wollte, zum Wohle eines "Sozialismus", den die Arbeiterklasse gemeinsam mit dem Kapital aus der deutschen Volksseele schöpfen sollte. (40)  

Die SPD-Parteipresse des Sommers 1914 war voll von Chauvinismus und deutschtümelnder Überheblichkeit. Der seit Jahrzehnten auch in der Arbeiterbewegung und ihren Organen verbreitete Rassismus und Antisemitismus - bis in die Karikaturen der sozialdemokratischen Presse hinein wurden antisemitische Stereotype transportiert - erleichterte die Entscheidung für den Krieg. Die Parteipresse schrieb von "halbbarbarischen Horden" des Ostens, vor denen nun Deutschlands Frauen und Kinder zu schützen seien. Friedrich Stampfer, 1916 bis 1933 Chefredakteur des "Vorwärts" und einer der einflußreichsten Sozialdemokraten, begründete die folgenschwere Bewilligung der Kriegskredite rassistisch: "Wir wollen nicht, daß unsere Frauen und Kinder Opfer kosakischer Bestialitäten werden." 

Zahlreiche SPD-Reichtagsabgeordnete hatten sich untereinander konspirativ schriftlich verpflichtet, in jedem Falle - notfalls auch gegen die Fraktionsdisziplin - für die Kriegskredite zu stimmen. Die Ablehnung zumindest eines Eroberungskrieges, die der Marxist Karl Kautsky als Kompromiß durchsetzen wollte, war noch kurz vor der Reichstagsabstimmung am 4. August 1914 aus der SPD-Erklärung gestrichen worden. Der Weg für den Imperialismus war nun freigeräumt. Kautskys Position wurde innerparteilich als "Produkt eines nicht mehr normalen Gehirns" diffamiert. Der rechte Fraktions-Flügelmann Konrad Haenisch, familiär halb großbürgerlich, halb preußisch-militärisch geprägt, freute sich, daß er "aus vollem Herzen, mit gutem Gewissen und ohne jede Angst, dadurch zum Verräter zu werden, einstimmen durfte in den brausenden Strumgesang 'Deutschland, Deutschland über Alles!", wie er später schrieb. Besonnene Sozialdemokraten warnten die eigene Presse vor "Kriegsrausch". 

Das allgemeine und freie Wahlrecht wurde keineswegs zur Bedingung gemacht, als die Sozialdemokraten die Kriegskredite erstmals und immer neu bewilligten. Emanzipatorische Forderungen wurden schnell vergessen, nachdem von der Obersten Heeresleitung, der kaiserlichen Regierung und den Konzernspitzen eine planerische Kriegswirtschaft eingeführt worden war, die plötzlich ungeahnte staatliche Eingriffe in den Privatkapitalismus vornahm und fast die gesamte Wirtschaft staatlicher Leitung und einem einzigen Ziel unterwarf: dem militärischen Sieg als Voraussetzung für einen deutsch geführten gemeinsamen Markt Europas. Die rechte Mehrheitssozialdemokratie unterstützte diese Politik, weil sie glaubte, die Überlebenfähigkeit der deutschen Arbeiterfamilien hänge von diesen neuen, moderneren Kapitalverwertungsmöglichkeiten ab. 

"Sozialismus, wohin wir blicken!", das sollte nun ohne die Entmachtung der alten Eliten geschenen: Es waren vor allem die Generale Erich Ludendorff und Wilhelm Groener sowie dessen damaliger Adjutant Kurt von Schleicher, die im Interesse des deutschen Kapitals den Bau der U-Boote planten, die noch jungen technischen Universitäten mit der industriellen Produktion in den Fabriken koordinierten, wissenschaftliche Neuerungen schnell und konsequent durchsetzten, die ersten Versuche zur Herstellung synthetischen Benzins und Gummis förderten, chemische Fabriken zur Sprengstoffherstellung aus dem Boden stampfen ließen, die Erzlieferungen für Krupps Kanonen durch die Reichsbahn sicherten, die Lebensmittelverteilung im Reich und an der Front organisierten, die Arbeiterlöhne dirigistisch festsetzten, kurz: die deutsche Wirtschaft mobilisierten und modernisierten, um den Weltkrieg zu gewinnen. Die Oberste Heeresleitung wurde zu einem gigantischen Miti im Kriege, zu einer Agentur, die mit der Wirtschaft und den rechten Gewerkschaftern die kriegsnotwendigen Entscheidungen plante und organisierte. Ludendorff sprach sich schon früh für eine enge Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften aus, um die Interessen der gesellschaftlichen Gruppen zu integrieren und auf das gemeinsame Ziel zu formieren: Sieg über Frankreich, Großbritannien und schließlich die Vereinigten Staaten von Amerika. Bis in die 30er Jahre waren diese Personen für dieses Ziel aktiv, ebensolange in Zusammenarbeit mit führenden Sozialdemokraten. 

Dieser Teil der Sozialdemokratie verstand den Ersten Weltkrieg vom ersten Tag an als den lang ersehnten Entscheidungskampf. Doch es war ein folgenschweres Mißverständnis, diese gesellschaftliche Formierung hin auf die Ziele des deutschen Kapitals sogleich mit dem angestrebten Sozialismus gleichzusetzen. Nationalismus und die Sehnsucht nach Klassenversöhnung, die sich in der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften ausgebreitet hatten, ließen das Mißverständnis aufkommen. Es wirkt bis heute weiter. Der SPD-Reichstagsabgeordnete Paul Lensch - anfänglich noch gegen den Krieg - ließ sich nun fortreißen von der Begeisterung über die organisatorischen Leistungen, die Staat und Kapital zur Kriegsführung durchsetzten. Er prägte als erster den Begriff "Kriegssozialismus" für die staatliche Koordination der Konzerninteressen, die Militarisierung der politischen Kultur und die Verwirklichung der Volksgemeinschaft der Gleichen im Schützengrabentod, die nun als Ziel der Arbeiterbewegung ausgeben wurde. Vom "Volksorganismus" war nun die Rede, und Lensch beschwor "die Identität sozialistischer und nationalistischer Arbeit" im Krieg, von der schließlich die Sozialdemokratie überflüssig gemacht werde. 

Unter dem Einfluß der geschichtsphilosophischen Arbeiten von Johannes Plenge - er war kein Sozialdemokrat, beeinflußte aber die Entscheidungen der Reichstagsfraktion während des Krieges nachhaltig - wurde die formierte Gesellschaft des "Kriegssozialismus" als neues Ziel der Arbeiterbewegung ausgegeben. An seiner Spitze sollte ein "Verwaltungskaiser" oder ein "Wahlkönigtum" stehen - organizistische Konzepte, die geradewegs im faschistischen Führertum mündeten. Die volksgemeinschaftlichen "Ideen von 1914" standen nun auch innerhalb der Sozialdemokratie als deutsche Alternative gegen die individuellen Freiheitsrechte der bürgerlichen Revolutionen, die "Ideen von 1789". Die preußisch-militaristische Wirtschaftsorganisation, die im Interesse der Konzerne und Großagrarier vom deutschen Kapital für die Kriegszeit bereitwillig akzeptiert wurde, obwohl sie das freie Unternehmertum beseitigte, trat in der rechten Sozialdemokratie nun an die Stelle des "Reiches der Freiheit", in dem die Sozialisten bisher die emanzipatorischen Errungenschaften der bürgerlichen Periode für alle verwirklichen wollten. Die "Volksgenossenschaft des nationalen Sozialismus", wie Plenge es in sozialdemokratischen Zeitschriften nannte, wurde im Verrat des Internationalismus gegen andere Völker errungen, die den deutschen Wohlstand, notfalls durch Zwangsarbeit, schaffen sollten. Das Prinzip der internationalen Solidarität, das seit der Amerikanischen und der Französischen Revolution die Emanzipationsbewegungen beflügelt hatte, war dem der "nationalen Solidarität" gewichen. 

Lensch war der theoretische Kopf einer nationalrevolutionären Gruppe, der u. a. Plenge, Noske, Haenisch, der Lehrer an der Parteischule Heinrich Cunow und der rechte Gewerkschaftsführer und Nationalrevolutionär August Winnig angehörten; letzterer war einflußreicher Vorsitzender der Bauarbeiter-Gewerkschaft, paktierte später mit den Putschisten um Ludendorff gegen die Weimarer Republik und lief nach einer Zwischenstation bei Ernst Niekisch schließlich zu den Nazis über. Ihre Haltung zum Weltkrieg und zur Kolonialfrage bestimmte die Politik der Mehrheits-SPD bis 1920. Ihr Organ wurde die Zeitschrift "Die Glocke" des Abenteurers und Kriegsgewinnlers Parvus, der richtig Alexander Helphand hieß, erst aufseiten der Parteilinken in der Massenstreik-Debatte gestanden hatte und dann im Kontakt mit der kaiserlichen Regierung Waffenhandel zwischen dem Deutschen Reich, der Türkei und den skandinavischen Ländern betrieb - einer von vielen "Wanderern zwischen den Welten". Auch für "Die Glocke" konnten Gewerkschaftsführer und Reichtagsabgeordnete als Autoren gewonnen werden. Anfang der 20er Jahre schrieb dann auch Ernst Niekisch hier. 

Da die Mitglieder dieser Gruppe 1914 überwiegend noch als Marxisten und Linke galten, hatten sie leichtes Spiel, demagogisch die Nationalisierung des Sozialismus zu betreiben. Anfang Oktober 1914 schrieb Heanisch an Karl Radek über sein "bewußtes und tief empfundenes Deutschtum" und bezog sich ausgerechnet auf den völkischen Dostojewski, einen Säulenheiligen der Nationalrevolutionäre der 20er Jahre wie der heutigen "Neuen Rechten" heute. Haenisch wollte die "Synthese" aus der "blauen Wunderblume der deutschen Romantik" und den "rauchenden Schloten und dröhnenden Hämmern" verwirklichen - exakt der Inhalt jenes Heroischen Realismus der intellektuellen Vorläufer des Faschismus, der Konservativen Revolution nämlich, die den heroischen Idealismus der Romantik mit dem Industriesystem und dem Imperialismus verbanden. Die Lensch-Cunow-Haenisch-Gruppe entwickelte Ideen, die nach 1920 in den Zirkeln der Konservativen Revolution weiterverfolgt wurden und schließlich im Faschismus mündeten. Einer romantizistischen Harmoniesehnsucht, die das Deutschtum erfüllen sollte, fügten sie einen radikalen Modernismus hinzu. Der Krieg als Antreiber der Produktivkraftentwicklung, als Gesellschaftsmodernisierer wurde ihr Wegbereiter einer Revolution, die mit den Zielen des internationalen Sozialismus allerdings nichts mehr gemein hatte. 1917 schrieb der kriegsbegeisterte Lensch sein Buch "Drei Jahre Weltrevolution" und meinte damit den anhaltenden Krieg. 

Lensch und seine Gruppe schufen eine deutsche Version des Futurismus und legten damit Grundsteine für die Verbindung der völkisch-naturreligiösen Bewegung mit den damaligen Hochtechnologie-Konzernen, die der Faschismus in den 30er Jahren zur Modernisierung der Gesellschaft nutzte. Maßloser Chauvinismus, die antisemitische, germanentümelnde religiöse Verankerung des "faustischen" Herrenmenschen, die Expansions- und Modernisierungsinteressen des Kapitals und die Uminterpretation des Sozialismus als staatsmonopolistischen Kapitalismus, als staatliche Koordinierung privater Konzerne, ergaben eine Mischung, zu der die Nazis noch den offenen Massenterror hinzufügten. Es war Eduard Bernstein, der gegenüber der Lensch-Cunow-Haenisch-Gruppe klarmachte, daß der "Kriegssozialismus" nur der Sicherung eines modernisierten Kapitalismus diene und hierfür die Freiheitsrechte opfere, mit den Zielen der Arbeiterbewegung aber nichts zu tun habe. 

Die Gruppe betrachtete es bereits als sozialistisches Leben, daß die Waffenproduktion bei Krupp und Röchling durch staatliche Rohstoffverteilung sichergestellt wurde, daß der kriegsbedingte Mangel an Lebensmitteln staatlich verwaltet wurde, daß die Arbeiterfamilien im gemeinsamen Gefühl materieller Not mit der unteren Mittelschicht lebten. Der eigentliche Inhalt des Sozialismus, die Selbstverwirklichungsmöglichkeiten eines jeden Individuums sicherzustellen, galt ihnen nichts, da sie antiliberal und antipluralistisch dachten. Eines ihrer Vorbilder war Johann Gottlieb Fichtes Utopie des "geschlossenen Handelsstaates", deren innergesellschaftliche Formierungsprinzipien im Faschismus und bei der "Neuen Rechten" der 80er und 90er Jahre ebenso Neuauflagen erlebten wie die angeblich völkischen Wurzeln dieser Formierung. Auch die nationalrevolutionären Kreise um Peter Brandt und Herbert Ammon belebten in den 80er Jahren Fichtes totalitäre Staatsvorstellung wieder. 

Indem sie den Weltkrieg, den das deutsche Kapital entfesselt hatte, mit der Weltrevolution gleichsetzten, behaupteten sie, Deutschland sei Träger der qualitativ höheren Gesellschaftsformation und habe daher alles Recht zur Herrschaft über Europa, zu Annexionen und zum Erwerb eines Kolonialreiches. Lensch vertrat wie Bloch die spätere Spenglersche Geschichtsmythologie vom Auf- und Abstieg der "jungen" und "alten" Kulturen, deren Schicksal nun vom Weltkrieg befördert werde. Später schrieben er und Winnig begeisterte Briefe an Spengler, als dessen Bücher "Der Untergang des Abendlandes" und "Preußentum und Sozialismus" erschienen waren und geistige Grundlagen für die entstehende Konservative Revolution abgaben. 

Haenisch trieb diese Verwechslung von internationalem Sozialismus mit nationalistischem staatsmonopolitischem Kapitalismus plus den preußischen "Tugenden" Zucht, Ordnung, Disziplin, Fleiß und staatlicher Autoritarismus auf die Spitze, als er im Dezember 1914 die Arbeiterparteien Europas aufforderte, für den militärischen Sieg Deutschlands zu kämpfen: "Die Zukunft des deutschen Kapitalismus und damit die Zukunft der deutschen Arbeiterbewegung gefährden: das heißt auch die Zukunft des internationalen Sozialismus gefährden." Das Wesen des "Kriegssozialismus" war jedoch nicht die Verteilungsgerechtigkeit durch Planung und die Emanzipation des Individuums von materieller Not, in der Folge also die Möglichkeit der freien Entfaltung der individuellen Persönlichkeiten, sondern die Hegemonie des deutschen Kapitals mindestens über Europa und seine Kolonien. 

Der Kriegssozialismus werde die "Blüte einer alle Klassen umspannenden deutschen Gefühls- und Gedankengemeinschaft" hervorrufen, schwärmte Haenisch 1915. Gänzlich in Ideen der völkischen Bewegung gefangen, sah Lensch die Reichsgründung von 1871 nur als "äußerliche", der die Begründung des "inneren Reiches" (Paul de Lagarde) durch die Arbeiterbewegung folgen müsse; der 4. August 1914, die gemeinsame Bewilligung der Kriegskredite, sei dessen Geburtsstunde gewesen, habe die "Identität sozialistischer und nationalsozialistischer Arbeit" verwirklicht, so schrieb Lensch 1916. 

Für einen SPD-Reichtagsabgeordneten suchte Lensch erstaunliche Verbündete: Er war seit der Gründung 1915 Mitglied der "Reichsdeutschen Waffenbrüderlichen Vereinigung" unter der Präsidentschaft des Generalfeldmarschalls August von Mackensen, der später Hitler und die NSDAP unterstützte. Wie die "Vereinigung", so vertraten auch Lensch und seine Gruppe eine "geopolitische" Mitteleuropakonzeption, die primär gegen Großbritannien und die USA und ihre Verbündeten gerichtet war. Ein starkes Deutschland sollte europäische Hegemonialmacht werden, umgeben von einem Gürtel sozial abgewerteter und willig ausbeutbarer Vorfeldstaaten. Sie planten ungeniert - wie Ludendorff auch - die Annexion von Teilen der Niederlande, Belgiens, Frankreichs und des Baltikums. Lensch forderte die "Schaffung eines eigenen, lebensfähigen Kolonialreiches" für Deutschland, und der Wirtschaftsfachmann Cunow - dessen Rat von der SPD-Reichstagsfraktion geschätzt wurde - begründete dies nun offen mit dem ungehinderten und billigen Bezug industrieller Rohstoffe. Haenisch, immer maßloser als die anderen, formulierte es 1916 so: "An die Stelle des alten Schlachtrufs 'Von der Maaß bis an die Memel' tritt heute der neue Schlachtruf: 'Von Hamburg bis Bagdad'!" Man plante ein mittelafrikanisch-arabisches Kolonialreich, dem Persien und Afghanistan - die arischen Verwandten! - als Halbkolonien angegliedert sein sollten. Das Zwischenland Türkei, in dem Parvus mit Kriegshandel ein Vermögen verdient hatte und das mit Deutschland verbündet war, sah man ohnehin als geborenes Vorfeld deutscher Expansion nach Mittelasien an. Dieses Programm wurde von den Nazis in den 30er Jahren wiederaufgenommen. 

Susanne Miller erinnert in ihrem Buch "Burgfrieden und Klassenkampf" an die Mitteleuropa-Schrift Friedrich Naumanns von 1915, die die Kriegsziele der deutschen Chemie- und Elektro-Konzerne formulierte, in den 20er Jahren in die geopolitischen Mitteleuropa-Konzeptionen der Konservativen Revolution einfloß und in den 80ern von Peter Glotz - reformiert für die neue Weltmarktlage, aber explizit genannt - wieder aufgegriffen wurde: "Naumanns Konzeption eines autarken Wirtschaftsgroßraumes unter deutscher Führung kam vor allem der englandfeindlichen, von Deutschlands Kulturmission durchdrungenen Grundhaltung von Männern des extrem nationalen Flügels der deutschen Sozialdemokratie - Paul Lensch, Konrad Haenisch, Max Schippel, Wilhelm Jansson - entgegen." Naumanns Buch sei 1915 in der SPD breit beachtet worden. Miller sieht dies vor allem "von der Furcht vor Englands Wirtschaftspotential und seiner gegen Deutschland gerichteten Ausnutzung inspiriert". Cunow entwickelte Pläne für eine "Handels- und Zollverbindung zwischen den Mittelmächten", der dann selbstverständlich die annektierten Teile der Nachbarstaaten zugehören sollten. Noske trat dem von Naumann gegründeten "Arbeitsausschuß für Mitteleuropa" bei, dem auch der Rüstungsindustrielle Hugo Stinnes und der Elektroindustrielle Robert Bosch sowie der Bankier Hjalmar Schacht angehörten. Schacht gehörte später zu den Drahtziehern und Finanziers der Konservativen Revolution, versuchte immer wieder die Einbindung der Sozialdemokratie, war in den 20er Jahren und während des Nationalsozialismus Reichsbankpräsident und Wirtschaftsminister im Kabinett Hitler, setzte die Ermordung der Köpfe des Strasser-Flügels der NSDAP durch, engagierte sich dann aber nach 1945 mit den innerfaschistischen Gegnern von gestern, den Nationalrevolutionären, in der neutralistischen Bewegung gegen die Westbindung der Bundesrepublik, wo er erneut Teile der Sozialdemokratie als mögliche Verbündete ins Blickfeld nahm. 

Miller hält die "Überzeugung, daß das Wohl der Arbeiterklasse aufs engste mit Deutschlands Fähigkeit (verbunden sei), sich wirtschaftlich gegenüber seinen Konkurrenten zu behaupten", für die "voll ausgebildete Grundstruktur im Denken der Parteimehrheit" der SPD während des Ersten Weltkrieges. Dies ist der Hintergrund auch der sozialdemokratischen Politik gegen den Versailler Friedensvertrag, die im Wechsel mit einer Verständigungspolitik gegenüber den Kriegssiegern die Außenpolitik der Partei bis zu ihrem Verbot 1933 bestimmte. 

Die Parteiführung unterstützte die Gruppe um Lensch. Der SPD-Vorsitzende Friedrich Ebert persönlich empfahl 1915 die Schriften Lenschs, Cunows und Haenischs gegen den Protest des linken Flügels dem Parteiausschuß als Arbeitsgrundlage. Das viel gelesene Sammelwerk "Die Arbeiterschaft im neuen Deutschland", 1915 von dem Gewerkschaftsführer Carl Legien herausgegeben, markierte die Anerkennung der Gruppe durch die Mehrheits-SPD und die Gewerkschaftsspitzen. Hier schrieben neben Noske, Winnig, Lensch und Scheidemann auch die Ideologen der klassenübergreifenden "Gemeinschaft" statt Gesellschaft, Ferdinand Tönnies und Ernst Troelsch, deren Ideen vielerorts für den Sieg des Faschismus in den Köpfen mitverantwortlich gemacht werden. Scheinbar wissenschaftliche Begründungen für den Gedanken der organischen "Volksgemeinschaft" wurden breit in die Arbeiterschaft getragen, wo sie auf dem fruchtbaren Boden der Lassalleaner gediehen. Die Lensch-Gruppe verschob das gesamte Spektrum der SPD nach rechts, was sich mit der Abspaltung der Parteilinken 1917 noch drastisch verschärfte, weil Ebert sich ausdrücklich weigerte, zum Ausgleich nun auch gegen die extreme Rechte in der Partei vorzugehen. 

Die Formierungsideologie des "Kriegssozialismus" bestimmte ebenso die Jahre 1918 bis 1920. Nach Einschätzung von Robert Sigel, der diese Szene 1976 eingehend untersuchte, wurde die Lensch-Cunow-Haenisch-Gruppe zum hauptsächlichen Ideologielieferanten für die Politik der Mehrheits-SPD, gerade auch in der Revolutions- und ersten Nachkriegszeit. Als die Spitze der Mehrheits-SPD um Ebert im September 1918 auf Drängen Naumanns den Weg freimachte, um Sozialdemokraten an der kaiserlichen Regierung zu beteiligen, tat sie dies vor allem in der Hoffnung, die Revolution noch verhindern und die militärische Lage dadurch stabilisieren zu können. Noske sprach von einer "Rettungsmannschaft" für das Deutsche Reich, Scheidemann wollte durch das Kaiseropfer wenigstens noch die Monarchie retten und Ebert beschwor die Partei, Verantwortung zu übernehmen: Wenn es den Kriegsgegnern gelänge, "Deutschland einen bedingungslosen Frieden aufzuzwingen", so Ebert, "werden unsere wirtschaftlichen Lebenskräfte vergewaltigt, unsere wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten unterbunden, dann wird die deutsche Arbeiterklasse schwer getroffen". Seinen Vorgänger und letzten kaiserlichen Reichskanzler, Prinz Max zu Baden, wollte Ebert das monarchische Amt des "Reichsverwesers" übertragen. 

Kaum an der Regierung, teilte Ebert die Macht der Revolution mit der bisherigen Militärführung des Kaisers und der Konzerne. Der 9. November 1918 war so wenig eine Stunde Null wie der 8. Mai 1945, allerdings trug die Sozialdemokratie 1918 dafür mehr Verantwortung, denn Deutschland war nicht von Kriegssiegern besetzt, sondern wurde von innen umgewälzt. In allabendlichen geheimen Telefonaten mit General Groener, der inzwischen an Ludendorffs Stelle zum Chef der Obersten Heeresleitung ernannt worden war, besprach Ebert nun die Einzelheiten der Politik gegen die sozialistischen Revolutionäre. Der Nationalrevolutionär Groener, der auf das Hohenzollern-Kaiserhaus zugunsten einer vorfaschistischen Militärdiktatur verzichten wollte, war im Hungerwinter 1917/18 als Scharfmacher gegen die Streiks in den Rüstungsbetrieben und als Durchhalte-Soldat bekannt geworden. Es kam nun zu einer faktischen Militärdiktatur, die Ebert und Groener gegen die Arbeiter- und Soldatenräte ausübten. Die Kollaboration ging so weit, daß Susanne Miller von "Gefügigkeit" der SPD-Spitze gegenüber den bisherigen Machthabern schreibt. Groener schlug vor, Ebert, Noske und Heine sollten eine sozialdemokratische Triumviratsdiktatur errichten, die sich auf die Macht der Bajonette des preußischen Militarismus stützen könne, um auf diese Weise die sozialistischen Revolutionäre im Reich und im Baltikum zu bekämpfen. Winnig wurde zum "Generalbevollmächtigten des Reiches für die Baltischen Lande" ernannt und baute hier rechtsextreme Freikorps auf, die ebenso gegen die Bolschewiki der russischen Oktoberrevolution wie gegen den Spartakusaufstand kämpften. Zum Kontaktmann zwischen der Heeresleitung und dem Rat der Volksbeauftragten - der revolutionären Übergangsregierung, der Ebert vorsaß - bestimmte der SPD-Vorsitzende den "Kriegssozialisten" Paul Lensch. Schon am 11. November 1918 war die revolutionäre preußische Staatsregierung gebildet, der Konrad Haenisch als Kultusminister und Wolfgang Heine als Justizminister angehörten. Später wurde Heine Innenminister in Preußen.  (41) 

Eberts Vertrauter Groener und sein Adjutant Kurt von Schleicher gingen noch weiter und mischten in der Szenerie mit, aus der sich dann die konterrevolutionären Putschisten des Jahres 1920 rekrutierten. Groener hatte auf Vermittlung von Friedrich Naumann am 10. November 1918 - einen Tag nach der Revolution - mit Ebert ein Geheimabkommen über die Fortsetzung des Krieges im Osten geschlossen, der die dortigen sozialistischen Revolutionen vom Baltikum bis Ungarn beenden sollte, nachdem die Arbeiter- und Soldatenräte in Berlin durch die Reichswehr entmachtet worden wären. Der Überheblichkeitswahn, Deutschland und nicht das rückständige Rußland müsse durch den Sieg im Weltkrieg den anderen die sozialistische Revolution bringen, mag die antibolschewistische Politik der SPD beflügelt haben. Ihr offener Chauvinismus und Rassismus wurde nur noch schlecht von der marxistischen Entwicklungstheorie überdeckt. Nach diesem Ebert-Groener-Plan sollte die Reichswehr mit neu zu schaffenden Freikorps im Baltikum, in Polen und Weißrußland gegen den "östlichen Bolschewismus" weiterkämpfen und auch die Provinz Posen für Deutschland zurückerobern. Der spätere Putschist Wolfgang Kapp baute für die geplante Ostfeldzugsoffensive des Frühjahrs 1919 bereits eine "Baltische Landwehr" auf, der SPD-Reichswehrminister Gustav Noske unterhielt in Berlin republikfeindliche Freikorps gegen die Arbeiter- und Soldatenräte, aus beiden rekrutierten sich später die Kapp-Putschisten des Jahres 1920 - jetzt schon mit Hakenkreuz am Stahlhelm. Winnig - bis zu seiner Beteiligung am Kapp-Putsch 1920 SPD-Mitglied - war in diese Pläne Groeners, Schleichers und Eberts eingeweiht und unterstützte sie in der Reichsregierung und der SPD um die Jahreswende 1918/19. 

Finanziert wurden die Vorhaben durch die "Antibolschewistische Liga", die von den Konzernen Stinnes, Borsig, Siemens, der Siemens-Hausbank Deutsche Bank (Georg von Siemens gründete die Deutsche Bank 1880) und anderen Industriellen als militante Front gegen die Linke gegründet worden war. Der Liga, der mit Heinrich von Gleichen ein führender Kopf der entstehenden Konservativen Revolution angehörte, standen 500 Millionen Reichsmark aus Spenden des Kapitals zur Verfügung. Zu den Liga-Finanziers zählte aber auch Friedrich Naumann, dem ein politischer Sonderfond der Industrie zur Verfügung stand. Mit den Millionen wurden sowohl die putschistischen Freikorps als auch Teile der SPD finanziert. Haenisch z. B. baute gemeinsam mit Noske und auf Eberts Geheiß hin 1919 solche studentischen Freikorps auf und nutzte dazu seine Position als preußischer Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung. Die Haenisch-Freikorps beteiligten sich dann an der Niederschlagung des Spartakusaufstandes. Zwischen legalen und illegalen Freikorps und der Reichswehr gab es nun keine klare Grenze mehr, gemeinsam kämpften sie als Nationalrevolutionäre die Linke nieder. Gegen den Spartakusbund und seine Köpfe Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zogen die Haenisch-Freikorps z. B. gemeinsam mit den Vorläufern der Kapp-Putschisten von 1920 los. 

Der eigentliche Ebert-Groener-Plan, der außenpolitisch gegen Osteuropa gerichtet war, wurde jedoch niemals ausgeführt, weil Frankreich sich dem Vorhaben widersetzte: Er hätte die sofortige Wiederbewaffnung Deutschlands bedeutet, was der Kriegssieger Frankreich in jedem Falle verhindern wollte. Letztlich entstanden aus diesem Plan und den Geldern der Industriellen hauptsächlich die putschistischen Freikorps der frühen 20er Jahre, aus denen sich Ende der 20er die Nazi-Kampfverbände, der militaristische "Stahlhelm" und die bewaffneten nationalrevolutionären Bünde um Niekisch und Jünger rekrutierten. Groener wurde für seinen Einsatz gegen die Linke bestens belohnt: 1920 Reichsverkehrsminister, 1928 - im Kabinett der Großen Koalition unter SPD-Reichskanzler Hermann Müller - Reichwehrminister, unter Heinrich Brüning 1931 zusätzlich Reichsinnenminister, um Militär- und Polizeigewalt in einer Hand zu vereinen. Die Zusammenlegung der beiden Ministerien der Exekutivgewalt war eine Idee Schleichers, um den sozialen Unruhen gegen die Politik der Massenverarmung und der Konzernsubventionen zu Beginn der 30er Jahre vorzubeugen. 

Die Nachkriegspolitik der SPD unter Reichskanzler und dann Reichspräsident Ebert, die gegen die sozialistische Revolution gerichtet war, fand ihre Wurzeln ebenfalls in der Formierungsideologie des "Kriegssozialismus". Ohne das bereits im Weltkrieg geprobte Zusammenstehen von Kapital, Arbeiterführern und Reichswehr wäre all das nicht möglich gewesen, was die Sozialdemokratie heute selbst als ihre schwersten politischen Fehler ansieht. Dennoch schickt sich die SPD mit Peter Glotz, Tilman Fichter, Wolfgang Thierse oder Peter Brandt heute an, die Fehler - unter anderen gesellschaftlichen Umständen - im Prinzip zu wiederholen. 

Damals hieß das: blutiger Einsatz von Freikorps und Reichswehr gegen den Arbeiteraufstand von Spartakusbund und KPD unter Reichswehrminister Noske 1919; Entsendung der Reichswehr - bereits durch die frühen SA-Truppen Ernst Röhms verstärkt - gegen die Münchner Räterepublik; Verbot von Streiks in lebenswichtigen Betrieben und Einsatz der Reichswehr gegen streikende Arbeiter; schließlich die blutige Politik gegen revolutionäre Arbeiter an der Ruhr ab 1920 und gegen die legalen SPD-KPD-Regierungen in Thüringen und Sachsen 1923, gegen die Ebert als "Reichsexekution" wiederum die Reichswehr marschieren ließ und die Volksfront-Regierungen kurzerhand absetzte; dann 1923, nachdem französisches Militär das Ruhrgebiet besetzt hatte, um die Reparationsleistungen zu erzwingen, die faktische Tolerierung der illegalen "Schwarzen Reichswehr" Kurt von Schleichers und das erste Ermächtigungsgesetz, mit dem der Reichstag und die junge Weimarer Verfassung ausgeschaltet wurden und die Regierung unkontrolliert Verordnungen mit Gesetzeskraft über Wirtschaft, Finanzen und Soziales erlassen konnte; folgerichtig 1923/24 die befristete Übertragung diktatorischer Vollmachten durch Ebert auf den Reichswehr-Chef und Schleicher-Förderer Hans von Seeckt, also die erneute Errichtung einer Militärdiktatur - das Kerbholz ist lang. 

Ein Konglomerat aus nationalrevolutionären SPD-Politikern, "Nationalsozialen" um den Nationalliberalen Naumann - der den Begriff "National-Sozialismus" eingeführt hatte -, aus Konservativen Revolutionären, preußisch-militaristischen Putschisten, der Reichswehr-Führung und Teilen des Großkapitals bestimmte zu Beginn der Weimarer Republik das konterrevolutionäre Geschehen und mischte am Ende schon wieder kräftig mit. Die Mörder von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg gehörten dazu, ihre Taten vollbrachten sie im Einvernehmen mit SPD-Führern. Heine verschleppte als preußischer Justizminister die Ermittlungen gegen die Mörder und verteidigte die lasche Militärgerichtsbarkeit, die sie nur milde verurteilte, gegen die Proteste aus der Partei. Er beließ als preußischer Innenminister die Militär- und Beamtenkader der Hohenzollern-Zeit in ihren Ämtern, verschleppte die Demokratisierung der Verwaltung und gehörte zu den führenden Kämpfern gegen den Versailler Friedensvertrag. Mit den Kapp-Lüttwitz-Ludendorff-Putschisten und dem Luxemburg-Mörder Major Pabst, der sich ihnen angeschlossen hatte, wollte er 1920 sogar über die Auflösung des Parlaments, die Neuwahl des Reichspräsidenten und eine Amnestie verhandeln, als die Arbeiterschaft mit einem Generalstreik aktiv gegen die Putschisten kämpfte. Nach dem Scheitern des Kapp-Putsches mußten zwar Noske und Heine ihre Ministerämter aufgeben, Winnig wurde aus der Partei gejagt. Doch ihre Formierungs-Ideologie wurde innerhalb und außerhalb der SPD fortgesponnen, ihre putschistische Politik wurde vom preußischen SPD-Ministerpräsidenten Otto Braun und anderen führenden Sozialdemokraten 1932/33 wiederaufgenommen, gemeinsam mit dem früheren "Kriegssozialismus"-Administrator Kurt von Schleicher. Über die Verbindung Ebert-Noske-Pabst schweigt die Sozialdemokratie bis in unsere Tage, statt dessen sucht sie ihre Tradition Mitte der 90er Jahre bei den nationalen Formierern von damals, zumindest teilweise. 

Ihr "Kriegssozialismus" wurde in den 20er Jahren von den Ideologen der Konservativen Revolution ausgearbeitet. Darunter waren die Hofgeismarer Jungsozialisten und ihre politischen Paten, die bis heute in der Sozialdemokratie hoch angesehen sind. Darunter waren rechtsextreme Literaten wie Otto Strasser - der es "Deutscher Sozialismus" nannte -, Oswald Spengler - der es "Preußischer Sozialismus" nannte -, Ernst Jünger, mit diesem befreundet Ernst Niekisch, Arthur Moeller van den Bruck und Heinrich von Gleichen. Moeller hatte schon 1914 die Position vertreten, Deutschland gebühre die Hegemonie in Europa, und er hatte - neben Hans Grimm, einem späteren Weggefährten Winnigs und Autor des Buches "Volk ohne Raum" - dafür während des Weltkriegs in der Auslandsabteilung der Obersten Heeresleitung als Propagandist gearbeitet - dort, wo die "Kriegssozialisten" um Ludendorff, Groener und Schleicher saßen. In Moellers und Gleichens "Klub der Jungen" (später "Juniklub") saßen Anfang der 20er neben Industriellen-Vertretern auch Winnig, Otto Strasser - damals noch SPD-Mitglied und Mitarbeiter des "Vorwärts" - und der Erfinder der "Geopolitik" Karl Haushofer, der schon im Ersten Weltkrieg Kontakte zu Otto Strasser hatte. In ihren militaristischen und organizistischen Konzeptionen beriefen sie sich z. T. offen auf Paul Lensch. Ihren Kreisen schlossen sich auch Mitarbeiter der "Sozialistischen Monatshefte" an. 

Die Übergänge der SPD-Prominenz zu rechtsextremen Formierungskonzepten des Kapitals waren immer schon fließend. 1920 wollten die Freikorps-Putschisten um Ex-General Erich Ludendorff, General von Lüttwitz und Wolfgang Kapp ein "Arbeiter-Wohlfahrtsministerium" unter Winnig und Lensch einrichten und Noske das Reichswehrministerium übertragen. Während sich Winnig nach dem Scheitern endgültig den Nationalrevolutionären und später der NSDAP zugesellte, Noske selbst in der Mehrheits-SPD zur Unperson wurde, trat Lensch in die Dienste des Stinnes-Konzerns und war bis zu seinem Tod 1926 Mitarbeiter und schließlich Chefredakteur der "Deutschen Allgemeinen Zeitung", des Organs der Schwerindustrie. Hier propagierte er die Ideen von Hugo Stinnes, der durch die Inflation und das Massenelend des Jahres 1923 zu einem der reichsten Kapitalisten Deutschlands geworden war, die Freikorps finanziert hatte und seine Geldspenden nun auch der frühen NSDAP zukommen ließ. 

Stinnes hatte ein einfaches Konzept zum Wiederaufbau der kriegszerstörten Wirtschaft gefunden, das er jedoch durch seinen frühren Tod 1924 nicht mehr realisieren konnte. Es entsprach dem, was sozialdemokratische "Kriegssozialismus"-Ideologen bereits 1915 beschrieben hatten: Zwangsarbeit. Er nannte es "arbeitsgemeinschaftliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung". Die Arbeiter sollten für die nächsten zehn bis fünfzehn Jahre täglich "wenigstens" zwei Stunden unbezahlte Mehrarbeit leisten. Zusätzlich wollte er eine Wohnungs- und Verkehrsmittelbewirtschaftung, Privatisierungen staatlicher Unternehmen, einen "schlanken Staat" durch Deregulierungen, Verringerung der Ministerien und Abbau der Verwaltung - das erscheint heute als ein sehr modernes Programm. Da er den Widerstand der Bevölkerung befürchtete, strebte er die Diktatur an und unterstützte verschiedene Putschistenkreise, besonders den des Weltkriegsgenerals Erich Ludendorff in der frühen NSDAP. Ludendorff versuchte, vom Baltikum bis nach Ungarn und Italien eine faschistische Internationale gegen die sozialistischen Revolutionen zu organisieren und war in den Hitler-Putsch vom November 1923 verwickelt. 

Der hauptsächliche Propagandist von Stinnes war Eduard Stadtler, der ursprünglich aus dem politischen Katholizismus kam, dann aber zu den engsten Verbündeten von Gustav Noske zählte, bei ihm während der Revolution ein- und ausging und direkt in die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht verwickelt war. Er war ein Ideologe des "Deutschen Sozialismus zwischen Ost und West" - wie er es nannte - und damit ein Vorläufer der Strasser- und der Niekisch-Thesen in der zweiten Hälfte der 20er Jahre. Stadtler sammelte ab 1918 die "Solidarier" um sich, die dann den Kern der Konservativen Revolution bildeten. Schon im Oktober 1918 vertrat er bis in die Formulierungen hinein ihre späteren Positionen, die inhaltlich diejenigen von Lensch und Haenisch waren: "Wir sind das am meisten zum organischen Solidarismus disponierte Volk"; "der Messias dieser neuen Weltordnung wird das deutsche Volkstum sein", das zur "heroischen Neugestaltung des deutschen Volksstaates" die "Revolutionierung der Konservativen Partei" betreibe. "Ich gehe auf eine 'jungkonservative Bewegung', auf eine 'konservativsozialistische Bewegung' los." Stadtler strebte eine "arbeitsgemeinschaftliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung" an, an deren Spitze ein "Bismarck des Sozialismus" stehen sollte, der "ihre sozialistischen Ideen verwurzeln lasse in dem Edelsten und Schönsten der deutschen und preußischen Vergangenheit". Das war die Verbindung von Lassalle und Konservativer Revolution. 

Konsequent schloß sich Stadtler ihren Vertretern um Heinrich von Gleichen und Arthur Moeller van den Bruck an und managte deren "Juniklub", hielt auch weiterhin gute Verbindungen zu Friedrich Naumann und zur Deutschen Bank und leitete daneben auch noch die "Antibolschewistische Liga" der Großkapitals. Die Sozialdemokratie hat es bis heute versäumt, die Verwicklung ihrer damaligen Führer in diese Szenerie aufzuarbeiten und sich damit - auf weiterführende, positive Weise - zur Mitschuld an der Entstehung des Faschismus in Deutschland zu bekennen. Das könnte zwar die Geschichte nicht korrigieren und auch die Morde an Luxemburg und Liebknecht nicht ungeschehen machen, vielleicht aber lehrreich für die Zukunft sein. Gerade das, so scheint es, wollen Politiker wie Glotz oder Fichter heute gerade verhindern. (42)  

Die Kontinuität dieser Formierungspolitik zeigte sich nicht nur im illegalen Bereich der Putschisten. Eine bleibende Folge des "Kriegssozialismus" war auch die staatlich gelenkte Tarifpolitik der Weimarer Republik, zu der sich die Gewerkschaften bereits im Ersten Weltkrieg bereitgefunden hatten. Sie wurde nun als staatliche Zwangsschlichtung von Tarifkonflikten fortgeführt und endete katastrophal für die Arbeiter. Hieran mag Rüdiger Altmann 1965 gedacht haben, als er die Vorläufer der Nazi-Formierungsbestrebungen in den 20er und frühen 30er Jahren würdigte. Die Schiedssprüche der Zwangsschlichter verpflichteten die Tarifparteien und sollten dem "gesamtgesellschaftlichen Interesse" folgen, das sich allerdings bisweilen nach den politischen Mehrheiten richtete, die gerade die Regierungen trugen - und damit auch nach den Konzernen, die die Parteien finanzierten und damals oft die passenden Politiker direkt aus ihrem Management bereitstellten. 1929 unterlag schon mehr als die Hälfte der Arbeitnehmer dieser staatlich gelenkten Tarifpolitik, die einen bescheidenen Wohlstand ermöglichte, solange die Konjunktur gut lief. 

Doch schon ab 1928 nahmen die Angriffe des Kapitals auf die staatliche Lohnpolitik und die öffentliche Ausgabenpolitik zu, wohl auch, weil die SPD in diesem Jahr wieder in die Reichsregierung eintrat und mit Hermann Müller den Kanzler der Großen Koalition stellte. Die damaligen Forderungen der Konservativen klingen heute modern: flexible Lohnpolitik, individuelle Gestaltung der Arbeitsverhältnisse, Verwaltungs- und Verfassungsreform gegen den angeblich aufgeblähten und kostspieligen Staatsapparat, Verringerung der öffentlichen Ausgaben, vor allem im Sozialbereich. Die preußische SPD-Staatsregierung unter Ministerpräsident Otto Braun - er hatte schon 1918/19 mit Heine und Haenisch in dieser Regierung gesessen - und mit Innenminister Carl Severing - dem preußisch-tugendhaften Nachfolger Heines - verfocht eine antiföderale, zentralistische Verfassungsreform: Auflösung Preußens und Übernahme durch das Gesamtreich, um Kosten zu sparen und die Staatsautorität zu stärken: Die preußische Polizei wäre dann in die Hand der Zentralgewalt übergegangen, die Ausgaben der dann vereinten Öffentlichen Hand wären leichter zu kürzen gewesen. 

Severing war der erste, der Ende 1928 - nun Reichsinnenminister der Großen Koalition - die staatliche Zwangsschlichtung offen gegen die Tarifforderungen der Gewerkschaften einsetzte, um die Arbeiterschaft zu disziplinieren. Vor allem den Hochtechnologie-Konzernen reichte dies bei weitem nicht. Sie forderten staatliche Aufträge und Subventionen zur Entwicklung neuer Produktlinien und den Abbau des Arbeitsrechts zur Kostenreduzierung in der Produktion ein. Der Staat konnte die Subventionen nur finanzieren, indem er den Lebensstandard der Bevölkerung drastisch senkte, die so geschwächte Arbeiterbewegung konnte sich gegen die Deregulierungen kaum mehr wehren. Um den erwarteten sozialen Unruhen vorzubeugen, setzte die Schwerindustrie auf eine Neuauflage der Ebert/Seeckt-Militärdiktatur von 1923/24; die Chemieindustrie dagegen, die mit dem IG Farben-Aufsichtsratsmitglied Paul Moldenhauer den Finanzminister der Großen Koalition stellte, setzte auf einen verfassungskonformen Frontalangriff gegen die Arbeitnehmerrechte mit Hilfe der bewährten nationalen Formierungsstrategien. In der "Interessen-Gemeinschaft Farben" hatten sich die neuen Chemieriesen zusammengeschlossen, u. a. die Badische Anilin- und Sodafabrik Ludwigshafen (BASF), die Farbwerke Hoechst und Weiher ter Meer (Bayer) Uerdingen, deren Subventionsverlangen in Konkurrenz zu denen der Schwerindustrie an der Ruhr standen. "Gründliche Finanzreform", "Ausgabenabbau", "Entlastung der Produktion", "Abbau der Gewerbesteuer" könnten "nur von der Mehrheit des Volkes von seinen Vertretern im Parlament erzwungen werden", hieß es 1930 in einem Papier des IG Farben-Lobbyisten Carl Duisberg. 

Jetzt wurde der politische Verbündete der Hightech-Konzerne, Kurt von Schleicher, wieder aktiv. In der Großen Koalition unter SPD-Kanzler Müller und Reichwehrminister Groener war er zum Chef des Ministeramtes im Reichwehrministerium aufgestiegen und hielt hier die Fäden in der Hand. Die bevorstehende Räumung des wirtschaftlich ausgelaugten Rheinlandes von den französischen Truppen, die die Reparationsleistungen abgesichert hatten, - so überlegten die alten "Kriegssozialisten" nun - sollte die Sozialdemokratie in einem patriotischen Überschwang zu einer Sozialsparpolitik um der Nation willen hinführen - man möchte es heute Aufbau West nennen - und für eine autoritäre Reichsreform begeistern, die später sogar in einen monarchisch-diktatorischen "Reichsverweser" münden sollte - Eberts alte Idee. Ab 1929 plante Schleicher die Kabinette Brüning, die 1930 bis 1932 ohne Parlamentskontrolle auf der Basis der Notverordnungen des Reichspräsidenten - Schleichers Weltkriegs-Vorgesetzten Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg - regierten. Ihre Politik wurde ab 1930 von der nun wieder oppositionellen SPD im Reichstag faktisch toleriert, vor allem auf Drängen der einflußreichsten preußischen SPD-Politiker, Ministerpräsident Otto Braun und Carl Severing - nun wieder ins preußische Innenministerium gewechselt -, die über eine stille Unterstützung Brünings auch die zentralistische Reichsreform durchsetzen wollten. 

Als Katastrophe für die Unter- und Mittelschicht wirkte sich die passive Zusammenarbeit der SPD mit den Konservativen aus, als Brüning die staatlichen Zwangsschlichtungsinstrumente ab 1931 massiv gegen die tarifvertraglichen Rechte einsetzte und mitten in der Zeit der Weltwirtschaftskrise das Lohn- und Gehaltsniveau sowie die Sozialunterstützungen drastisch senkte. Die Umverteilung der Krisenlasten auf die Arbeitnehmer sollte die deutsche Wirtschaft international konkurrenzfähig machen. Diese staatsinterventionistische Haushaltskonsolidierungspolitik zugunsten enormer Konzernsubventionen, von denen zu dieser Zeit vor allem die exportorientierten Hochtechnologie-Konzerne profitierten, wollte Deutschland zum Billiglohnland degradieren, um die Industriestandorte zu sichern. 

Die Gewerkschaften, durch Massenarbeitslosigkeit und die Gemeinschaftsideologie aus der Kriegszeit geschwächt, wehrten sich nicht einmal, als im Jahr 1931 die Löhne und Gehälter durch staatlich erzwungene Senkung der Tariflöhne und den Abbau übertariflicher Zahlungen um bis zu 25 Prozent fielen - bei gleichzeitigem Abbau der Sozialleistungen. 1932 wurde es dann durch weitere Staatseingriffe ermöglicht, selbst die gesenkten Tarifleistungen noch zu unterschreiten. Die SPD protestierte nun, doch diese Politik war nur die konsequente Anwendung der Formierungsinstrumente, die sie selbst dem Kapitalismus geschaffen hatte. 

Das "Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit" von 1934 war dann endgültig die "Grundsteinlegung für den Neuaufbau der gesamten nationalen Arbeitsordnung zur Verwirklichung des nationalen Sozialismus und damit der Volksgemeinschaft schlechthin", wie ein nationalsozialistischer Ideologe schrieb. Der Unternehmer als "Führer des Betriebs" hatte nun wieder quasi-militärische Befehlsgewalten und bestimmte die gesamte Betriebsordnung bis zur Lohnfestsetzung. Für die Arbeitnehmer setzte das Gesetz die "Gehorsamspflicht der Gefolgschaft" fest. Das bisherige Lohntarifsystem wurde abgeschafft. In der Funktion einer staatlichen Behörde oblag den "Treuhändern der Arbeit" - einzelnen verdienten Nationalsozialisten, früheren Freikorps-Kämpfern und ehemaligen Unternehmerverbandsfunktionären - die Aufsicht darüber, daß die Einzelunternehmer sich an die politischen Ziele des NS-Staates hielten. Die "Treuhänder" konnten die einzelnen Tarif- und Betriebsordnungen nach Maßgabe des Reichsarbeitsministeriums erlassen und Mindest- und Höchstlöhne festsetzen, was zu untertariflichen Bezahlungen, Arbeitszeiten (Mehrarbeit, Arbeitsdienst) und Arbeitsbedingungen (z. B. höhere Leistungsintensitäten, Beschränkung der freien Arbeitsplatzwahl) vor allem bei den nun massenhaft eingestellten früheren Arbeitslosen führte. 

Die Nazis mußten dies mit Terror gegen die politisch bewußte Linke durchsetzen, doch der Großteil der Arbeiterschaft war durch die jahrzehntelange Formierungspolitik aus den eigenen Reihen bereits an solche Konzepte gewöhnt und akzeptierte sie ohne Widerstand. Den 30. Januar 1933 - als Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde - erlebten die Zeitgenossen nicht als den dramatischen Umbruch, als der das Datum heute gilt. 

Die Einzelunternehmen unterlagen nun - wieder - der Regie des Großkapitals, das die Wirtschaftspolitik der Reichsregierung Hitler weitgehend dirigierte. Neben der Aufrüstung war sein Ziel in den 30er Jahren die Modernisierung der Elektro-, Chemie- und Verkehrsindustrie, um die Möglichkeiten der Kapitalverwertung zu effektivieren. Auf dem Weltmarkt hatten sich bereits die Konkurrenten anderer Nationen mit neuen Produkten durchgesetzt. Die Nazi-Wirtschaftspolitik sollte den Konzernen durch massive Subventionen und durch Sozialabbau verspätete Startchancen in dieser Konkurrenz verschaffen. Die Kriegsplanungen wurden dann forciert, als sich trotz allem die wirtschaftlichen Erfolge in freier Konkurrenz nicht einstellten. In der "Wehrwirtschaft" des Nationalsozialismus fand der "Kriegssozialismus" des Ersten Weltkriegs seine Entwicklungsspitze mit Zwangsarbeitsverpflichtungen bisher nicht berufstätiger deutscher Frauen und dem massiven Einsatz ausländischer Arbeiterinnen und Arbeiter als Sklaven, wie es sozialdemokratische Politiker schon im Ersten Weltkrieg gefordert hatten. Die privatwirtschaftliche Übernahme der Industriekapazitäten Osteuropas durch die deutschen Konzerne nach einem Sieg der Nazi-Wehrmacht wurde bereits geplant. 

Die Formierungserfahrungen der Unterschicht seit 1914 waren jetzt nutzbar: "Statt eines kunstvollen Apparates zur Erzielung von Profit wird nunmehr der Betrieb eine Gemeinschaft von Volksgenossen, die sich zur Erreichung eines besonderen, sachlichen Zieles in einem Betrieb zusammengeschlossen haben", so formulierte ein NS-Arbeitsideologe 1935 das Konzept des "Kriegssozialismus" neu aus. "Auch in diesem Betrieb muß ein Führer sein, der das Ganze verantwortlich leitet. Aber diejenigen, die ihm bei der Arbeit helfen, sind keine Lohnsklaven, die man beliebig kaufen und wieder abstoßen kann, sondern Volksgenossen, die für ein Werk im Dienste der Volksgemeinschaft schaffen." Dies waren verbale Konzessionen an den Strasser-Flügel des Faschismus, hinter denen in Wahrheit jedoch das Lohndiktat der Konzerne stand.  (43) 

Das rechtssozialdemokratische Formierungskonzept des "Kriegssozialismus" bildete bereits in den Krisenjahren 1932/33 die Basis für etliche politische Einigungsversuche, die Kurt von Schleicher mit der Hitler-oppositionellen Linie des Faschismus, den militaristischen Nationalrevolutionären innerhalb und außerhalb der NSDAP und Teilen der Gewerkschaften und der SPD plante. Schleicher war nach seiner Bewährung als Organisator des "Kriegsszialismus" in den 20er Jahren von Groener und Seeckt gefördert worden. Er baute im dramatischen Jahr 1923 die illegale "Schwarze Reichswehr" mit auf, die aus dunklen Kapitalquellen finanziert wurde, zog ab 1926 faktisch die Führung der Reichswehr an sich, hatte maßgeblichen Einfluß auf Eberts Nachfolger als Reichspräsidenten, den greisen Hindenburg, und wurde schließlich 1932 Reichswehrminister und dann Reichskanzler. 

Er plante auch den Staatstreichs vom 20. Juli 1932 gegen die preußische SPD-Staatsregierung unter Ministerpräsident Otto Braun, den Reichskanzler Papen ausführte und vor dem die SPD kampflos kapitulierte. Die Sozialdemokratie verlor hierbei ihre letzte staatliche Bastion. Dieser "Preußenschlag" erfolgte nach demselben Verfassungsartikel, mit dem Ebert neun Jahre vorher die "Reichsexekution" gegen die Volksfront-Regierungen in Thüringen und Sachsen betrieben hatte. Den SPD-Politikern Braun und Severing kam der Putsch gar nicht so ungelegen, verfolgten sie doch selbst das Ziel, Preußen und seine Polizeigewalt und Finanzhoheit in den Spar- und Krisenzeiten dem Reich zu unterstellen. Ohne das starke Preußen, in dem auf vielen staatlichen Ebenen linke Sozialdemokraten und Gewerkschafter beherzt gegen das Krisenelend kämpften, war die Subventions- und Sozialabbau-Politik leichter durchzusetzen. Gemeinsam mit dem "Vorwärts"-Chef Friedrich Stampfer und dem faschistoiden selbsternannten "Führer" des sozialdemokratisch-republikanischen Kampfverbandes "Das Reichsbanner", Karl Höltermann, verhinderten sie bewußt und geplant eine breite Gegenwehr gegen den Schleicher/Papen-Coup. 1914 hatte Stampfer noch vor "kosakischen Bestialitäten" gegen deutsche Frauen gewarnt und deshalb zum Krieg aufgerufen; 1932 jedoch, als es gegen den Putsch von rechts hätte gehen sollen, meinte er, es sei noch nie die Sache eines guten Sozialdemokraten gewesen, andere sterben zu lassen, um selbst als Held gefeiert zu werden. 

Schleicher setzte 1932/33 seine Hoffnung auf die bisherige Tolerierungspolitik der Sozialdemokratie gegenüber der Hochtechnologie-Subventions- und Sozialabbau-Politik Brünings und auf die willigen Notverordnungen des Reichspräsidenten. So wollte er sich selbst eine "Querfront" im Reichstag zimmern - so Schleichers Begriff -, die von den sozialdemokratischen Formierern bis zum Strasser-Flügel der Nazis reichen und bis auf weiteres einfach nur stillhalten sollte. Die revolutionäre Linke wollte er verbieten. Seine eigene Kanzlerschaft, die in eine erneute nationale und sozialismusdemagogische Militärdiktatur münden sollte, wollte Schleicher auch außerparlamentarisch mit Hilfe des rechten Gewerkschaftsflügels, der faschistischen wie der sozialdemokratischen Milizen und Kampfverbände - von der SA bis zum "Reichsbanner" - sowie den intellektuellen der Konservativen Revolution durchsetzen. Mit einer Reichswehrreform wollte er vor allem die paramilitärischen Truppen der Parteien in die Armee eingliedern, um sie für eine aggressive Außenpolitik zu nutzen. 

Schleicher umwarb den Strasser-Flügel der NSDAP, die Nationalrevolutionäre um Ernst Jünger, Karl Otto Paetel und Ernst Niekisch, den rechten Gewerkschaftsflügel mit dem Vorsitzenden des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB), Theodor Leipart, sowie militaristische Kreise in der SPD, vor allem um Gustav Noske, der sogar bereit war, persönlich ein Ministeramt unter einem Reichskanzler Schleicher anzunehmen. Sein Förderer, reichswehr- und Reichsinnenminister Groener, schrieb schon 1931 an den Konservativen Revolutionär von Gleichen: "Wir wollen die Nazis einfangen, aber die Sozis nicht in die Opposition drängen." Programmatische Vorlagen bekam Schleicher vor allem vom Kreis um die Zeitung "Die Tat" und deren Köpfe Hans Zehrer - nach 1945 arbeitete er als Journalist bei dem Springer-Blatt "Die Welt" - und Giselher Wirsing - dessen damaliges Europa-Konzept verficht heute Peter Glotz. Der Kreis um "Die Tat" war einer der wichtigsten Braintrusts der Konservativen Revolution, zu dem sich auch Otto Strasser bekannte, der Hitler-oppositionelle Propagandist eines "Deutschen Sozialismus" als Fortsetzung des "Kriegssozialismus". 

Die Spitze des ADGB war schnell bereit, mit dem Strasser-Flügel der NSDAP und den Nationalrevolutionären zusammenzugehen, Teile der SPD-Reichtagsfraktion unterstützten de facto Schleichers Politik. Verhandlungen zwischen Schleicher und honorigen Sozialdemokraten wie Paul Löbe - langjähriger Reichstagspräsident und später der erste Alterspräsident des Bundestages - oder Braun, Leipart und Höltermann wechselten sich in den Monaten Dezember 1932 und Januar 1933 mit Parteivorstandssitzungen ab, auf denen dieselben Sozialdemokraten die "Querfront" intern berieten. Der gerade erst rechtswidrig abgesetzte preußische SPD-Ministerpräsident Braun verhandelte sogar mit Schleicher über eine geteilte Diktatur, die er selbst gemeinsam mit dem Putschisten-General anführen wollte, wie es Ebert und Seeckt 1923/24 vorgemacht hatten. Dazu sollten Reichstag und Preußischer Landtag aufgelöst und erst einmal - unter Bruch der Verfassung - nicht wiedergewählt werden. Statt die Massen gegen die drohende Diktatur zu mobilisieren, sponn Braun so an seinen alten Plänen zur Gleichschaltung Preußens mit dem Reich. "Reichsbanner"-Chef Höltermann war sogar bereit, den sozialdemokratischen Kampfverband in Schleichers Armeereform- und Wehrerziehungspläne und dessen neues "Reichskuratorium für Jugendertüchtigung" einzugliedern und wurde darin von Braun unterstützt; Schleicher wollte so eine völlig neuartige Struktur für die Reichswehr durchsetzen und orientierte sich dabei an den Freikorps der Jahre 1918-20. 

Schleicher verfolgte mehr noch als Brüning die Ziele der neuen Wachstums- und Exportindustrien, die sich bereits 1929 den "Mitteleuropäischen Wirtschaftstag" geschaffen hatten, um einen integrierten europäischen Großwirtschaftsraum durchzusetzen. Dieses Ziel, um das schon der Erste Weltkrieg ausgefochten worden war, faßte Carl Duisberg - ein persönlicher Freund des Generals und Reichswehrministers Wilhelm Groener - nun in die Formel: "Ein geschlossener Wirtschaftsblock von Bordeaux bis Odessa wird Europa das Rückgrad geben, dessen es zur Behauptung in der Welt bedarf." Doch man wollte dies jetzt erreichen, indem man den Außenhandel über einen Ausgleich mit Frankreich und über eigene Standortvorteile durch Deregulierung im Innern belebte. Die chemische Industrie forderte z. B. 1932 in einer Denkschrift Zwangsarbeitsdienste für Arbeitslose beim Ausbau des Auto- und Schiffahrts-Straßennetzes, was nicht nur den Verbrauch von Treibstoffen anheizen, sondern vor allem den Einstieg in die lang ersehnten, tarifvertragsfreien und daher Lohnkosten sparenden Zwangsverpflichtungen der Arbeitnehmer verschaffen sollte. 

Der Stahlindustrielle Otto Wolff - Schleichers engster Berater -, der Elektrokonzern AEG, die Chemiemultis der IG Farben und die Deutsche Bank setzten auf Profite durch den wachsenden Osteuropa-Ex- und Import, der die dortigen Märkte öffnen und Zugang zum kaukasischen Erdöl verschaffen sollte, ein altes deutsches Politik- und Kriegsziel seit der Jahrhundertwende. Diese Konzerne förderten eine Zeitlang die entsprechende Außen- und Innenpolitik Brünings und Schleichers. Ihre Frankreich-Politik sollte in einem Bündnis mit dem bisherigen Erbfeind münden und den gemeinsamen europäischen Markt als Kerneuropa verwirklichen. Vom Balkan und vom Baltikum her sollte dann die Sowjetunion noch einmal in die Zange genommen und niedergerungen werden, um Osteuropa für die Verwertungsinteressen des deutsch geführten europäischen Kapitals zu reservieren, gegen das nordamerikanische Kapital, das seit dem Weltkrieg nach Europa drängte. 

Der IG Farben-Funktionär Duisberg gehörte zu denen, die schon früh auf die Nationalrevolutionäre setzten und zur Sammlung einer konservativ-revolutionären Bewegung über die Parteigrenzen hinweg bliesen. Etwas mit dem heutigen Berlusconi-Bündnis Vergleichbares war jedoch nicht zu erreichen, weil die hergebrachten Parteien nicht zerrüttet genug waren. Schleicher brauchte für die antisozialen Modernisierungen eine breite Massenbasis. Die Klammer des breiten Bündnisses aus verschiedenen Parteien sollte die gewerkschaftliche Orientierung und Verankerung von bestimmten Politikern und Flügeln sein. Er nahm in seiner Kanzlerschaft von Dezember 1932 bis Januar 1933 sogar antisoziale tarifpolitische Maßnahmen seines Vorgängers Papen zurück, um den rechten Gewerkschaftsflügel hinter sich und die Hochtechnologie-Konzerne zu bringen. Nationalisten in der SPD wie Stampfer versprachen sich von Schleichers neuer Arbeitsmarktpolitik ein Zurückdrängen der KPD, deren Wahlerfolge und wachsende Attraktivität unter den Millionen Arbeitslosen zu einer reellen Gefahr für die SPD geworden waren. Daß es die Zwangsarbeitspolitik der Großkonzerne war, störte sie nicht. Schleicher ging auch sogleich daran, die staatlichen Instrumente zur Wirtschaftslenkung zu modernisieren, die Kooperation zwischen Kapital, Gewerkschaften und Staat zu institutionalisieren sowie den Einsatz wissenschaftlicher und technologischer Erkenntnisse in der Produktion zu beschleunigen. 

Doch seine Kanzlerschaft war zu kurz, um die Perspektive auf eine militaristische, antisoziale und antiliberale Republik ohne parlamentarische Kontrolle zu eröffnen, die auf die Interessen der Wachtumsindustrien - Elektro-, Chemie- und Verkehrskonzerne - formiert hätte sein sollen. Um ihre Entwicklungsprojekte - Massenproduktion des synthetischen Benzins und Gummis, Aufbau einer Auto- und Straßenbauindustrie, erste Phase der Medienindustrie - zu subventionieren und die Kapitalverwertungsmöglichkeiten durch Offensiven des Exports und des Sozialabbaus zu verbessern, hatten sich die Konzerne bereits mit Hitler, Göring und Himmler auf die große Lösung verständigt. In der internationalen Konkurrenz glaubten sie besser bestehen zu können, wenn sie die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften nicht umarmten, sondern gemeinsam mit den Kommunisten und sonstigen Linken durch Terror physisch ausschalteten und so den Weg zu Standortvorteilen durch extremen Sozialabbau freimachten. Der "Querfront"-willige NSDAP-Flügel unterlag nun innerparteilich der Hitler-Linie: Gregor Strasser (dem Chemiekonzern Schering wirtschaftlich verbunden; sein Bruder Otto - ebenfalls bei Schering - war bereits im Ausland) und Ernst Graf von Reventlow (den Religiös-Völkischen entstammend und ebenfalls "deutsch-sozialistisch" orientiert, am Kapp-Putsch beteiligt, ein Anhänger auch von Naumanns Mitteleuropa-Konzept und Autor in Niekischs Zeitschrift "Widerstand") wurden entmachtet. 

Die Neuauflage der "Zwischenfront" von 1918/19 - so der ältere Begriff aus der "Vereinigung parteifreie Politik", in der sich 1919 Reichswehr-Offiziere um Schleicher, Freikorps-Leute, Mitglieder der "Antibolschewistischen Liga" und Mitarbeiter der "Sozialistischen Monatshefte" unter dem Vorsitz des Stinnes-Multifunktionärs Stadtler trafen - in der "Querfront" 1932 hatte auch deshalb keinen Erfolg, weil die SPD-Spitze um Otto Wels nicht mitzog. Anders als in den ersten Tagen der Weimarer Republik, als Wels Polizeipräsident von Berlin war und Reichwehrtruppen gemeinsam mit Nationalrevolutionären und Freikorps gegen die sozialistischen Arbeiter einsetzte, wobei schon Anfang Dezember 1918 in Berlin sechzehn Revolutionäre erschossen worden waren, sträubte sich Wels - inzwischen SPD-Vorsitzender - am Ende der Republik, dieses Bündnis noch einmal einzugehen. Der Mehrheit der SPD war die "Querfront" nun nicht mehr geheuer. Die Erfahrungen der frühen 20er hatten gezeigt, daß die Arbeiterschaft von den konservativen Generalen und Intellektuellen nur benutzt worden war, um die Interessen des Kapitals durchzusetzen, während die Unterschicht in der Inflation verarmte. Zu stark waren die Erinnerungen daran, daß dieses seltsame Bündnis nur zehn Jahre vorher gänzlich außer Kontrolle geraten war, als daß die rechten Sozialdemokraten es nun erneut innerparteilich hätten durchsetzen können. Das hindert jedoch sechzig Jahre später Peter Glotz und Tilman Fichter nicht, auf die "Querfront" als positives Beispiel zurückzugreifen. (44) 

Die Perspektive auf die nötigen Reichstagsmehrheiten war im Januar 1933 dahin. Schleicher stürzte als Reichskanzler. Mit seinem Sturz hatten auch die Nationalrevolutionäre in der Sozialdemokratie, die mit ihm sympathisierten, erst einmal ausgespielt. Otto Wels und mehr noch die Gruppe um Paul Löbe glaubten nun zunächst, mit der seriös erscheindenden, legalistisch auftretenden Hitler-Fraktion besser auszukommen als mit denen, die eine "Querfront" von Teilen des Großkapitals bis zu Teilen der Gewerkschaften ziehen wollten und denen das Image der Parforce-Reiter, Hasardeure und intellektuellen Spinner anhing. 

Nachdem die Reichskanzlerschaft auf Adolf Hitler übertragen worden war, verzichteten die freien Gewerkschaften auf Gegenwehr, wollten sich vielmehr dem "neuen Staat" loyal anpassen. Der ADGB bekannte sich am 21. März 1933 noch einmal ausdrücklich zu den bisherigen Formierungsbestrebungen und wollte damit seine nationale Zuverlässigkeit unter Beweis stellen: "Durch die Anerkennung und Inanspruchnahme des staatlichen Schlichtungswesens haben die Gewerkschaften gezeigt, daß sie das Recht des Staates anerkennen, in die Auseinandersetzungen zwischen organisierter Arbeiterschaft und Unternehmertum einzugreifen, wenn das Allgemeininteresse es erforderlich macht." Die "Gewerkschafts-Zeitung" des ADGB ging im April 1933 noch weiter: "Die willige Mitarbeit der Arbeiterschaft aber ist die elementarste Voraussetzung für den nationalen Aufbau." Sie knüpfte direkt an den "Kriegssozialismus" als Vorbild an: "Die Tage vom August 1914, die jetzt so oft gefeiert werden als Gedenktage der nationalen Einheit, drängen sich wiederum zum Vergleich auf. Damals erfolgte die Ordnung des Verhältnisses zwischen Staat und Arbeiterschaft Zug um Zug: am Tage nach der deutschen Kriegserklärung an Rußland, am 2. August 1914, wurden durch Beschluß der Verbandsvorstände alle Lohnkämpfe eingestellt. ... Damals erzwang die Situation rasches entschlossenes Handeln. Ist dieser Zwang heute weniger geboten, weil wir von keinem äußeren Feind unmittelbar bedroht werden?" 

Die "Gewerkschafts-Zeitung" biederte sich der Hitler-Regierung förmlich an: "Glaubt die Regierung bei den innerpolitischen Aufgaben die Hilfe der Arbeiterschaft entbehren zu können? Erklärungen der Gewerkschaften aller Richtungen über ihre Stellung zu der neuen Lage liegen vor. Sie bedeuten nicht nur für die Führer ein Opfer von Idealen. Gerade in den breiten Massen der Arbeiterschaft lebt eine starke traditionelle Bindung an humanistische Ideale: Völkerfrieden, Menschheitsglaube, Überwindung der nationalen und rassischen Grenzen. Wenn manches hiervon der brutalen Not der Wirklichkeit nicht standgehalten hat, so muß entschlossen die Konsequenz gezogen und die Wendung vollzogen werden." 

Die Wende wurde am 1. Mai 1933 vollzogen, als der ADGB gemeinsam mit den Nazis den vormals internationalen Kampftag zum "Feiertag der nationalen Arbeit" erklärte, dazu aufrief, "sich allerorts an der von der Regierung veranlaßten Feier festlich zu beteiligen" und darauf pochte, die Arbeiterbewegung habe immer schon "den hohen Gedanken der gegenseitigen Hilfe durch Erziehung zu Standesbewußtsein, Gemeinschaftswillen und Kameradschaftsgeist unermüdlich zu wecken" verstanden. 

Ebenso schlimm sah es in der SPD aus, in der die antiliberalen Positionen über das Erbe der sozialistischen Bewegung gesiegt hatten. Wels bekannte sich in seiner Rede gegen das erneute Ermächtigungsgesetz am 23. März 1933 ausdrücklich zu Gemeinsamkeiten mit der Hitler-Regierung: "Der außenpolitischen Forderung deutscher Gleichberechtigung, die der Herr Reichkanzler erhoben hat, stimmen wir Sozialdemokraten um so nachdrücklicher zu, als wir sie bereits von jeher grundsätzlich verfochten haben. Ich darf mir wohl in diesem Zusammenhang die persönliche Bemerkung gestatten, daß ich als erster Deutscher vor einem internationalen Forum, auf der Berner Konferenz am 3. Februar 1919, der Unwahrheit von der Schuld Deutschlands am Ausbruch des Weltkrieges entgegengetreten bin. ... Der Herr Reichskanzler hat auch vorgestern in Potsdam einen Satz gesprochen, den wir unterschreiben. Er lautet: 'Aus dem Aberwitz der Theorie von ewigen Siegern und Besiegten kam der Wahnwitz der Reparationen und in der Folge die Katastrophe der Weltwirtschaft.'" 

Solche Sätze des SPD-Parteivorsitzenden sollen sechzig Jahre später vergessen bleiben, die offizielle Parteigeschichtsschreibung geht nicht auf sie ein. 1988 fehlte diese Passage ganz, als Susanne Miller und Heinrich Potthoff in dem weit verbreiteten Buch "Kleine Geschichte der SPD" die Wels-Rede abdruckten. Der Rede des Parteivorsitzenden folgte am 17. Mai 1933 die Zustimmung der fast halbierten SPD-Reichstagsfraktion zur außenpolitischen Erklärung der Hitler-Regierung, die dem Ausland beweisen sollte, daß der Reichstag einstimmig hinter der angeblichen Friedenspolitik des neuen, nationalen Deutschland stehe - besiegelt durch das gemeinsame Absingen von "Deutschland, Deutschland über alles!" Wels, Stampfer und vier weitere Prominente der Partei reisten ins Ausland, um die Kritik der sozialdemokratischen Schwesterparteien am faschistischen Deutschland zu dämpfen. 

Schlimmer noch war die Stimmung an der Basis. Der Sprecher der SPD-Fraktion im bayrischen Landtag gab im April 1933 kund, die SPD sehe es "als ihre Aufgabe, die Regierungsarbeit nicht durch kleinliche Nörgelei zu erschweren, sondern pflichtbewußt wie bisher mitzuarbeiten". Am 10. Mai, dem Tag der Beschlagnahme des SPD-Parteivermögens, rief der SPD-Landesvorstand Württemberg die Kommunalmandatsträger der Partei auf, "ihre Tätigkeit in einem Sinne auszuüben, der weder einen Zweifel an ihrer nationalen Gesinnung noch an dem guten Willen zulasse, die politische Neubildung Deutschlands nach den Plänen der nationalen Revolution zu unterstützen." In Hamburg, Kiel und München gingen SPD-Kommunalpolitiker mit den NSDAP-Fraktionen zusammen oder bildeten - in Anlehnung an die Strasser-Fraktion - Gruppierungen der "Deutschen Sozialisten". 

Hier lag nicht nur der Versuch vor, die eigene Organisation zu retten, wie die heutige sozialdemokratische Parteigeschichtsschreibung zum Verhalten von 1914 und 1933 Glauben machen will. Vielmehr führten gemeinsame Überzeugungen im Nationalismus, Kolonialismus, Rassismus und der Gesellschaftsformierung zu dieser Politik. Die Nationalrevolutionäre in der SPD seit Lassalle hatten ihr Werk getan. Otto Strasser bastelte im Exil schon an einer Regierung der Nach-Hitler-Zeit, der die sozialdemokratischen Politiker Wenzel Jaksch (Sudetenland, ein Freund Strassers und wichtigster Vertriebenenpolitiker der SPD nach 1945, der unter dem Einfluß von Strassers "Deutschem Sozialismus" stand), Wilhelm Sollmann (SPD-Vorsitzender von Köln) und Karl Höltermann ("Führer" des "Reichsbanner", das in den frühen 30ern faschistoide Züge entwickelte) angehören sollten. Bis in die 80er Jahre hinein wirkten die Verbindungen Strassers zur SPD der 20er und frühen 30er Jahre in der Sozialdemokratie nach, als z. B. der verstorbene Redakteur der Zeitschrift "Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte", Rainer Diehl, Otto Strasser in Schutz nahm. (45)  

Es liegt wohl vor allem am unseligen Einfluß der stalinistischen Faschismus-Forschung, daß das Formierungskonzept des "Kriegssozialismus" und seine Fortsetzungen in der Konservativen Revolution und im Nationalbolschewismus als Vorläufer des Faschismus kaum zur Kenntnis genommen wurde. Doch der Beitrag des Lensch-Kreises zur Entstehung des Faschismus als Weltanschauung und als Überbau für die Modernisierung der Kapitalverwertungsmöglichkeiten dürfte ebenso groß gewesen sein wie der des Grafen Gobinau und dessen Rassismus. 

Es sei an die Ausführungen von Opitz 1965 erinnert, nach denen das deutscheuropäische Kapital keineswegs eine Wiederkehr des historisch überholten Faschismus gebrauchen könne. Ebensowenig ist an eine platte Wiederkehr der Burgfrieden-Politik des Ersten Weltkriegs und seiner ideologischen und sozialpolitischen Folgen zu denken. Daran dachte auch Armin Mohler 1950 schon nicht mehr, als er die weltanschaulichen Bruchstücke dieser Politiken zur Konservativen Revolution zusammenfügte. So, wie die "Neue Rechte" in den 70er und 80er Jahren den Faschismus als Weltanschauung reformierte und an die gewandelten gesellschaftlichen Verhältnisse anpaßte, so werden heute Positionen der Nationalrevolutionäre aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts für "moderne" SPD-Politik reformiert und reaktiviert. Alter Staub wird abgeklopft, zeittypische antiquierte Formulierungen entfernt. Übrig bleiben aufpolierte Herrschaftsstrategien, denen man allerdings ihre Herkunft noch anmerkt. 

"Sozialpatriotismus" der 90er Jahre 

"Jene gesellschaftliche Grundströmung, die soziale Konflikterfahrungen national ausdeutet und für die die eigenen sozialen Interessen mit den 'nationalen Interessen der Wohlstandsinsel Deutschland' eng verbunden sind, finden im 'Sozialpatriotismus' immer stärker einen politischen Arm in der SPD. Die zentralen Botschaften des sozialdemokratischen Europawahlkampfes 'Arbeit, Arbeit, Arbeit', 'Deutsche Interessen besser vertreten', 'Sicherheit statt Angst' und 'Die Mafia zerschlagen' lagen voll auf der Linie dieses gesellschaftlichen Diskurses. Hinzu trat das Gerede vom 'europäischen Zahlmeister Deutschland' durch Lafontaine und Scharping." Diese Äußerung des Juso-Bundesvorsitzenden Thomas Westphal vom Juli 1994 zielte zwar gegen die wieder aktuelle Debatte in der SPD, die heute die Argumente aus der Zeit des Ersten Weltkriegs und des deutschen Kolonialismus recycelt hat. Westphal läßt jedoch außer Acht, daß diese Debatte damals wie heute rein demagogischen Charakter hat, denn auch durch die damalige Politik des Kapitals, die von der Sozialdemokratie unterstützt wurde, entwickelte sich Deutschland keineswegs zu einer wirklichen Wohlstandsinsel für die Mehrheit der Bevölkerung, im Gegenteil. Das Gerede von der Wahrung nationaler Interessen führte zu drastischer Massenverarmung, die nicht etwa ihre Ursachen im Versailler Friedensvertrag hatte, sondern in der Formierungspolitik auf die Kapitalinteressen. Wer den Begriff des "Sozialpatriotismus" derart verwendet, hilft mit zu verschleiern, daß es nicht um den Erhalt einer vermeintlichen Wohlstandsinsel auf Kosten der übrigen Welt geht, sondern um die Vergrößerung der Profite der Kapitaleigner im Rahmen der Triadenkonkurrenz auch auf Kosten der Mehrheit der einheimischen Bevölkerung. Die in der SPD heute hegemoniale Politik des "Sozialpatriotismus" hat beides zur Folge: die drastische Verelendung der "Dritten Welt" und der ihr inzwischen zugehörenden osteuropäischen Staaten und die relative Verarmung der Mehrheiten in den drei hochentwickelten Industrieregionen. 

Das Ziel, mit Hilfe nationaler Solidaritätsduselei Sozialabbau in ganz Deutschland zu verbrämen, lassen heutige Spitzenpolitiker der SPD keineswegs im Dunkeln. Lafontaine erklärte im September 1993 vor der Friedrich-Ebert-Stiftung: "Es ist jetzt an der Zeit zu sagen: Wir tragen alle gemeinsam zur Bewältigung der Probleme bei. Die Menschen im Westen dadurch, daß sie ein Absinken der Realeinkommen in Kauf nehmen - und das ist der Fall -, und die Menschen im Osten dadurch, daß sie einen moderaten Anstieg ihrer Realeinkommen akzeptieren." Lafontaine, der sich in der antinationalen Attitüde gefällt und die französische Abstammung seiner Familie hierbei ins Feld führt, überläßt die Deutschtümelei seinen Freunden. "Für Fotografen turteln die beiden wie frisch Verlobte", schrieb "Der Spiegel" im August 1994 über "Oskars" Wahlhilfe für Antje Vollmer in deren Bundestagswahlkreis Kassel. Man sei sich politisch einig. Vollmer gehörte in den 80ern zur Riege der stramm Nationalen bei den Grünen, die die Wiedervereinigung Deutschlands verfochten, als kaum jemand daran glaubte. Neben Lafontaine wurde Vollmers Versuch, der SPD den Kasseler Bundestagswahlkreis abzujagen, auch unterstützt von Prominenten wie dem rechten Ideologen Peter Sloterdijk - zeitweise auch ein Liebling von Glotz -, dem früher offen faschistischen, heutigen New Age- und Elite-Ideologen Carl Friedrich von Weizsäcker oder dem romatizistischen SPD-Haussoziologen Ulrich Beck, der in der Zeitung "Die Welt" über den Zerfall der Familie klagte und die wachsenden Scheidungsraten dafür verantwortlich machte, daß "Die Republikaner" wachsende Stimmenanteile errangen. 

Im März 1994 schrieb Lothar Probst in der Zeitschrift "Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte" über die "Krise der Demokratie und Suche nach nationaler Identität". Er meinte, "das Erfolgsmodell des prosperierenden Wohlfahrtsstaates ... hat Schlagseite bekommen", weil "nicht nur Menschen in sozialen Notlagen, sondern soziale Gruppen auf allen Einkommensebenen ... sich aus den Töpfen des Wohlfahrtsstaates reichlich bedient" hätten. Weil dies in Zukunft nicht mehr finanzierbar sei, müsse "nationale Identität" her, da sonst "Demokratieverdrossenheit" drohe: "Die mangelnde affektive Bindungskraft von Marktwirtschaft und Demokratie in ausdifferenzierten und fragmentierten Massengesellschaften erweist sich insofern als eine strukturelle Schwäche des demokratischen Projekts." Probst ließ in der Zeitschrift, die Glotz als Chef redigiert, keinen Zweifel aufkommen: "Die u. a. im Rahmen des Einigungsprozesses notwendigen Einschnitte in die bisherige Leistungstruktur des Sozialstaates sind deshalb insbesondere für die Ostdeutschen eine bittere Erfahrung und ständige Quelle der Unzufriedenheit. Ihr Ruf nach dem Nationalstaat ist vor allem ein Ruf nach der Solidargemeinschaft, die zum Teilen bereit ist." 

Der damalige Berliner Jugendsenator und jetzige SPD-Bundestagsabgeordnete Thomas Krüger brachte das Problem im Dezember 1993 in der SPD-Zeitung "Berliner Stimme" auf den Punkt. In der Debatte um den Nationalrevolutionär Tilman Fichter und dessen Buch "Die SPD und die Nation" stellte sich Krüger auf Fichters Seite und erklärte unter der Überschrift "Nation steht auf der Tagesordnung" in aller Offenheit: "In einem klaren Bekenntnis zur Einheit der Nation besteht die unabdingbare Voraussetzung für tatsächliche Solidarität zwischen West und Ost. Warum sollte die Verkäuferin aus München solidarisch mit einer ihr unbekannten Lehrerin aus Dresden sein? Wie erklärt man dem Kumpel aus dem Ruhrpott, daß er eine Solidaritätsabgabe für Ostdeutschland zahlen soll und wie bewegt man die Arbeiter aus Brandenburg zur Unterstützung ihrer Kollegen in Niedersachsen?" Es sei Fichters Verdienst, den Begriff der deutschen Nation für die Politik der SPD gerettet zu haben, gegen den "kollektiven Selbsthaß der 'Linken'". 

Fichter selbst sagte im März 1994 in der "taz": "Wenn die Arbeiter von Wuppertal in den kommenden Jahren auf zehn Prozent ihres Einkommens verzichten sollen, um Ostdeutschland zu reindustrialisieren, dann hat das mit der nationalen Frage etwas zu tun." Deshalb also sind Nationalrevolutionäre in der SPD heute so wichtig: Wenn nicht mehr die Frage gestellt wird, wer am Vereinigungsprozeß Milliarden verdiente, sondern nur, wer dies bezahlen soll, wenn das Konzept der wie immer auch ausgeformten Klasseninteressen nicht mehr legitim vertreten werden darf, dann bleibt als Ersatz für soziale Solidarität, die aus der Vertretung gemeinsamer Interessen der Schwächeren entsteht, tatsächlich nur noch die Nation als Bindeglied übrig. So erscheinen die horrenden Gewinne der Kapitalseite in den letzten Jahren ebenso als Gemeinschaftsinteressen wie die gleichzeitigen Einkommenseinbußen der Mehrheit.  (46) 

Der Landesvorsitzende der SPD Brandenburg, Steffen Reiche, knüpfte im September 1993 an die Kontakte zwischen Nationalrevolutionären und Sozialdemokratie der frühen 30er Jahre an. Er wolle mit dem Kreis um den Chefredakteur der "Jungen Freiheit", Dieter Stein, offen und national solidarisch diskutieren. "Mit dem Einzelnen muß man reden", so Reiche, "nicht nur um zu verstehen, sondern um Leute nicht aus der Gesellschaft herausfallen zu lassen, gegen die sie sich stellen, weil sie sich von ihr schon verlassen fühlen." So, wie Otto Braun sich zur gemeinsamen Diktatur mit Kurt von Schleicher gegen Hitler bereitfand, wenn nur die SPD beteiligt würde, so behandelte Reiche fast sechzig Jahre später den militanten Neonationalsozialismus prügelnder Skinheads gegenüber der "Jungen Freiheit", einem Blatt, das man mit der damaligen "Tat" vergleichen mag: Gemeinsam mit den geistigen Wegbereitern des Faschismus gegen eine Fraktion der Nazis streitenn. "Ich habe Dieter Stein ... deshalb an das Drama vom Biedermann und den Brandstiftern erinnert. Ich habe ihn erinnert an den großen Roman von Dostojewski mit den Brüdern Karamasow, wo der eine mit diesen Ideen, die andere dann nicht verarbeiten können, zum geistigen Brandstifter und zum Heranbringer von Legitimation für den Mord am Vater wird." Allerdings kennen die Intellektuellen des Faschismus ihren Dostojewski seit 70 Jahren schon gut. 

"Wir müssen über dieses miteinander reden", verteidigte Reiche seine Kontakte zu Stein, "und dürfen dabei nicht aus dem Auge lassen, daß diese Probleme (prügelnde Skinheads, P. K.) Signale dafür sind, daß wir einen gigantischen Reformstau haben in dieser deutschen Gesellschaft. Ein Reformstau, der gewiß schon fast ähnliche Ausmaße erreicht hat wie 1933, denn nicht nur die Zahl der Arbeitslosen entspricht der von damals auf vernichtende Weise mit 6 Millionen, nach oben offen, sondern auch das Staatsdefizit." Glaubt Reiche daran, mit der "Jungen Freiheit" handelseinig werden zu können über die formierte Gestaltung Deutschlands - wie Braun mit Schleicher -, wenn nur ein paar Gossen-Nazis ausgeschaltet würden? Der "gigantische Reformstau" bezieht sich auf die heutigen Modernisierungsinteressen der Hochtechnologie-Konzerne, deren Ideologen eben heute in der "Jungen Freiheit" schreiben, Armin Mohler zum Beispiel, langjähriger Chef der Siemens-Stiftung. 

Bei der Präsentation des Fichter-Buches "Die SPD und die Nation" im August 1993, bei der Steffen Reiche eine Rede hielt, die die "Junge Freiheit" dann im Wortlaut druckte, variierte er dieses Thema: "Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein", rief er in den Saal, in dem auch Burschenschaftler und Journalisten rechtsextremer Zeitungen saßen, "weil ich froh, ja dankbar bin, in dieser Sprache, in dieser Literatur, in diesem Land mit seiner, meiner Geschichte zu leben. Mit diesen Menschen, ihren liebenswerten Freundlichkeiten und ihren Widerwärtigkeiten. ... Deutsch ist ein lebendiges Wort, das ruft nach einem Wort, das es bestimmen kann - deutsche Sprache, deutsche Geschichte, deutsche Architektur, deutsche Wirtschaft." Deutsche Kunst gegen entartete Kunst? Einer der führenden völkisch-religiösen Nationalrevolutionäre der 20er Jahre, Paul Schultze-Naumburg, der sich den Härte-Nazis um Hans F. K. Günther anschloß und 1933 mit Teilen des Strasser-Flügels der NSDAP das organisatorische Instrument des Nazi-Kirchenkampfes - die "Deutsche Glaubensbewegung" - mitgründete, war ein "deutscher Architekt", der gegen "entartete Architektur" anbaute; "Kriegssozialismus" war die erste Version "deutscher Wirtschaft". Reiche lobte Fichter, der sich an den Nationalrevolutionären der 20er und 30er Jahre orientiert, er habe mit seinem Buch "ein altes und neues Denken salon-, ja partei- und hoffentlich auch bald parteitagsfähig" gemacht.  (47) 

Auch Fichter selbst bekannte sich bei dieser Gelegenheit noch einmal ausdrücklich zu der Politik, die die Weimarer Republik schließlich zerstörte. In seiner eigenen Rede zu seinem Buch sah er die Situation der frühen 30er Jahre als vorbildlich an, "wo linke Leute von rechts und nationale Leute von links kamen." So zitierte ihn anschließend die Presse. Der Begriff "linke Leute von rechts" wurde im Sommer 1932 geprägt, unmittelbar nach dem Putsch Schleichers und Papens gegen das sozialdemokratisch regierte Land Preußen und nach der Reichstagswahl, in der die NSDAP stärkste Partei Deutschlands geworden war. Er steht für die Ablehnung aufklärerischer politischer Werte. "Linke Leute von rechts" war die Überschrift eines Artikels in der "Weltbühne" vom August 1932, der die Vertreter des Hitler-oppositionellen Faschismus behandelte: Otto Strasser, Ernst Jünger, die Nationalkommunisten des rechten Flügels der KPD um Richard Scheringer. "Linke Leute von rechts" war der Titel des Buches von Ernst-Otto Schüddekopf, der 1960 die Splittergruppen unter den Feinden der ersten deutschen Demokratie untersuchte: von den putschistischen Freikorps über den "Hofgeismarkreis der Jungsozialisten" der 20er Jahre und ihren Kopf Ernst Niekisch bis zu jenen, die 1932/33 Teile der Sozialdemokratie mit militaristischen Nationalrevolutionären, Nationalkommunisten und den Strasser-Nazis in der "Querfront" Schleichers gegen Verfassung und Republik zu vereinen suchten. "Links" nannte Schüddekopf die "Leute von rechts", die mit dem Wort "Sozialismus" auf Dummenfang gingen, obwohl sich ihr "Antikapitalismus" nur gegen jüdische Unternehmer richtete: "Deutscher Sozialismus". - "Der Spiegel" faßte 1993 in einer Rezension des Fichter-Buches das Ziel dieser neu aufgelegten Politik in dem Satz zusammen: "Fichter verlangt eine schonungslose Diskussion, in der die SPD die Themen Demokratie, Nation und die Zukunft des Wohlfahrtsstaates neu durchdenkt."  (48) 

Wie kein anderer produziert der stellvertretende SPD-Vorsitzende Wolfgang Thierse die Ideologie des "Sozialpatriotismus". Im April 1994 schrieb er: "Unsere Zukunft liegt nicht in der Perspektive der uns benachbarten Niedriglohnländer. Im Gegenteil: hochqualifizierte und teure Arbeit werden wir leisten müssen. Für die Summe der Arbeitsplätze bedeutet das ohne Zweifel, daß sie abnimmt. ... Wir müssen die vorhandene Arbeit teilen unter denjenigen, die arbeiten wollen, und wir müssen auch neue Arbeitsfelder, vor allem im Dienstleistungsbereich schaffen. Dabei dürfen wir diejenigen nicht vergessen, die den Wettlauf um immer höhere Qualifikationen nicht gewinnen können." Um diese Politik zur Schaffung von Niedriglohnarbeitsplätzen, die auch Fritz Scharpf und Peter Glotz vorschwebt, noch auszuweiten, forderte auch Thierse eine breite Dequalifizierung für diejenigen, denen kein Hightech-Arbeitsplatz zustehen soll. Das alte Volksschulniveau scheint als ausreichend für die Masse zu gelten, wenn erst einmal massenhaft minderqualifizierte Arbeitsplätze neu geschaffen sind: "Wenn die Qualität der schulischen Bildung in den einzelnen Schulformen so weit auseinanderfällt, daß bald schon in jedem Beruf das Abitur zur Voraussetzung wird, haben wir es auch da mit einer Fehlentwicklung zu tun. Lehrer, Schüler, Eltern und vor allem die Länder müssen hier einen vernünftigen Ausweg finden. Das kann ihnen niemand abnehmen." Thierse propagierte hierzu eine "Kultur der Bescheidung" und sagte seinen ostdeutschen Landsleuten unmißverständlich, das "staatlich alimentierte" Kulturniveau der früheren DDR sei "unter den heutigen Bedingungen so nicht zu halten". 

"Es geht um die Herstellung annähernd gleichwertiger Lebensverhältnisse", so Thierse. Dies erinnert sehr an die Betonung der Verschiedenheit im Ethnopluralismus, der soziale Ungleichheit zu verschleiern versucht, indem er die gleiche moralische Wertigkeit von Armut und Reichtum propagiert, um die Ungleichheit der realen Lebenschancen zu zementieren. Die "Fremdheiten" und "unterschiedlichen Identitäten in Deutschland" müßten nach Thierse "vor allem zunächst anerkannt werden", wie es auch die Ethnopluralisten fordern. Die großen Konzerne brauchen beides: Ethnopluralistische regionale Identitäten, um soziale Differenz zu rechtfertigen, und eine Formierung auf überregionaler Ebene, um starke Großwirtschaftsräume zu verklammern. Bei Thierse, der in Bundestagsreden die Hightech-Innovations- und Subventionspolitik der Kohl-Regierung unterstützt, paßt beides zusammen: "Was könnte die bindende Klammer sein, das Bindeglied zwischen den Menschen in Ost und West, das ihnen das Zusammenleben, das Zusammenwachsen erleichtert - das sie auch befähigt, Schwierigkeiten zu ertragen und Geduld zu üben?" Seine Antwort will die anerkannten "unterschiedlichen Identitäten in Deutschland" auf höherer Ebene zusammenführen zu einem neuen deutschen Nationalbewußtsein, "eine nationale Identität, eine innere Einheit" und "eine gemeinsame Kultur" - Ideologie statt soziale Rechte. 

Statt nach Möglichkeiten für eine allseitig entwickelte Persönlichkeit aller Menschen zu suchen, statt ein umfassendes Bildungsniveau anzustreben, statt die beste Qualifikation für die Mehrheit der Bevölkerung anzustreben, statt Arbeitsplätze menschengerecht zu gestalten, statt soziale Sicherheit zu verwirklichen und als unverzichtbares Kulturelement der hochentwickelten Gesellschaft zu begreifen, verweist Thierse auf die "Nation". Sie soll ersetzen, was "Kultur" eigentlich aus- und möglich macht. Der Kulturbegriff des studierten Germanisten und Kulturwissenschaftlers Thierse stammt nicht aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit, er bezieht sich nicht auf die kultivierten, zivilisierten konkreten Lebensbedingungen, sondern auf den Überbau: Literatur, Theater und dergleichen, entstanden im "gemeinsamen" Deutschland vor 1945, in dem allerdings die arbeitende Bevölkerung kaum Zugang zu dieser Art von intellektueller Kultur hatte, sondern mit Fahnen, Marschmusik und Zarah-Leander-Filmen abgespeist wurde. 

Thierse setzt seiner konservativen Sichtweise von "Nationalkultur" und "Kulturnation" ein Zerrbild der sozialen Wirklichkeit gegenüber, das allgemein und unverzerrt mit dem Begriff Wohlstand verbunden wird: "Unbegrenzter Massenkonsum" und "schrankenlose Individualisierung" müßten beendet werden, dann entstehe die Bereitschaft, sich mit der Anerkennung sozialer Unterschiede und mit sozialer Benachteiligung zu bescheiden, so das Credo des praktizierenden Katholiken und Mitglieds des "Zentralkomitees der Deutschen Katholiken", der sich gern auf den angeblich asketischen, sicher aber christlich-antisemtischen New Age-Ideologen Eugen Drewermann bezieht. Aber auch der neue Heilige Drewermann, der von sich verbreiten läßt, er besitze weder Auto noch Kühlschrank, reist zu seinen Massenveranstaltungen nicht mit dem Wanderstab an. Wenn die Elite Askese predigt, gilt dies immer den Massen. In der SPD ist Thierse neben Glotz der extremste Vertreter einer konservativen Zivilisationskritik, wie sie seit der Jahrhundertwende bekannt ist. Auf dieselbe Art wird seitdem der Mehrheit Konsumverzicht abverlangt, sie wird mit Nationalgefühl abspeist, und der eingesparte gesellschaftliche Wohlstand wird an die Hochtechnologie-Konzerne umverteilt. 

In seiner Rede vor der 4. Bundeskonferenz zur innerparteilichen Bildungsarbeit der SPD im September 1993 beklagte Thierse, daß "Narzißmus" und "Hedonismus" in der Gesellschaft "an die Stelle älterer Werte gerückt" seien. Heute bilde "das eigene Ich ... den letzten Sinnhorizont, das private Glück die letzte Instanz". Es gebe eine "fast schon zwangsneurotische Gier nach schnellen, konsumierbaren Erlebnissen", "die liberalistische Unverbindlichkeit, die Vergötzung der Individualität und die Sehnsucht nach Lebenskunst statt Lebenssinn haben entscheidend zur Labilisierung des gesellschaftlichen Zusammenhangs beigetragen", meinte er hier. Wer in seiner Rede Konzerninteressen, aggressive Exportorientierung und Massenverarmung als labilisierende Faktoren in der realen kapitalistischen Gesellschaft suchte, sah sich enttäuscht. Der Individualismus der Dailmer-Benz-Eigner und ihres Chefmanagers Edzard Reuter wurden nicht kritisiert, obwohl Reuter mal eben zigtausende Arbeiter auf die Straße setzte und Familien mit Kindern ins Unglück stürzte. Will der Automobilarbeiter auch sein Stück vom Wohlstand, dann ist das "Individualismus". 

Es ist interessant, zu fragen, welche "letzte Instanz" Thierse angesichts seiner Sozialverzichts-Appelle für seine Politik bemüht, wenn nicht das "private Glück" des Individuums. Da bleibt nicht viel anderes als das nationale Glück der Volksgemeinschaft übrig. Wer Bundeswehrsoldaten in die Welt schicken will, um sie dort die Märkte für die Konzerne erkämpfen zu lassen, dem mag die "Vergötzung der Individualität" im Wege stehen. Denn das Beharren auf indivuduelle Lebensrechte ist offensichtlich kontraproduktiv, wenn nur der Erhalt "des Ganzen" zählt. Thierses Kulturbegriff, seine "Nationalkultur", verraten sich, wenn er "Lebenskunst" diffamiert. Da bleibt für die "nationale Identität" nicht viel mehr übrig als sogenannte preußische Tugenden. 

Thierses Positionen sind extrem antimaterialistisch und auch hierin der Konservativen Revolution verwandt; konservative Zivilisationskritik war einer ihrer agitatorischen Schwerpunkte. Sie passen gut in die Zeit des Sozialabbaus und der Reallohnsenkungen. Die Menschen in Ostdeutschland leiden nicht etwa materielle Not, meint er, wenn sie im vierten oder fünften Jahr keine Arbeit haben, wenn die Jugendlichen keine Perspektive haben, jemals ihre materiellen Bedürfnisse nach Reisen, Unterhaltungselektronik oder einer erschwinglichen, ausreichend großen Wohnung befriedigt zu bekommen. Für Thierse sind das alles keine materiellen, sondern mentale Probleme, die dann auch mit mentalen Mitteln statt mit sozialer Gleichstellung, mit "Nationalkultur" eben, bewältigt werden sollen: "Das Verschwinden der Arbeitsplätze, der Rückgang der industriellen Produktion seit 1989 machen Ostdeutschland gegenwärtig zu einer sterbenden Industrieregion. Das nagt an der Identität der Menschen und ruiniert ihr Selbstwertgefühl", als hätten sie es selbst verschuldet. Ruiniert wird für Thierse nicht etwa der Geldbeutel. Er lenkt in seiner Rede den Blick vielmehr weg vom Materiellen, hin zu ideellen Ersatzbefriedigungen. Wenigstens ist seine Position mit ihm selbst kongruent: Wie ein Hedonist erscheint Thierse nun wirklich nicht, eher wie jemand, der sogar am Frisör spart.  (49) 

Seit Jahren ist in der SPD die Meinung hegemonial, jugendliche, oft rechtsextreme Gewalt sei ein Ergebnis von gesellschaftlichen "Individualisierungsschüben", in denen traditionelle Sozialmilieus und soziale Bindungen aufgelöst würden. Thierse und andere dehnen dies auf alle Unbill aus, die sie an einer vermeintlich kranken Zivilisation kritisieren: psychische, soziale, ökologische Probleme. Hierin unterscheiden sie sich nicht von den Ideologen der völkischen Bewegung, der Konservativen Revolution, des Faschismus und des Neofaschismus der "Neuen Rechten", sicher auch nicht vom konservativen Katholizismus. Ihnen allen gemeinsam ist: Nicht mehr die ökonomischen Ursachen dieser Probleme werden analysiert, nicht mehr strukturelle Veränderungen der Produktionsverhältnisse gefordert, um von einer warenwertorientierten Gesellschaft zu einer gebrauchswertorientierten Struktur zu kommen, die etliche Probleme vermeiden könnte. Statt dessen wird die Lösung im Individuum gesucht, das zu sehr auf die Befriedigung seiner Bedürfnisse erpicht sei. 

Die zweifelhafte Theorie von den Individualisierungsschüben stammt von Ulrich Beck - der sie noch deskriptiv meinte - und wurde schon von Wilhelm Heitmeyer und den Vertretern der sozialpädagogischen statt politischen Antifa-Arbeit therapeutisch und konservativ angewendet: Dem vermeintlichen Fluch der Freiheit müsse begegnet werden, neue Bindungen sollen Emanzipationsprozesse ablösen, die zu Entwurzelung geführt hätten. Das kulturelle Milieu der historischen Arbeiterbewegung, der Lebensreformer und der Bündischen Jugend wird bisweilen als Alternative zu den Bindungskräften des Nationalismus angepriesen. Dabei werden sowohl die kulturelle Beschränktheit, der pathetische Mief als auch die patriarchalen Strukturen - auch in den Arbeiterkultur- und -sportvereinen - der 10er und 20er Jahre nicht zur Kenntnis genommen, von nationalistischen und rassistischen Ansätzen dort zu schweigen. Im schlimmsten Falle werden sie sogar als vorbildhaft idealisiert, wird - z. B. von Peter Brandt und Herbert Ammon - die romantizistisch und völkisch durchsetzte Jugendbewegung der 10er und 20er Jahre als Alternative zur heutigen internationalen Jugendkultur angepriesen. Dabei besteht schon faktisch angesichts der Attraktivität der emanzipatorischen, weltweiten Populärkultur nicht einmal eine minimale Chance, an diese historischen Kulturelemente anzuknüpfen. Das wäre auch nicht wünschenwert: Wer trägt denn z. B. die AIDS-Schutz-Kampagnen, wenn nicht "hedonistische" Populärkünstler! Der Papst ja wohl kaum, möchte man dem Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken Wolfgang Thierse sagen, verstaubte Wandervogel-Romantiker von rechts bis links wohl auch nicht. 

Wie wenig man in der SPD heute auf die emanzipatorische Kulturtradition der 20er Jahre zurückgreifen will - sie sogar als angeblich kommunistisch ablehnt, man denke an die Agitprop-Bewegung und dergleichen -, das zeigt z. B. die Ausgrenzung antiautoritärer Strömungen im Gefolge der Studenten-, Schüler- und Lehrlingsbewegung der frühen 70er Jahre und der Jugendzentrums- und Hausbesetzer-Bewegung der 80er. 

Die konservative Zivilisationskritik versuchte immer schon, die Bedingungen und gleichzeitig die Auswirkungen kapitalistischer Wirtschaft mit romantizistischen Sehnsüchten nach heiler Welt zu überdecken. Was Thierse als gesellschaftliche Kälte kritisiert, ist nichts anderes als die Folge einer Wirtschaftspolitik, die er andernorts favorisiert. An seinem erneuten Versuch, über diesen Zwiespalt den Mantel der Nation zu werfen, sind schon andere vor ihm gescheitert. Dagegen haben Marx und Engels 1848 im "Manifest der Kommunistischen Partei" die Verhältnisse in aller Klarheit beschrieben, an denen sich Kulturpessimisten jeder Couleur - ob faschistische Vordenker oder sozialdemokratische Nachäffer, ob naturspirituelle oder katholische Romantizisten -, seit 150 Jahren abrackern, weil sie nicht bereit sind, die Erkenntnisse des wissenschaftlichen Sozialismus zu akzeptieren. Die beiden Klassiker verfielen dabei niemals einem Gemeinschaftskitsch, einer Duselei oder Nostalgie, sondern analysierten kühl Tatsachen und Ursachen: 

"Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckige Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig gelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose 'bare Zahlung'. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt. ... Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen, eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen zu sehen. Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarktes die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden." Die Linke sollte mit dieser Schrift einmal jährlich ihr Denken durchlüften. 

Die konservative Zivilisationskritik hat außer Ideologie nichts anzubieten, um den massenhaften materiellen Verzicht zugunsten der Konzerne zu propagieren. Kommt sie ans Ziel, so verschärft sie die von ihr kritisierten gesellschaftlichen Zustände noch weiter. Die Wertekrise, die von konservativer Seite beschworen wird, ist eine Folge ihrer Produktionsweise, nicht der Emanzipationsbewegung der 70er Jahre. Doch die Dekadenz der Gesellschaft zu beklagen, ist ein brauchbarer politischer Hebel, um die Mittelschicht den Sozialabbau bei der Unterschicht akzeptieren zu lassen, der sie schließlich doch selbst bedroht. Askese stählt, Wohlstand verweichlicht, so lautet die konservative Botschaft, die auf die materiellen Verhältnisse der Mehrheit der Bevölkerung abzielt. In der "Neuen Rechten", z. B. ihrer Zeitschrift "Criticon", finden sich zahlreiche Äußerungen gegen "bürgerliche und soziale Genußsucht", gegen "Partikularinteressen" und "Hedonismus". 

Doch auch der linke Flügel der SPD hat diese Art der Zivilisationskritik übernommen. So forderte der schon zitierte Christoph Meyer 1994 in "spw", "eine sinnvolle Freude an der deutschen Einheit zu entwicklen, die über 'Auto, Fernseher, Waschmaschine' hinausgeht". Es ist heute weit besser gelungen, die Linke in eine Formierungspolitik einzubinden, als in den 60er Jahren. Das Konzept der "nationalen Identität", das damals nur einen empörten Aufschrei hervorgerufen hätte, ist heute fast zur Grundlage der Gesellschaft geworden. Im "Sozialpatriotismus" der SPD wird es offen mit den Konzerninteressen verbunden. Es hat geholfen, eine Formierung bereits herbeizuführen, und wird in den nächsten Jahren noch mehr gebraucht werden: außenpolitisch gegen die Weltmarktkonkurrenten, innenpolitisch als Kleister für die sozialen Risse, die u. a. auch die Hightech-Subventionspolitik aufgerissen hat.  (50) 

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Anmerkungen: 
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(27) Lafontaine, O.: Solidarität verpflichtet. Rede vor der AfA-Bundeskonferenz im März 1988. 
Ders. in "Wirtschafts-Woche", 12. 2. 1988. 
Schabedoth, H.-J. und H. Tiemann: Oskar Lafontaine auf Irrwegen, in "Sozialistische Praxis", April 1988. 
Döhnhoff, M., H. Schmidt, R. Schröder, W. Thierse u. a.: Ein Manifest. Weil das Land sich ändern muß, Reinbek 1992. 
Sozialdemokratischer Pressedienst "ppp" 31. 1. 1994. 
Lafontaine: Haushaltsdebatte 1994, Bundesratsprotokoll 664. Sitzung. 
Lafontaine: Rede auf dem SPD-Forum "Modernisierung des Standorts Deutschland", Pressemitteilung vom 31. 1. 1994. 
Walter: am 12. 10. 1994 im Deutschlandfunk. 
Henkel nach "Frankfurter Rundschau" 13. 1. 1995 und "junge Welt" 5. 4. 1995. 
Schmidt am 29. 11. 1994 im "Deutschlandfunk". 
Wiebusch: Pressemitteilung vom 28. 1. 1994. 
Becker, J.: Der erschöpfte Sozialstaat - Neue Wege zur sozialen Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1994. 
Lafontaine, O.: Kulturgesellschaft als Prinzip, in "Freitag" 29. 4. 1994. 
Gerster, F: Für eine allgemeine Dienstpflicht, in "Bonner General-Anzeiger", 23. 8. 1994. 
(28) Der Begriff wird hier in polemischer Absicht benutzt. 
(29) Helmut Schmidt nach: "Westfälische Rundschau" 16. 5. 1991. 
Bühlow, A. von: Arbeitspapier vom 20. 9. 1989. 
UNICEF nach "Süddeutsche Zeitung" 7. 10. 1994. 
Roth, W.: Die DDR braucht unsere Hilfe, in "Sozialdemokratischer Pressedienst Wirtschaft" 7. 12. 1989. 
Ders.: Zeit für einen Euro-Plan für Ungarn und Polen, Pressemitteilung vom 20. 9. 1989; und: Herrhausens Vorschlag deckt sich mit unseren Vorstellungen, Pressemitteilung vom 26. 9. 1989. 
Roth verklagte nach dem Wechsel zur Europäischen Investitionsbank (EIB) den Deutschen Bundestag wegen dessen Pensionsregelung für Abgeordnete. Ab 1999 stünden Roth ca. 8000 Mark pro Monat als Pension aus seiner MdB-Zeit zu, auf die nach der derzeitigen Rechtslage seine Pensionsansprüche von ca. 3000 Mark monatlich aus der Zeit als Vizepräsident der EIB angerechnet würden. Roth will die 3000 Mark zusätzlich erstreiten. 
(30) Thomas, U.: Deregulierung von links, in NG/FH, Nr. 2/1995. 
Schwanhold nach "Handelsblatt" 20. 4. 1995. 
Vosen nach "General-Anzeiger" 5. 5. 1995. 
Engels, F.: Die Lage der arbeitenden Klasse in England, Berlin (DDR) 1974. 
Glotz: Redemanuskript vom 30. 5. 1994 in Kiel: "Innovationsfähigkeit - Herausforderung für Gesellschaft und Kultur". 
Lafontaine: Schriftenreihe der FES "Wirtschafsstandort Deutschland - Fragen an die Zukunft", Vortrag L.'s am 30. 9. 1993. 
Reuter: Interview in "Der Spiegel", Nr. 35/1994; Interview in "Wirtschafts-Woche" 26. 11. 1993. 
(31) Postreform: Pressemitteilung der SPD-Bundestagsfraktion vom 
1. 2. 1994. 
(32) Vogelheim, E.: Zukunft der Arbeit. Zum Stand der Diskussion um Oskar Lafontaine, in "Sozialistische Praxis", April 1988. 
"Die Welt" 20. 4. 1989. 
Biedenkopf, K.: Die neue Sicht der Dinge. Plädoyer für eine freiheitliche Wirtschafts- und Sozialordnung, München 1985. 
Schmidt, U.: Stellungnahme zum "Erlanger Baby", abgedruckt in "Frankfurter Rundschau" 28. 10. 1992. 
Schüller: Interview in "junge Welt" 16. 3. 1995. 
Verheugen nach "FAZ", 16. 3. 1995. 
(33) Scharpf, F. W.: Sozialdemokratische Krisenpolitik in Europa. Das "Modell Deutschland" im Vergleich, Frankfurt a. M. 1987. 
"Der Gewerkschafter" Nr. 8/1988. 
Glotz, P.: Die Sozialdemokratische Alternative, in "Sozialismus" 
Nr. 5/1984. 
Ders.: Manifest für eine Neue Europäische Linke, Berlin 1985. 
Scharpf, F. W.: Soziale Gerechtigkeit im globalen Kapitalismus, in NG/FH, Nr. 6/1993. 
Ders.: "Warum keine Dienstmädchen?", in "Vorwärts", Nr. 2/1994. 
Die Republikaner: Parteiprogramm 1993. 
Stiehl-Interview in "Süddeutsche Zeitung" 15. 7. 1994. 
(34) Thierse, Grundwertekommission: Pressemitteilung vom 11. 11. 1993. 
Uhl, S.: Die neue Kultur des Helfens, in "Vorwärts" Nr. 5/1991. 
Knapp, U.: Die Hohe Schule der neuen Sozialdemokratie, in "Vorwärts" Nr. 11/1993. 
Ders.: Den Sozialstaat von unten her neu befestigen, in "Vorwärts" Nr. 5/1994. 
Klönne, A.: Zurück zur Nation?, Köln 1994. 
Thierse in "Der Spiegel" Nr. 45/1994. 
"spw": Kremer, Heft 77, Nr. 3/1994; Meyer, Heft 76, Nr. 2/1994 
(35) Eine Abstimmung der Erhard-Ideen erfolgte 1944 durch die "Reichsgruppe Industrie" z. B. mit dem Massenmörder Otto Ohlendorf, Chef des Sicherheitsdienstes Inland in der Nazi-Terrorzentrale Reichssicherheitshauptamt, 1951 in Landshut wegen 90 000fachen Mordes an ukrainischen Juden und Kommunisten hingerichtet. 
Vgl. "Die Legende von der Stunde Null", "stern" Nr. 14/1985; Roth, K. H.: Vernichtung und Entwicklung. Die nazistische "Neuordnung" und Bretton Woods, Arbeitspapier für das Bonner Tribunal gegen den Weltwirtschaftsgipfel am 3. 5. 1985, in "Mitteilungen der Dokumentationsstelle zur NS-Sozialpolitik", Heft 4, Hamburg 1985. 
(36) Originalzitate und Darstellung folgen Opitz, R.: Der große Plan der CDU: die "Formierte Gesellschaft", in "Blätter für deutsche und internationale Politik" Nr. 9/1965. 
(37) "Der Krieg findet längst statt", in "Der Spiegel" Nr. 45, 46, 47/1989. 
"Im Jahr 2000 sehen wir uns wieder", in "Der Spiegel" Nr. 11/1992. 
Ruge in "Der Spiegel" Nr. 17/1989. 
Dazu, wie die "Neue Rechte" aus vermeintlichen Mythen angeblicher Indoeuropäer wirtschaftliche, politische und militärische Schlüsse zieht, vgl.: Dirksen, F.: Blaupause für die französische Politik (über das Manifest "Les Racines du Futur" des "Club de l'Horloge"), in "Criticon" Nr. 44, November 1977; der Begriff der "Formierten Gesellschaft" wird hier noch nicht verwendet; er wird erst in den 90ern von "Criticon" wiederentdeckt. 
Vgl. a. Kratz, P.: Siemens zum Beispiel... Kapitalinteressen an der "Neuen Rechten", in: Hethey, R. und P. Kratz: In Bester Gesellschaft. Antifa-Recherche zwischen Konservativismus und Neo-Faschismus, Göttingen 1991. 
(38) Glotz, Oertzen: Über die Zukunft des nationalen Keynesianismus, in NG/FH, Nr. 9/1988. 
Mettke in "taz" 6. 3. 1985. 
"Vorwärts" Nr. 2/1993. 
"spw" Nr. 5/1994. 
"Rotkielchen. Magazin der Kieler Jusos", Nr. 9/10, 1994. 
(39) Weißmann, K.: Die SPD und das deutsche Vaterland, in "Das Parlament" 25. Juni 1993. 
Lassalle in der Ronsdorfer Rede am 22. 5. 1864. 
Zu Bloch und den "Sozialistischen Monatsheften" vgl. Fletcher, R.: Revisionism and Empire. Socialist Imperialism in Germany 1897-1914, London 1984. Fletcher legt erst alle Argumente dar, um in der Schlußfolgerung Bloch dann doch vor dem Vorwurf zu schützen, er sei ein Vorläufer des Faschismus. 
Zu Bahros Herzog-Ideen vgl.: Bahro, R.: Logik der Rettung, Stuttgart 1987. 
(40) "Der sozialistische Akademiker" und "Sozialistische Monatshefte", alle Jahrgänge 1895 bis 1933. 
Radlof, L.: Vaterland und Sozialdemokratie, München 1915. 
"Vorwärts" 12. 6. 1919, zit. n. Schröder, H.-Ch.: Gustav Noske und die Kolonialpolitik des Deutschen Kaiserreichs, Bonn 1979. 
Zu Heine vgl. Fricke, D.: Opportunismus und Nationalismus, in "Zeitschrift für Geschichtswissenschaft", Berlin (DDR), Heft 8/1974. 
Miller, S.: Burgfrieden und Klassenkampf, Düsseldorf 1974. 
Metallarbeiterzeitung vom 7. 11. 1915. 
(41) Haenisch, K.: Der deutsche Arbeiter und sein Vaterland, Berlin 1915. 
Ders.: Die deutsche Sozialdemokratie in und nach dem Weltkriege, Berlin 1919. 
Winnig, A.: Der Weltkrieg vom Standpunkte des deutschen Arbeiters, Hamburg 1915. 
Lensch, P.: Die Sozialdemokratie, ihr Ende und ihr Glück, Leipzig 1916. 
Sigel, R.: Die Lensch-Cunow-Haenisch-Gruppe. Eine Studie zum rechten Flügel der SPD im Ersten Weltkrieg, Berlin (West) 1976. 
Ebert und Noske zit. n. Miller, S.: Die Bürde der Macht. Die deutsche Sozialdemokratie 1918-1920, Düsseldorf 1978. 
(42) Vgl. Opitz, R.: Faschismus und Neofaschismus, Bd. 1, Köln 1988. 
Stadtler nach Opitz. 
Zu Spengler/Lensch/Winnig vgl. Elm, L.: Leitbilder des deutschen Konservatismus, Köln 1984. 
Zu Heine und der verschleppten Verfolgung des Liebknecht/Luxemburg-Mordes vgl. Gietinger, K.: Eine Leiche im Landwehrkanal. Die Ermordung der Rosa L., Berlin 1995. 
(43) Vgl. Hörster-Philipps, U.: Großkapital, Weimarer Republik und Faschismus, in: Kühnl, R., und G. Hardach: Die Zerstörung der Weimarer Republik, Köln 1979; Ortwein, K.: Die stufenweise Liquidierung der sozialen Rechte der Lohnabhängigen, in ebenda. 
Tormin, W. (Hrsg.): Die Weimarer Republik, Hannover 1977. 
Kolb, E.: Die Weimarer Republik, München 1988. 
Schulze, H.: Otto Braun oder Preussens demokratische Sendung, Berlin 1977. 
(44) Vgl. Hillgruber, A.: Die Auflösung der Weimarer Republik, in Tormin. Groener zit. n. Hillgruber; Duisberg zit. n. Hörster-Philipps. 
Vgl. Breitman, R.: On German Social Democracy and General Schleicher 1932-33, in "Central European History", Jg. 9, Atlanta 1976. 
Schildt, A.: Sozialdemokratische Arbeiterbewegung und Reichswehr - Zur Militärpolitik der SPD in den letzten Jahren der Weimarer Republik, in: Deutsche Arbeiterbewegung vor dem Faschismus, Argument-Sonderband AS 74, Berlin 1981. 
Engelmann, B.: Einig gegen Recht und Freiheit, Gütersloh 1975. 
(45) Schneider, M.: Tolerierung - Opposition - Auflösung. Die Stellung des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes zu den Regierungen Brüning bis Hitler, in: Luthardt, W. (Hrsg.): Sozialdemokratische Arbeiterbewegung und Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1978. 
Hebel-Kunze, B.: SPD und Faschismus, Diss. Universität Marburg 1975. 
Miller, S. und H. Potthoff: Kleine Geschichte der SPD, Bonn 1988. 
Zur Beziehung Strasser-Jaksch vgl. Mattias, E.: Sozialdemokratie und Nation. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der sozialdemokratischen Emigration in der Prager Zeit des Parteivorstands 1933-1938, Stuttgart 1952. 
Äußerung Rainer Diehls gegenüber dem Verfasser bei einem Gespräch Ende 1985/Anfang 1986 in Gegenwart des verantwortlichen Redakteurs von NG/FH, Hans Schumacher. Ein Artikel für NG/FH über nationalrevolutionäre Tendenzen in der SPD der 80er Jahre - Anlaß des Gesprächs - kam nicht zustande. 
(46) Westphal, Th.: "Unsere Strategie ist einfach bis doof", in "spw" Heft 78, Nr. 4/1994. 
Lafontaine: FES-Vortrag 30. 9. 1993. 
Lafontaine und Vollmer: "Der Spiegel" Nr. 35/1994. 
Probst, L.: Krise der Demokratie und Suche nach nationaler Identität, in NG/FH, Nr. 3/1994. 
Krüger, Th.: Nation steht auf der Tagesordnung, in "Berliner Stimme" 11. 12. 1993. 
Fichter im "taz"-Interview, "taz" 26. 3. 1994. 
(47) Reiche zur "Jungen Freiheit": Rede auf der 4. Bundeskonferenz zur innerparteilichen Bildungsarbeit der SPD, 18. 9. 1993, in "Sozialdemokratischer Informationsdienst Nr. 3", September 1993, hrsgg. vom Vorstand der SPD, Abteilung I. 
Reiche-Rede zum Fichter-Buch: zit. n. "Junge Freiheit" 28. 1. 1994. 
Zu Weizsäcker und Schulze-Naumburg vgl. Kratz, P.: Die Götter des New Age. Im Schnittpunkt von "Neuem Denken", Faschismus und Romantik, Berlin 1994. 
(48) Hiller, K.: Linke Leute von rechts, in "Die Weltbühne" 1932. 
Schüddekopf, O.-E.: Linke Leute von rechts, Stuttgart 1960. 
Fichter-Rezension: "Der Spiegel" Nr. 31/1993. 
(49) W. Thierse: Wahl '94: Was tun?, in "Aus Politik und Zeitgeschichte", Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament" 15. 4. 1994. 
Rede von Thierse auf der 4. Bundeskonferenz zur innerparteilichen Bildungsarbeit der SPD, 18. 9. 1993, in "Sozialdemokratischer Informationsdienst Nr. 3", September 1993. 
(50) Zu Heitmeyer vgl. P. Kratz u. a.: Streitschrift gegen Leggewiesierung und Heitmeyerei im Antifaschismus, hrgg. von der Bonner Initiative Gemeinsam gegen Neofaschismus, Bonn 1989. 
Meyer in "spw", Heft 76, Nr. 2/1994. 

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