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Keine Entschädigung für das Umfeld der Täter!
 
Hirschfeld, Stöcker und die Rassenhygiene
 
In Zeiten verstärkten Sozialabbaus wird der Eugeniker
Magnus Hirschfeld zum Idol aufgebaut

Magnus Hirschfeld war ein Anhänger des Sozialdarwinisten Ernst Haeckel, Helene Stöcker arbeitete eng mit den völkisch-religiösen Sekten zusammen. Beide waren nicht nur die Stützen des "Wissenschaftlich-Humanitären Komitees" (WHK), sondern auch in der Gesellschaft für Rassenhygiene aktiv. Ihr Denken und Handeln war bestimmt von der vermeintlichen Höherwertigkeit bzw. Minderwertigkeit bestimmten menschlichen Lebens. Die Genitalverstümmelungen, die Hirschfeld an seinen Opfern verübte, waren keine Ausrutscher des ansonsten guten Humanisten, sondern die logische Konsequenz aus seiner menschenverachtenden Weltanschauung. Beide Personen taugen nicht als Bezugspunkte für das Gedenken an die schwulen und lesbischen Opfer des Faschismus.

Hirschfeld hatte im Institut für Sexualwissenschaft einen Saal nach Ernst Haeckel benannt, in dem "eugenische", erbbiologische Eheberatung stattfand. Haeckel war ein Mitbegründer des Sozialdarwinismus. Er hatte Darwins Evoluionstheorie auf die menschliche Gesellschaft übertragen und glaubte, die moderne Zivilisation der "Kulturvölker" habe in der menschlichen Entwicklung das Naturgesetz der Auslese der Tüchtigsten beim Kampf ums Dasein außer Kraft gesetzt, weshalb nun auch die "Minderwertigen" überlebten und sich fortpflanzten, was zu einer fortschreitenden "Entartung" erst der "Kulturvölker", dann der gesamte menschlichen Rasse führe. Dies werde noch dadurch verschärft, daß die Geburtenrate der "wertvollsten" Menschen ohnehin geringer sei, weil die Eliten weniger Kinder hätten als die Massen. Der drohenden biologischen Degeneration müsse durch "Eugenik" und "Rassenhygiene" begegnet werden, durch gesetzliche Fortpflanzungsverbote gegen die "Minderwertigen" und staatliche Förderung der Geburtenrate der "Höherwertigen", was langfristig zu einer biologischen "Aufartung" derjenigen Völker führen würde, die sich solche Gesetze gäben.

Zuerst beurteilten die Sozialdarwinisten die Wertigkeit der Menschen nach medizinischen Gesichtspunkten (Erbkrankheiten und körperliche Abweichungen von einer völkisch-kulturell und nach den Bedürfnissen der Industrie bestimmten Norm), zunehmend aber auch nach sozialen (Elite oder Masse), kulturellen (Kulturvolk oder Naturvolk/Kolonialvolk) und psychischen Kriterien (abweichendes Verhalten). Jedes unliebsame Verhalten stand der Degenerations-These Haeckels offen.

Haeckel sammelte seine Anhänger im Deutschen Monistenbund, dem auch Hirschfeld als ein führender Ideologe angehörte. Das Intellektuellenblatt der NSDAP, die Nationalsozialistischen Monatshefte, feierte Haeckel 1935 als den "Wegbereiter biologischen Staatsdenkens". Vor den Nazis hatten schon rechte Sozialdemokraten um den berüchtigten Eugeniker Alfred Grotjahn - mit Unterstützung Hirschfelds - Haeckels Thesen politisch umgesetzt und Gesetze gegen die biologische "Degeneration" des deutschen Volkes verlangt. Der preußische SPD-Justiz- und Innenminister Wolfgang Heine, der ein Mitstreiter Gustav Noskes war, die Morde an Liebknecht und Luxemburg vertuschte und wegen seiner Nachgiebigkeit beim Kapp-Ludendorff-Putsch zurücktreten mußte, hatte bereits erste rassenhygienische Gesetze in Preußen eingeführt.

Deutschnational und rassistisch

Magnus Hirschfeld, der 1918/19 die Noske-Fraktion in der SPD unterstützte, und Helene Stöcker waren Teil dieser Szene, die sich auch nationalistisch radikalisierte. So arbeiteten beide auch in der Gesellschaft für Rassenhygiene mit, die der Antisemit und Arier-Fanatiker Alfred Ploetz (ein früher Mitstreiter Wolfgang Heines) gegründet hatte und deren Ehrenpräsident Haeckel war. In Hirschfelds Ärztlicher Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Eugenik, die wohl mehr das sozialdemokratische Spektrum abdeckte, gab Grotjahn den Ton an, der ebenfalls Ehrenpräsident der Gesellschaft für Rassenhygiene war.

Hirschfeld ließ in seinem Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen den Antisemiten Hans Blüher schreiben, obwohl er von dessen Rassismus wußte. Ebenfalls im Jahrbuch wurde in einem großen Artikel die rassistische Esoterikerin Helena Blavatsky als "Führer der Menschheit" angepriesen. Blavatsky hatte die "Wurzelrassen"-Lehre erfunden, nach der die Menschheit in ihrer Entwicklung verschiedene rassische Stufen durchlaufe und schließlich ihr höchstes Stadium, die "arische Rasse", alle verbliebenen Reste der "niederen" Rassen absterben lasse.

Helene Stöcker gründete ihren Bund für Mutterschutz gemeinsam mit Ploetz (der schließlich von Nazis als Gegenkandidat zu Carl von Ossietzky für den Friedensnobelpreis 1936 vorgeschlagen wurde) und Haeckel (der auch Mitglied des berüchtigten antisemitischen und imperialistischen Alldeutschen Verbands war), mit dem Antisemiten Christian von Ehrenfels (einem Sichwortgeber des NSDAP-Chefideologen Houston Stewart Chamberlain, der mit Ehrenfels' Frau Emma befreundet war; Chr. v. Ehrenfels propagierte Zuchtanstalten, in der nur wenige rassisch angeblich wertvolle Männer die Väter von Tausenden von Kindern sein sollten), mit den völkischen Freireligiösen Gustav Tschirn und Bruno Wille (die Freireligiösen sehen nicht nur sich selbst als göttlich an, sondern riefen auch 1937 Adolf Hitler zum höchsten göttlichen Wesen aus) und den bekannten drei Ideologen des deutschen Imperialismus Werner Sombart (Erfinder des "Deutschen Sozialismus", den die Strasser-Fraktion der NSDAP bei ihm lernte), Friedrich Naumann (der den Begriff "National-Sozialismus" erfand und mit dem Ersten Weltkrieg den mitteleuropäischen Wirtschaftsraum für die deutschen Konzerne erzwingen wollte) und Max Weber (der 1899 den Alldeutschen Verband verließ, weil dieser gegenüber den Polen nicht konsequent genug die Interessen des "Deutschtums" vertrete).

Hirschfeld schwärmte im Ersten Weltkrieg von der "Kraft unseres gewaltigen Volksheeres" und der "stattliche Kriegsflotte" und forderte im Jahrbuch die Zulassung der "virilen Frau" zum Waffendienst, weil sie im Schützengraben "viel Ersprießliches zu leisten imstande wäre".

Antimodern und völkisch-religiös

Hirschfeld und Stöcker fühlten sich im romantisch-antimodernistischen Dunst der Lebensreformbewegung offenbar wohl, mochte diese auch überwiegend rassistisch und antisemitisch sein. "Gesellschaftlicher Fortschritt" hieß hier, völkische Zivilisationskritik, Haeckelsche Menschenzucht-Phantasien und die wachsenden Möglichkeiten der Medizinwissenschaft miteinander zu verbinden.

Stöcker führte schon 1906 ihren Bund für Mutterschutz zielstrebig in die Dachorganisation Weimarer Kartell, ein Zusammenschluß des Bundes für Mutterschutz mit Haeckels Monistenbund, den völkischen Freireligiösen und dem Giordano-Bruno-Bund (eine Gruppe völkisch-rassistischer Philosophen und Schwarmgeister, zu denen auch Rudolf Steiner gehörte, der die Wurzelrassen-Lehre der Blavatzky übernommen hatte und der vor der Gründung der Anthroposophie auch im Monistenbund aktiv war). Die Mutterschützerinnen stellten fast den gesamten weiblichen Mitgliederbestand des Weimarer Kartells, da die übrigen Organisationen faktisch Männerbünde waren. Das Weimarer Kartell war der Vorläufer für die Deutsche Glaubensbewegung, die 1933 zur religiösen (antichristlichen und antijüdischen) Unterstützung der Nazi-Herrschaft von Freireligiösen, Monisten, Angehörigen "nordischer" Kleinsekten und den Teilen der SS gebildet wurde, die das Erbe der Rassenhygieniker angetreten hatten (Rasse- und Siedlungsamt der SS, Hans F.K. Günther, Walter Darré). Ideologen des 1919 aufgelösten Weimarer Kartells saßen 1933 im "Führerrat" der offen nazistischen Deutschen Glaubensbewegung.

Als 1982 und 1985 die Sexualwissenschaftler Martin Dannecker und Volkmar Sigusch erstmals haarsträubende Zitate des Rassenhygienikers Magnus Hirschfeld veröffentlichten, war die völkisch-religiöse und biologistisch-atheistische Szene von Freireligiösen, Monistenbund, Weimarer Kartell, Deutscher Glaubensbewegung und ihre Verbindungen zu den Alldeutschen, den Rassehygienikern und dem Vernichtungsprogramm der Nazis kaum erforscht, eine adäquate Einordnung Hirschfelds oder Stöckers war nicht möglich, weshalb Sigusch und Dannecker Hirschfeld noch verteidigten. 1992 war dies schon anders, doch Manfred Herzer stellte in seiner Hirschfeld-Biographie Dannecker und Sigusch als vermeintliche Linksfaschisten "in 68er Tradition" dar, die dem Juden Hirschfeld ans Zeug flicken wollten, wie es schon die Nazis und deren Nachfolger getan hätten. Allerdings kam auch Herzer nicht umhin darauf hinzuweisen, daß Hirschfeld gar kein Jude sein wollte, sondern eine ganz andere Ahnengalerie für sich aufmachte: "Ich protestiere dagegen, jetzt Jude genannt und deswegen von den Nazischweinen geächtet und verfolgt zu werden. Ich bin ein Deutscher, ein deutscher Staatsbürger, genau so gut wie ein Hindenburg oder Ludendorff, wie Bismarck und der gewesene Kaiser", so zitierte Hans Blüher Hirschfelds eigene Verortung zu seinen Lebzeiten, nachzulesen bei Herzer, der das Zitat ausdrücklich nicht bezweifelt.

Fortpflanzungsverbote gegen "Minderwertige"

Hirschfelds grausame Menschenversuche, seine Genitalverstümmelungen an Hermaphroditen, seine Kastrationen und Hetero-Hoden-Implantationen bei Schwulen zwecks Umpolung der sexuellen Orientierung und seine eugenischen Forderungen nach Verzicht auf Ehen zwischen Homo- und Heterosexuellen folgten logisch aus dem geistigen Umfeld, in dem er sich bewegte. Es war die Praxis seiner Weltanschauung. Weingart, Kroll und Bayertz nennen in ihrem Grundlagenbuch "Rasse, Blut und Gene" (Suhrkamp Verlag 1988) Hirschfeld als eine der wichtigsten Personen der Berliner Eugenik-Szene. Doch in den neueren Arbeiten über Hirschfeld kommt das zentrale Thema von Hirschfelds medizinischer und politischer Praxis, die Eugenik und Rassenhygiene, fast gar nicht vor. 

Hirschfeld als Eugeniker:
Homosexuelle kommen angeblich aus "degenerierten" Familien:


         
(aus: Hirschfeld, Magnus: Die Homosexualität des Mannes und des Weibes,

          Berlin 1914, S. 391)

Stöckers Bund für Mutterschutz, Ploetzs Gesellschaft für Rassenhygiene, Haeckels Monistenbund forderten in gleicher Weise z. B. die gesetzliche Einführung eines obligatorischen Gesundheitszeugnisses, das die rassenhygienische Unbedenklichkeit von Eheschließungen bescheinigen sollte - gerade deshalb arbeitete Hirschfeld hier mit. "Minderwertige Väter" hieß das Schreckbild der Mutterschützerinnen um Stöcker, die die Befreiung der Sexualität einer Elite vorbehalten wollten, weil die breite Masse der Menschen dafür nicht reif sei und durch Sex nur "minderwertigen" Nachwuchs produziere. Rassenhygieniker und Monisten fürchteten gleich die biologische Dekadenz des ganzen "Kulturvolkes", das anschließend womöglich von Polen und Russen beherrscht würde. Im Hintergrund der eugenischen Propaganda, die in den 20er Jahren von der rechten Sozialdemokratie mitgetragen wurde (Grotjahn prägte die Gesundheits- und Bevölkerungspolitik der SPD in Preußen maßgeblich bis in die 30er Jahre), standen auch die imperialistischen Interessen des deutschen Kapitals.

Hirschfeld übertrug die Sicht von der "Minderwertigkeit" und die eugenischen Forderungen auch auf Schwule und Lesben: "Jedenfalls verdammt ein Homosexueller, der heiratet, eine gesunde Frau zur Sterilität oder zur Geburt geistesschwacher Kinder. Die gleichen Einwände können gegen die Heiraten homosexueller Frauen gemacht werden, und es liegt im Interesse der Rassenpflege, solche Ehen zu verhindern", schrieb Hirschfeld. Im August 1933 forderte er zur Gesundheitspolitik der Nazis: "Man muß die Hitlerschen Experimente abwarten, ehe man sich darüber äußert", und fürchtete offenbar nur deren parteipolitische Ausrichtung: "Es ist keineswegs sicher, daß die Nationalsozialisten einzig und allein aus eugenischen Zwecken handeln. Man muß vielmehr befürchten, daß sie sich der Sterilisation bedienen werden, weniger um die 'Rasse aufzuzüchten', als um ihre Feinde zu vernichten."

Entschädigung für die Opfer der Hirschfeldschen Menschenversuche!

Stellvertretend für die von Hirschfeld genitalverstümmelten und an den dilettantischen Hodentransplantationen gestorbenen Opfer müssen Interessenorganisationen der heute nach dilettantischen "sexualpsychologischen" Theorien Genitalverstümmelten (wie z. B. zwangsoperierte Hermaphroditen, aus forensischen Gründen Kastrierte, auch die nach völkischen Traditionen Klitorisbeschnittenen) Entschädigungszahlungen erhalten, nicht die Apologeten Hirschfelds. Die Gewinne der Sex- und Porno-Industrie, die die Magnus-Hirschfeld-Woche in Berlin finanziert, und die Gewinne aus Rosa von Praunheims Film "Der Einstein des Sex", der die Taten Hirschfelds verharmlost, sollen hierzu umverteilt werden.

(März 2000)

Weiterführende Literatur:

Wolfgang Johann Schmidt (Hrsg.):Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen. Auswahl aus den Jahrgängen 1899-1923, Franktfurt am Main 1983
Martin Dannecker:Vorwort, in: W. J. Schmidt (Hrsg.): Jahrbuch, S 5-15.
Volkmar Sigusch: "Man muß Hitlers Experimente abwarten", in: DER SPIEGEL Nr. 20/1985, S. 244 ff
Martin Dannecker und Reimut Reiche: Der gewöhnliche Homosexuelle, Frankfurt am Main 1974
Peter Weingart, Jürgen Kroll, Kurt Bayertz: Rasse, Blut und Gene, Frankfurt am Main 1988
Horst Groschopp: Dissidenten, Berlin 1997
Michael Schwartz: Sozialistische Eugenik, Bonn 1995
Peter Bierl: Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister, Hamburg 1999
George L. Mosse: Ein Volk, ein Reich, ein Führer. Die völkischen Ursprünge des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1979
Hans-Jürgen Lutzhöft: Der Nordische Gedanke in Deutschland 1920-1940, Stuttgart 1971
Léon Poliakov: Der arische Mythos. Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus, Wien 1971
Manfred Herzer: Magnus Hirschfeld. Leben und Werk eines jüdischen, schwulen und sozialistischen Sexologen, Frankfurt 1992
Peter Kratz: Die Götter des New Age. Im Schnittpunkt von "Neuem Denken", Faschismus und Romantik, Berlin 1994
Peter Kratz: Rechte Genossen. Neokonservatismus in der SPD, Berlin 1995

Immer wieder lesenswert: KONKRET Sexualität. Sonderheft der Zeitschrift KONKRET, Hamburg 1979.
 

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