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D-Day 2009:



Die innerdeutsche Grenze als Kinderspiel, wie beim RTL-Domino-Day. Dass hier Menschen erschossen wurden, die einfach nur rüber zu ihrem Liebchen wollten, geht im Jahrmarkts-Getöse der 20-Jahr-Feier unter, bei der eine bemalte Styropor-Mauer nach dem Domino-Prinzip zum Einsturz gebracht wurde. Merkwürdige Symbolik -- was hier alles umfallen sollte!



Fressbuden für deutsche Würstchen und ihre Esser gab's genug 2009 an der Kirmes-Mauer-Meile, nur die Schießbuden für die Mauerschützen und die, die es wieder werden wollen, fehlten:



Und abends, als dieses seltsame Domino-Spiel begann -- ein Volk fällt um:
















Jahre nach seinem Eintrag ins Buch der Geschichte
ist die Authentizität eines berühmten Politikerspruchs
fraglich geworden:

 

Rittlings auf der Mauer
 
Jetzt kommt zusammen, was zusammen gehört!
  

Aus Josefine Mutzenbachers Erlebnisbericht: "... und wie ich bemerkte, daß aus seinen Ruinen neues Leben zu blühen anfing, drehte ich mich um, und da ich schon einmal obenauf lag, fügte ich rittlings zusammen, was zusammengehörte." Der Satz steht in der ungekürzten Mutzenbacher- Ausgabe (Non Stop Bücherei, München 1970, S. 198), ist also authentisch, auch wenn bis heute niemand weiß, wer sich hinter dem österreichischen Pseudonym verbarg. Willy Brandt dagegen ist sogar namentlich bekannt, auch wenn heute feststeht, daß er sein "Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört" in dieser Form im Herbst 1989 nicht gesagt hat. Der berühmte Satz wurde erst später für die Geschichtsbücher komponiert und ist – anders als der erste Spruch zur Nation: "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche" – nicht authentisch. Ausweislich des Tondokuments der WDR-Sendung "Berichte von heute" hatte Brandt, als er am 10. November 1989 am Berliner Grenzübergang Invalidenstraße aus der nun offenen Hauptstadt jenes Staates zurückkehrte, dessen Hymne mit dem Satz "Auferstanden aus Ruinen" begann, gesagt: "Dies ist eine schöne Bestätigung bisherigen Bemühens, aber auch eine Aufforderung an uns alle, nun noch ne Menge zusätzlich zu tun, damit das wieder zusammengefügt wird, was zusammengehört." Frappant! Willy ließ nur das "rittlings" weg! Selbst das Verb lieh er sich bei der berühmtesten Dirne der Weltliteratur.

Von Seebacher zu Mutzenbacher

Politisch falsch, jedoch menschlich darüber aufklärend, wie der Satz entstand, ist der Bericht von Brigitte Seebacher-Brandt über ihr Eheleben in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989, den sie am 18. Dezember 1993 in der "FAZ" unter der Überschrift "Willy Brandt und die Idee der deutschen Nation" veröffentlichte: "Wir legten uns beizeiten schlafen. Zwischen vier und fünf klingelte das Telefon, das ich mühsam fand. ... Ich weckte meinen Mann; 'jemand behauptet, die Mauer sei auf, und der will dich interviewen.' Er guckt, sagt nichts, steht auf, nimmt den Hörer und lernt nun aus den Fragen, was sich in der Nacht abgespielt hat. Als er auflegt, huscht ein vergnügtes, fast spitzbübisches Lächeln über sein Gesicht. Nie war er jünger als in jenem Augenblick, in dem er sagt: 'Das ist es.' Drei Stunden später macht er an Bord einer britischen Militärmaschine Notizen für eine Rede: 'Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.'"

Das ist köstlich und neu für die Geschichtsschreiber: Die Seebacher weckt Willy, und der denkt an die Mutzenbacher. Warum auch nicht! Soll halt eine Österreicherin den Satz zur Wiedervereinigung Deutschlands hergeben; die "deutsche Kulturnation" – von SPD-Prominenten wie Hans-Jochen Vogel oderWolfgang Thierse seit Jahren immer wieder beschworen – reicht ja schließlich bis an die Donau! Fragt sich nur, ob der alte Internationalist Brandt, der so gerne Witze erzählte, seinen rechten Genossen mit Absicht dieses Kuckucksei ins nationale Nest legte. Fragt sich auch, was August Bebel dazu gesagt hätte, dessen Taschenuhr der Parteivorsitzende Brandt getragen haben soll und der hundert Jahre vorher zu Recht der Meinung gewesen war, die Töchter der Arbeiterklasse dürften nicht hinterm Halbwelt-Tresen enden, erst recht nicht in ökonomischen Krisenzeiten, ausgebeutet zum Vergnügen der Herrschenden. In seinem Buch "Die Frau und der Sozialismus" schrieb Bebel weitblickend: "Deutschland genießt den traurigen Ruhm, Frauenmarkt für die halbe Welt zu sein." Warum also soll dieses Deutschland, das gerade wieder in die kaiserlichen Bauten Berlins einzieht, nicht unter dem Leitspruch einer Dirne zusammenwachsen? (Josefine hatte allerdings bekanntermaßen und ausnahmsweise ihren Spaß dabei, das mußte sogar Bebel zugeben, der an gleicher Stelle vom "lebenslustigen Wien" schrieb.)

Kein Tondokument des Geschichtsbuch-Satzes

Die Seebacher-Version hat allerdings einen Schönheitsfehler: Es existiert kein Tondokument mit dem Ausspruch "Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört"; Willy Brandt hat ihn am 10. November 1989 auch in keiner Rede gesagt, erst recht nicht in der berühmten vor dem Schöneberger Rathaus. Wir haben mehr als ein Jahr in Archiven nach dem O-Ton gesucht – Fehlanzeige. Ob es eine entsprechende handschriftliche Notiz Brandts von diesem Tage gibt, wie Seebacher behauptet, muß daher bezweifelt werden. Weder die zugänglichen Tonaufnahmen noch die Broschüre mit den Reden von Brandt, Momper, Genscher, Wohlrabe und Kohl, die bereits wenige Tage nach der Kundgebung vom 10. November 1989 auf dem John-F.-Kennedy-Platz von der Senatskanzlei Berlin, Abt. Information – V E, herausgegeben wurde, enthalten diesen Satz. Willy Brandt hat ihn in der überlieferten Form nicht gesprochen. Dem Erstabdruck der Brandt-Rede durch die Senatskanzlei folgte Mitte 1990 im SPD-nahen Verlag J.H.W. Dietz Nachfolger GmbH – er gehört zur Friedrich-Ebert-Stiftung – das Buch "... was zusammengehört", das Brandts "Reden zu Deutschland" enthält. Hier ist erstmals der nicht gesprochene Satz "Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört", der längst als historisch galt, in die Rede Brandts vor dem Schöneberger Rathaus hineingefälscht worden. Der damalige Lektor sagte uns jetzt, die Einfügung habe Willy Brandt bei den Vorarbeiten zu dem Buch im Frühjahr 1990 persönlich verfügt und in die Tonbandabschrift der Rede, die dem Verlag als Vorlage diente, handschriftlich eingefügt. "Es gilt das gesprochene Wort", dieser Grundsatz gilt wohl nicht für Jupiter.

In seiner Broschüre "Materialien. Die deutsche Teilung und ihre Überwindung. Sozialdemokratische Positionen zur Deutschlandpolitik 1945 bis heute" druckte der SPD-Parteivorstand die Dietz-Version nach: "Rede am 10. Nov. 1989 auf dem John-F.-Kennedy-Platz" heißt es da. Redakteur der "Materialien" war ausgerechnet der heutige Vorsitzende der "Historischen Kommission beim Parteivorstand der SPD", Bernd Faulenbach, der die Quellen nicht prüfte. So wurde die Geschichtsfälschung parteioffiziell abgesegnet. Als wörtliche Rede – mit Gänsefüßchen und dem Datum "10. November 1989" – auf ein Foto Brandts vor dem Brandenburger Tor gedruckt, hängt die Fälschung heute sogar im Bonner "Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland", als Wahlplakat der SPD aus dem Jahre 1990. Die Zehntausende Schulkinder, die daran vorbeilaufen, wissen noch nichts vom Tagebuch der Josefine M., das seit Kaisers Zeiten an Jugendliche nicht verkauft werden darf.

Und auch das stimmt: Willy Brandt sagte gleich nach dem Bau der Berliner Mauer, als Regierender Bürgermeister der Stadt, er sei überzeugt, dass irgend wann einmal "hier in Berlin wieder zusammengefügt sein wird, was zusammengehört". Es gibt sogar einen Film, der das zeigt. Daran knüpfte er am 10. November 1989 an. Warum nur hat er den Satz wieder weg redigiert?

Mehr zu Willy Brandt als nationalem Deutschen bringt das Buch von
Peter Kratz: "Rechte Genossen. Neokonservatismus in der SPD"

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