Peter Kratz: "Die Götter des New Age.
Im Schnittpunkt von 'Neuem Denken', Faschismus und Romantik"
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4. Tote soll man ruhen lassen?

Faschistische Friedhöfe, New Age-Beerdigungen,
"Praktische Ethik"
 

      Inhalt des Kapitels 4

      Der Tod als Leben
      Mit "Begleitung" ins New Age-Grab
      Die sanfte Rückkehr der Sozialpolitik des Todes
      "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland"


(Wie sich die "Schwarze Ethik" der rechten Sekten auf die Bioethik-Debatte
im "Jahr der Lebenswissenschaften" 2001 auswirkte, zeigen die BIFFF-Texte:

"Biosozialismus I", "Biosozialismus II" und "Biosozialismus III",
die gekürzt auch in KONKRET erschienen.)

Nein, das Grauen beim Betreten eines germanischen Heiligen Hains, von dem der römische Geschichtsschreiber Tacitus berichtete, überkommt einen zivilisierten Menschen heute nicht, wenn er Friedhöfe neugermanischer Sekten besucht. Die naturnahe Gestaltung der "Ahnenstätten" macht sie eher zu Idyllen. Heidekraut blüht, Maiglöckchen, Waldmeister, Gräser lassen den Ort als Teil der Natur Nordmitteleuropas erscheinen. Die Anlage ist Symbol für das "Glaubensgut": Die Toten sollen wieder in den Naturkreislauf der Region eingehen, die für die Lebenden Heimat war und dies für ihre Nachkommen bleiben soll, das natürliche "Eigene". Moderne Schnitt- und Gartenblumen aus Treibhauszucht sind hier verpönt, bisweilen verboten, Zwergsträucher werden vom "Stättenwart" empfohlen. Wären in den ungleichen Findlingen, die einzig als Grabsteine zugelassen sind, nicht Namen, Daten und Zeichen eingehauen und leiteten die immer frisch geharkten Wege nicht durch das Wäldchen, das den Ahnen Schatten spenden soll, dann sähe man der Anlage kaum die Menschenhand an, die sie geschaffen hat.

Besucher sind hier selten. Die Ahnenstätten liegen meist verborgen, fernab von Ortschaften. Über Feldwege und durch Schlaglöcher muß sich vorquälen, wer dem Hinweisschild "Ahnenstätte 500 Meter" an der Landstraße neugierig gefolgt ist. Das Christenwort "Friedhof" findet man nirgends, denn in der Vorstellungswelt der All-Einheit des kreislaufenden Lebens gibt es keine "ewige Ruhe". Und auf dem Grabstein der "Sippe B." sind nicht etwa Stern und Kreuz vor dem Geburts- und Todesdatum eingehauen, diese christliche Symbolik ist sogar ausdrücklich verboten. Die altgermanische "Man"-Rune, die im Runenalphabet einen einfachen Lautwert hat - wie lateinische Buchstaben - und erst von faschistischen Ideologen als "Lebensrune" interpretiert wurde, kündigt den Geburtstag an. Den Sterbetag versinnbildlicht dasselbe Zeichen kopfgestellt: die "Yr"-Rune, in den historischen "Runenalphabeten" wesentlich jüngeren Datums und in der Bedeutung als "Todesrune" ebenfalls erst von der völkischen Bewegung erfunden. Die beiden Zeichen gehören zu den fünf Symbolen, die die Nazis am meisten verwendeten.

Ein frisches Grab ist zu sehen, daran liegen noch Kranzschleifen: "Schützenverein", "Familie X", "Soldaten-Kameradschaft". Die Ahnenstätte Hilligenloh im Oldenburgischen ist als Teil der "Brauchtumspflege" ins Bewußtsein der dortigen Bevölkerung eingegangen, die fast ausschließlich protestantisch ist. Im Frühjahr 1990 wurde hier Fritz B. beerdigt, stellvertretender Bürgermeister der Gemeinde Langenberg, stellvertretender Vorsitzender des FDP-Ortsverbandes Hude-Wüsting. "In einem Nachruf bescheinigt die Gemeinde dem Verstorbenen, daß er sein Ehrenamt gewissenhaft und menschlich ausgeübt und sich damit das Ansehen von Rat, Verwaltung und Bürgern erworben hat", schrieb die Lokalpresse und gab Ort und Zeit der Beisetzung bekannt. Der Verstorbene war Ehrenvorsitzender und "beliebter Vereinswirt" des Schützenvereins, einer ursprünglich christlichen Institution also; er unterhielt auch eine Schießsportanlage. Fritz B. hatte seine Gaststätte nach dem Germanen-Held vom Teutoburger Wald benannt: "Zum Alten Hermann".
 
Tote soll man ruhen lassen?

Viele Menschen werden hier nicht beerdigt und ohnehin sind es nur Deutsche. "Artfremde" in deutscher Erde, das ginge nun wirklich nicht! Auch der Zusammenfall von "Yin und Yang" hat offenbar Grenzen, und die sind national und rassisch bestimmt. Die Ahnenstätte Hilligenloh ist der 1932 gegründete nordwestdeutsche Zentralfriedhof der völkisch-rassistischen Ludendorffer-Sekte. Allerdings können hier auch Nichtmitglieder beerdigt werden, sofern sie "keiner anderen Religionsgemeinschaft" angehören, wie es in der Satzung des "Ahnenstätte Hilligenloh e. V." heißt. "Wuppertal" steht auf einem Findling, diese "Sippe" lebt also sehr weit entfernt von ihren Vorfahren.

Dem germanischen Totenhain nachempfunden: Die "Ahnenstätte Hilligenloh" in Niedersachsen, ein "naturbelassener" Friedhof für geistige Nazis, der nach Protesten von Antifaschisten in den Jahren 1999/2000 wegen seiner faschistischen Runen und der offenen Verehrung für Erich und Mathilde Ludendorff  den Stadtrat von Hude beschäftigte. Nun will man Pflanzen über Runen und Namen wachsen lassen.

Der "Bund für Gotterkenntnis (L) e. V.", wie sich die von Mathilde und Erich Ludendorff gegründete Religionsgemeinschaft nennt, wurde am 25. Mai 1961 von insgesamt 23 Instanzen (Innenminister der Länder und Regierungspräsidenten) in allen Bundesländern und West-Berlin verboten - als "Keimgebiet antisemitischer Gruppengesinnung", wie im Verfassungsschutzbericht für das Jahr 1963 steht. Die jährlichen Berichte werden erst seit dem Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre veröffentlicht, als erstmals nach Kriegsende wieder jüdische Friedhöfe von Neonazis geschändet wurden. Die Juden wurden ermordet, um ihre Grabstätten kümmert sich nur ab und zu mal eine Gemeindeverwaltung. Auf der Ludendorffer-Ahnenstätte wurde noch niemals ein Grabstein umgeworfen oder beschmiert. Die Anlage ist gepflegt, in den letzten Jahren ließ man ein ziemlich großes Backsteinhaus für die Gärtnergeräte bauen. Die Nachkommen dieser "Ahnen" leben, sie können sich kümmern um diese Stätte.

1976 wurde die Ludendorffer-Bewegung wieder legalisiert. Am Eingang der Ahnenstätte Hilligenloh stehen die beiden größten Findlinge der Anlage, der eine fast mannshoch. "Dem großen Freiheitskämpfer General Erich Ludendorff in dankbarem Gedenken" und "Mathilde und Erich Ludendorff - Schöpferin und Wegbereiter der Gotterkenntnis" lauten die Inschriften. Dazwischen die halb unterirdische Totenhalle, als Türgriff ein Hakenkreuz. Jetzt überkommt manchen doch das Grauen. Aber nein, nur ein altes heidnisches Zeichen, "Volksbrauchtum" im "hohen Norden" eben!

Wirklich? In dieser Erdhöhle, die wie ein Unterstand aus dem Weltkrieg anmutet, sollen die Verstorbenen eigentlich ein paar Tage den Naturgeistern, nein: dem All-Göttlichen überlassen bleiben, bevor man sie beerdigt. Bei Fritz B. hat man diese Zeit eingespart. Während der kurzen Totenfeier war sein Leichnam vor der geschlossenen Tür aufgebahrt, das Hakenkreuz war für die Schützenbrüder, die Soldaten-Kameraden und die Mitglieder des Gemeinderates nicht sichtbar. Keine zehn Meter von der letzten Ruhestätte des FDP-Vizebürgermeisters entfernt prangt ein weiteres Hakenkreuz auf einem Grabstein, die Haken nach unten gerichtet, sonst wäre es ja verboten.
 
Tote soll man ruhen lassen?
 
Die Wolfsangel ist ebenfalls ein Zeichen nazistischer Organisationen. Wir kennen sie auch von der Uniform, die das Waffen-SS-Mitglied Franz Schönhuber auf dem historischen Foto trägt, das er selbst und Antifaschisten so gerne veröffentlichen. "Das Reich" hieß seine erste SS-Truppe, später war es die "Leibstandarte Adolf Hitler". Auf der Ahnenstätte Hilligenloh ist die Wolfsangel in einen Grabstein-Findling eingemeißelt. Nur ein altgermanisches Symbol, wie das "indoarische" Sonnenrad? Weltanschauliche Kontinuität über die Generationen der "Sippe" bahnt sich an, wenn das Enkelkind am Grabe der Oma auf ein Hakenkreuz blickt. Gleich neben dem Wäldchen der Ahnenstätte öffnet sich breit ein umzäuntes Feld. Nicht ganz in der Mitte liegt ein weiterer Findling, dem man seine heimatliche Herkunft vom Grunde des Meeres ansieht, das einst die norddeutsche Tiefebene ausfüllte. In den Stein ist eine Inschrift gemeißelt, ein religiös-politisches Programm: "Machet des Volkes Seele stark." Das Feld gehört den Ludendorffern, hier finden die Sonnwendfeiern statt. Holz ist bereits gesammelt worden im Mai für die Sommersonnenwende, in der - wie in den Jahren vorher - wieder die Odalsrunen auf den Ärmeln zu sehen sein werden, die auch die Wiking-Jugend als ihr Zeichen trägt. Auf diesem Feld wird Politik gemacht, symbolisch.
 


Das seitenverkehrte Hakenkreuz am unterirdischen Totenbunker in Hilligenloh, als Türgriff.
Hier soll Gaia den Leichnam einige Tage durchwesen, bevor er - schließlich beerdigt, weil das nach deutschem Gesetz so sein muß - im Grab verwest und als Dünger fürs Heidekraut in den Kreislauf der "göttlichen All-Natur" eingeht.

Die "naturnahe" Bestattung ist "in". Ganz ohne Hakenkreuz ist der "Friedwald" im Jahr 2003 der Renner: In einer ökologisch abbaubaren Urne kann die Asche des / der Verstorbenen in ausgewählten Fluren der Privatwälder deutscher Adeliger beigesetzt werden. Grafen "von und zu" versprechen sich ein Zubrot zum Unterhalt ihrer Latifundien in den undurchdringlichen Bergwäldern Mittelgermaniens durch den Verkauf von Bäumen, in deren Wurzelwerk Oma und Opa eingehen, wenn sich die Papp-Urne aufgelöst hat: Kreislauf der göttlichen All-Natur.  Evangelische sind bereits dafür - wen wundert es angesichts der historischen Nähe von (vormals) evangelischen Theologen zu den damaligen neuheidnischen, germanentümelnden, pantheistischen Sekten des beginnenden 20. Jahrunderts -, die katholische Kirche protestiert noch. Am 15. September 2003 brachte das ARD-Magazin "report aus Mainz" einen apologetischen Bericht über die wachsende "Friedwald"- Bewegung, aus Liebe zur Natur, versteht sich, und zu den naturliebenden deutschen Menschen, die dort ihre Ruhe finden möchten, wo sie so gerne wanderten mit ihrem deutschesten aller Freizeit-Utensilien, dem mit metallenen Andenkenschildchen beschlagenen Spazierstock - dasselbe Magazin, daß sich vor Jahren weigerte, über die Nazi-Hintergründe der "Freireligiösen" in Mainz und Umgebung zu berichten, den potentiellen Kunden von "Friedwäldern", weil es ein Hilligenloh im christlich dominierten Süddeutschland ja nicht gibt. "Deutschland ist ein Wanderland!", sagt der Eine in dem Witz; "Einwanderland? Jetzt gehen Sie aber zu weit!", entgegnet der Andere.

Politik ist das Ziel der Ludendorff-Bewegung seit dem Ersten Weltkrieg, in dem General Erich Ludendorff die Armeen des deutschen Kaisers und Kapitals befehligte. Seit dem Ende des Krieges bis in die frühen zwanziger Jahren, als Ludendorff vom Baltikum bis Ungarn die erste faschistische Internationale gegen die sozialistischen Revolutionen zu schmieden versuchte, betätigte sich der General als Organisator der faschistischen "Bewegung". Der spätere Mitbegründer der nazistischen "Deutschen Glaubensbewegung" Ernst Graf zu Reventlow, ein völkischer Neuheide und Mitstreiter des späteren "Papstes" der "Deutschen Unitarier" Wilhelm Hauer, drängte Ludendorff bereits 1922 zur Zusammenarbeit mit Hitler. Beim Hitler-Putsch an der Münchner Feldherrnhalle 1923 war er laut dem Gerichtsurteil im Hochverratsprozeß der Weimarer Republik gegen die Nazi-Putschisten "zufällig vorbeigekommen". Während Hitlers Haft wurde er zum unbestrittenen Führer der völkischen Bewegung. 1926 heiratete er Mathilde von Kemnitz, eine völkische Okkultistin, die ihrem Erich eine feste religiöse Orientierung abseits des engeren Nationalsozialismus gab. Auf ihre rassistischen, antisemitischen Bücher der zwanziger Jahre bezog sich der im New Age heute beliebte Hermann Keyserling positiv und veröffentlichte bisweilen sogar Artikel der Mathilde Ludendorff in seinen eigenen Büchern. Die beiden Ur-Ludendorffer standen politisch rechts von Hitler, den sie als "Legalisten" ablehnten, weil er über Wahlen zur Macht wollte. Hitler rächte sich mit dem Verbot des "Tannenbergbundes", der ersten Ludendorffer-Organisation.

Trotz des Verbots durch die Nazis, das der Sekte heute als Persilschein dient, konnte Mathilde 1933, 1935, 1943 und selbst noch im papierknappen Jahr 1945 ihre Bücher veröffentlichen. Ein siebenjähriges Schreibverbot erhielt sie erst 1952, nach dem endlich rechtskräftigen Urteil der Entnazifizierungs-Spruchkammer, das sie als "Aktivistin" einstufte. Adolf Hitler, der Gefreite, versöhnte sich wieder mit Erich Ludendorff, dem General, als der Zweite Weltkrieg anstand und die historische Kontinuität, "das Erbe", aufgezeigt werden sollte. Ludendorff fühlte sich geschmeichelt, doch er starb schon 1937 und konnte dem "größten Feldherrn aller Zeiten" zu seinen Blitzkrieg-Erfolgen nicht mehr gratulieren. Mathilde behalf sich in den 50er Jahren über das Publikationsverbot hinweg mit dem Schreiben von Briefen, die ihre Anhänger dann druckten und veröffentlichten. Die UNO sei ein Werk der "jüdischen Hochfinanz", schrieb sie 1952 schon wieder; es sei nötig, "daß die 'Vereinten Nationen' ganz öffentlich als die der jüdischen Weltherrschaft untergebenen Völker des Erdballs kenntlich gemacht werden." Organisationen wie der "Ahnenstätte Hilligenloh e. V." dienten in der Verbotszeit als Auffangbecken für die Sektenmitglieder. Hier konnte das Vereinsleben unter dem Etikett des angeblich unpolitischen Totengedenkens fortgeführt werden.

1976, als die Sekte wieder legalisiert war, schrieb der Ludendorffer Gunther Duda in einem Propagandaheftchen, durch die Gedanken der Gründerin erfahre "die Gemeinschaft, das Volk, den göttlichen Sinn seines Seins, und die 'Geschichte der Gegenwart', die Politik, gewinnt ebenso wie die Erziehung und die Kultur gültige Grundlagen." Von der "Verschmelzung von 'Religion' und Politik" ist die Rede: "Geistig, 'religiös' und politisch sind eine Einheit, sind einheitliches Denken, Wirken und Gestalten der menschlichen Seele in und für die Gemeinschaft, den großen unersetzlichen Lebensorganismus Volk." Mathilde Ludendorff hatte dies im Jahre 1924 in ihrem Vortrag "Der göttliche Sinn der völkischen Bewegung" bereits ausgeführt. Kein Volk sei so wie das andere, läßt sie uns wissen, darum gebe es auch keine universell geltenden, allgemein menschlichen Regeln und Gesetze. Wer alle Völker über einen Kamm schere, über seien eigenen Kamm, wie es die Juden mit ihrem angeblich "arteigenen" Anspruch allgemein gültiger Gesetze täten, der wolle nur die Weltherrschaft seiner Regeln über alle Völker. Völkische Politik heißt dagegen: "Eigenes" gegen "Fremdes", "Germania" gegen "Juda". "Jedem das Seine" stand auf dem Eingangstor des Nazi-KZ Buchenwald, dem KZ für "die Politischen", wo den Linken, die an der Gleichheit der Menschen festhalten wollten, völkisches Denken eingeprügelt werden sollte.

Die Ahnenstätte Hilligenloh ist mehr als ein beschaulicher Begräbnisort einer heidnischen Sekte. Hier liegen nicht nur Tote, und ruhen tun sie schon gar nicht, weder im naturreligiösen noch im politischen Sinn. Das Recycling des Lebens im ewigen "Werden und Vergehen" des Kosmos gilt auch politisch. "Machet des Volkes Seele stark" gegen den "undeutschen Geist" der Einen Welt, gegen die Menschenrechte, gegen die Gleichheitsforderungen: Das ist die wahre Botschaft dieses naturnahen Friedhofs in einem so friedlich erscheinenden Wäldchen. Ein Großteil dieser Ideologie wird heute im New Age wiederverwendet, ob es den naturmystischen Esoterikern bewußt ist oder nicht.

Hilligenloh: Die "Sippe Sch." ließ das Hakenkreuz seitenverkehrt in den Findling-Grabstein meißeln. Andernfalls käme vielleicht der Staatsanwalt.

Alain de Benoist schrieb 1988 in dem Buch "Mut zur Identität. Alternativen zum Prinzip der Gleichheit" über die Menschenrechte. Das Buch erschien im "Thule-Seminar", dessen ideologische Produkte der Bundesinnenminister 1987 als "völkisch-elitär" einstufte. "Thule-Gesellschaft" hieß der religiöse Geheimorden, aus dem am Ende der zehner, Anfang der zwanziger Jahre die NSDAP entstand. Zahlreiche ideologische Führer der Nazis von Heß bis Himmler waren Mitglied der "Thule-Gesellschaft" gewesen, die in der faschistisch-okkultistischen Szene Münchens beheimatet war, wo Alexander von Schrenck-Notzing und Mathilde von Kemnitz wirkten und Erich Ludendorff "zufällig" beim Feldherrnhallen-Putsch vorbeikam. Die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen, so Benoist siebzig Jahre später im "Thule-Seminar", sei der bisher letzte Versuch des Judentums, mit der Deklaration allgemeinverbindlicher Gesetze die Weltherrschaft über die Völker der Erde zu erlangen. Sie seien ebenso wie die mosaischen Gesetzestafeln abzulehnen. Denn Völker seien in Wahrheit verschieden, unterschiedslos gleiche Rechte und Gesetze seien ihr Tod, der Tod ihrer je verschiedenen "nationalen Identitäten". Mit der Verbreitung der Moses-Geschichte und der Überlieferung vom Berg Sinai habe dieses "Völkersterben" nach dem Willen der Juden begonnen, denn nur geistig-moralisch, "innerlich" geschwächte, ihrem "Eigenen" entfremdete Völker seien durch die Juden beherrschbar. Das Buch "Mut zur Identität" erschien im "Verlag für ganzheitliche Forschung und Kultur" des Ludendorffers Roland Bohlinger, der in seiner Zeitschrift "Nation" 1992 für das indizierte Buch "Die verlorene Legion" des belgischen SS-Führers Léon Degrelle warb. In dem Blatt schreiben neben Degrelle auch zwei enge Mitarbeiter des Nazi-Propagandaministers Josef Goebbels: Wilfried von Oven und Fritz Hippler. Benoist war in den siebziger Jahren Chefredakteur des "Figaro Magazine", der Wochenendbeilage der großen konservativen Zeitung Frankreichs, "Le Figaro". Kein isolierter Sekten-Spinner also.

In "Mut zur Identität" schreibt auch die gelegentliche Kolumnistin der Springer-Tageszeitung "Die Welt", Sigrid Hunke, bei Erscheinen des Buches noch Ehrenpräsidentin der "Deutschen Unitarier Religionsgemeinschaft e. V.". Diese Sekte pflegte vor allem in der Zeit des Ludendorffer-Verbotes zur Konkurrenz intensive Kontakte: Nach dem Tode Mathildes in den sechziger Jahren druckte die Zeitschrift der "Deutschen Unitarier" namens "glaube und tat" einen Nachruf und einen Text der Dame mit Schreibverbot. Noch in den achtziger Jahren beschäftigte sich das Nachfolgeblatt "unitarische blätter" positiv mit Mathilde Ludendorff und warb für deren Buch "Triumph des Unsterblichkeitswillens". Die Werbung stand auf derselben Seite, auf der auch das im "Verlag Deutsche Unitarier" erschienene Buch "Orientierung im Dasein" von Hubertus Mynarek angepriesen wurde. Man steht sich eben nahe.

Der Tod als Leben

"Der Mythos offenbart die Geschichte, und der Mensch wächst über seine Götter hinaus durch die Verbundenheit mit seinen Ahnen, seinem Boden, dem Wind und den Steinen, weil nur die Nachkommen und deren Taten zur Ewigkeit zu führen vermögen", so lauten die ersten Sätze aus dem Programm des "Thule-Seminars" von 1980. (383) Die politische Seite der Naturreligiösität, deren Ziel die von Ethik freie selbstgöttliche Tat ist, bemüht alles das, was auf einer "Ahnenstätte" sinnlich und angeblich mystisch erfahrbar ist. In der Weise, wie der Unterschied zwischen Gut und Böse verwischt wurde, um frei zu sein für die Tat, so wird auch der Unterschied zwischen Leben und Tod verwischt. Wo alles Eins ist, da gibt es diesen Unterschied nicht mehr. Beides, Tod und Leben, Dunkel und Hell, Leid und Glück, sind gleichermaßen Teil des All-Göttlichen, das eine als "Yin", das andere als "Yang", keines der beiden ist ein Zuvermeidendes. Es ist nicht mehr der höchste Wert der menschlichen Tat, konkretes menschliches Leben zu erhalten, wenn dieses Leben nur als Teil des Ganzen erscheint, das Ganze als "Werden und Vergehen" gesehen wird, und das konkrete Leben nur einen relativen Wert innerhalb des Ganzen hat. In der Ideologie der "Neuen Rechten" wird zwar viel vom "Leben" gesprochen, Albert Schweitzers Formel von der "Ehrfurcht vor dem Leben" wird immerfort leergedroschen, aber es ist niemals das konkrete Leben konkreter Individuen gemeint - wie bei dem Urwaldarzt Schweitzer, der hier holistisch verfälscht wird -, sondern das abstrakte "Leben" des Kosmos als Ganzheit. Der Kosmos ist nicht als Realität im Sinne des Materialismus und der Naturwissenschaft gemeint, sondern irrational: als Instanz. Seine Regeln, seine Gesetze sind das, worauf es ankommt; sie sollen in die menschliche Gesellschaft getragen werden, um hier Ungleichheit zu rechtfertigen, Leid zu legitimieren und Opfer abverlangen - bis zum Opfer des konkreten Lebens des Individuums für das abstrakte Ganze.

Doch trotz aller "Einssein"-Duselei gibt es das "Tote". Es wird "judaisiert": als das Rationale, Mechanische, Utilitaristische usw., als das, was als "westlich", "zivilisiert", "krank" gilt. In der faschistischen Ideologie - teilweise auch im New Age - rührt dieses "Tote" vom "toten" Gott des Juden- und Christentums her, den Gott außerhalb der "lebendigen" Welt. Dieses ganzheitliche Verständnis von Leben und Tod als "All-Leben" ist die faustische, "Sünden"-freie Alternative zum alt- und neutestamentlichen Tötungsverbot und seinen säkularen Nachfolgern in den Gesetzen als zwischenmenschlich vereinbarten Verträgen, die auf der Basis der Vernunft den gegenseitigen Respekt vor der körperlichen Unversehrtheit garantieren. Die Idee vom "All-Leben" gestattet, ja fordert bisweilen sogar das Töten oder Sterbenlassen, wenn dieses - mystisch "erfahrbar" - als Sinn des Ganzen ausgegeben werden kann. Und es erleichtert diese Taten mit der Vorstellung, der Tote gehe materiell in der kosmischen Ganzheit auf, sowohl als ein neues Werden aus seiner chemischen Substanz als auch in seinen Nachkommen als der genetischen Kontinuität.

Auch dieser Teil des ganzheitlichen Denkens ist wiederum nicht in sich konsistent, denn die Ahnen-Nachkommen-Kontinuität müßte ja zum Erhalt z. B. auch behinderten Lebens verpflichten, tatsächlich wird aber hieraus nach dem Bild der Natur und des Gesetzes vom Recht des Stärkeren im Kampf ums Dasein die Euthanasie hergeleitet. In Wahrheit geht es bei dieser Kontinuität auch nur wieder um ein Abstraktum, nicht um die Fortpflanzung konkreten Lebens. Dieses Abstraktum ist idealisiert, es verträgt keine Behinderung. Wir haben bereits oben aufgezeigt, wie die Vorstellung Rudolf Bahros von dem Überleben der Gattung Mensch "im großen und ganzen" auf das Abstraktum abhebt und nicht auf das Überleben einzelner, bestimmter Individuen. Dieses Konzept der Einheit von Leben und Tod hat selbstverständlich als "ethische" Basis des Komplexes Auschwitz inklusive des Nazi-Euthanasie-Programms seine Vorläufer, die noch vor Ernst Kriecks ganzheitliches Denken oder die faschistischen "deutschgläubigen" Sekten zurückreicht.

Krieck spricht in dem schon zitierten "New Age"-Jahrgang seiner Zeitschrift "Volk im Werden" von der "Auflösung des Gegensatzes von lebender und lebloser Natur." Er verlangt, "die Grenze zwischen tot und lebend ... zu überwinden." "Ich bestreite die Existenz der Grenze, der metaphysischen Kluft zwischen Lebendigem und dem angeblich Toten. Sie ist auch empirisch nicht auffindbar: alles ist kontinuierlicher Wandel des Lebendigen, wie er zum Beispiel im Stoffwechsel, in Ernährung und Wachstum vorliegt." Trotz aller Demagogie von "Dialektik" in der "Neuen Rechten" und ihren direkten Vorläufern wird hier der Umschlag von Quantität in Qualität nicht als empirisches Phänomen anerkannt. Es sei klar, "daß es 'Totes' an und für sich gar nicht gibt, daß 'Totes' allemal nur zeitweilige Absonderung und Isolierung aus Lebendigem ist", so hatte Krieck in seinem Buch "Leben" aus dem Leipziger Armanen-Verlag geschrieben. Solche Ansichten entsprechen dem breiten Strom des Faschismus, nicht etwa randständigen und ständig befehdeten Einzelgängern. Adolf Hitler hatte laut Hermann Rauschning in seinen "Tischgesprächen" gesagt: "Der christlichen Lehre von der unendlichen Bedeutung der menschlichen Einzelseele und der persönlichen Verantwortung setze ich mit eiskalter Klarheit die erlösende Lehre von der Nichtigkeit und Unbedeutendheit des einzelnen Menschen und seines Fortlebens in der sichtbaren Unsterblichkeit der Nation gegenüber." Dies ist nur eine andere Formulierung der Sätze aus dem "Thule-Seminar"-Programm von 1980. Sigrid Hunke schrieb 1969 in "Europas andere Religion": "Zeugung und Zerstörung, Werden und Vergehen, Geburt und Tod, beides hat sein Recht und seinen göttlichen Sinn für das Ganze. ... Und darum geht nichts völlig zugrunde. Darum ist Tod kein gänzliches Aufhören, kein Ende und Untergang." "Überall werden endgültig die einst scharf gezogenen Scheidegrenzen zwischen Belebtem und Unbelebtem niedergelegt, wie es am augenfälligsten die Molekular-Biologie bei der Enträtselung des genetischen Codes getan hat", verkündet die promovierte Philosophin scheinwissend, "ebenso wie zwischen atomaren und kosmischen Strukturen. ... Es ist das uralte europäische Prinzip der coincidentia oppositorum, das allenthalben in der modernen Physik als das von dem Dänen Bohr so genannte 'Komplementaritätsprinzip' wiederkehrt. "Jeder", schreibt Hunke weiter, meint aber nur Nordeuropäer und auch Frauen, "der sich seiner Verwurzelung im göttlichen Weltgrund bewußt wird und sich ihm öffnet, dem leuchtet Gott aus allem und in allem. Dem wird die Welt in Schönheit und Schrecken, Geburt und Tod, Seligkeit und Gefahr, Schuld und Scheitern transparent für das Göttliche. Dem wird jede Begegnung, die ihn liebkost, ihn anspornt, stößt oder bricht, eine Berührung mit der 'Hand Gottes'". Der christliche Gott "bricht" den Gläubigen nicht, sondern liebt ihn; die Linke kämpft politisch gegen das "Brechen" von Menschen durch die Gesellschaftsstruktur; "ganzheitliche" Religiösität dagegen heiligt das Brechen und Gebrochensein, das Leiden des Menschen, statt es zu bekämpfen. (384)

Nach der gänzlichen Niederlage vom 8. Mai 1945 erscheint diese fatalistische Weltsicht für eine faschistische rechtsextreme "Religionswissenschaftlerin" verständlich und angemessen, die 1940/41 unter Bezug auf die SS-Zeitschrift "Das Schwarze Korps" promovierte. "Das Schwarze Korps" ist berüchtigt dafür, daß es den Komplex Auschwitz für das "Gewissen" der KZ-Täter ideologisch vorbereitete und legitimierte und schon im März 1937 vehement für ein mörderisches Euthanasie-Gesetz eintrat, "das der Natur zu ihrem Recht verhilft", wie es hieß. Doch Hunke macht etwas Zukunftsweisendes für den faustischen "Arier", den sie Europäer nennt. Den nazi-hofierten Dichter Rainer Maria Rilke zitierend, schreibt sie: "'Lebens- und Todesbereitschaft (!) erweist sich als eines in den Elegien', so deutet Rilke selber seinem Übersetzer ihren Sinn. ... Rilke unternimmt das Ungeheure: er legt die Grenzpfähle nieder zwischen Leben und Tod, er reißt die Mauern ein zwischen Lebenden und Toten, er besiegt die Schranken zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Gegenwart und Zukunft!" Hunke gibt hier mit Rilkes Worten nicht nur eine Darstellung des Heroischen Realismus Ernst Jüngers von der "Lust", sich im angeblichen Einklang mit dem Ganzen "in die Luft zu sprengen". (Jünger selbst war allerdings zu feige dazu, Hunke ebenfalls; das ist die jämmerliche Realität der heroisch-realistischen Helden, die immer nur anderen das Sterben abverlangen.) Sie zieht auch die Linie der Kraft zur faustischen Tat von den Ahnen her.

Selbst Mord mag nun als Gottestat erscheinen: "Erst indem er (d i. der "in sich selbst zerspaltene moderne Mensch, der sich aus der tiefsten Verlorenheit in einer chaotischen Welt nach einem das Nur-Hiesige Übersteigenden, nach den göttlichen Ordnungen sehnt", so Hunke, P. K.) die Gegensätzlichkeiten des Lebens, auch sein Furchtbares, auch den Tod bejaht, aushält, es in seiner ganzen Tiefe durchleidet, gewinnt er, sich verwandelnd, die Kraft, das Irdische zu übersteigen und seine Göttlichkeit zu erfahren. Und erst diese Hinordnung auf das alles umfassende Seinsganze heilt den Menschen, weist ihm Sinn und Ort im Ganzen an, aus dem er nun nicht mehr herausfallen kann." "Sich sieghaft im Schicksal zu bewähren", diese Forderung des Nazi-Sekten-Stifters und Hunke-Vorbilds Wilhelm Hauer aus seinem Buch "Deutsche Gottschau" von 1934 kommt in neuer Sprache bei Hunke zum Ausdruck. Es wurde von Heinrich Himmler in seiner bekannten Geheimrede an die SS-Schergen über das innere "Sauberbleiben" als tausendfacher KZ-Mörder variiert. "Aber ist Gott auch in jedem Tod und durch jeden Tod zu finden? fragt Teilhard", so Hunke über den New Age-faschistischen Pierre Teilhard de Chardin, "und Teilhard antwortet: 'Übersteigen wir den Tod, indem wir in ihm Gott entdecken! Und das Göttliche wird sich auf einen Schlag in unseren Herzen selbst finden, in der hintersten Falte, die Ihm entgehen zu können schien.'" Mit der "hintersten Falte" kann in diesem Umfeld des Faschismus nichts anderes gemeint sein als das KZ, der Krieg, die Euthanasie, die Gentechnik. Hunke führt kurz vorher für die Nordeuropäer aus: "In jedem Wachstum lassen wir Gott in uns größer werden. Für uns, die wir ihn in allen Elementen des Weltalls berühren, sind das Übel und das Böse, Leid, Einsamkeit und Angst Stufen unseres Wachsen ebenso wie alle Unvollkommenheiten, Krankheiten und Fehlentwicklungen im Universum notwendige Tastversuche sind und die Stufen des Sich-Ordnenden und des ewigen Werdens. Alles Negative bewirkt im Ganzen ein Großes und Neues." Der Komplex Auschwitz wird in diesem "Neuen Denken" zur "Fehlentwicklung" verharmlost, der sogar eine Notwendigkeit für das Ganze zugesprochen werden kann. (385)

In ihrem Buch "Tod was ist dein Sinn?" von 1986 arbeitet die fast achtzigjährige Hunke die Vorstellung vom Tod als Leben als Haupt- und Zielpunkt der "eigenen" Religion aus, die im vermeintlich arischen Europa bereits Jahrtausende alt sein soll. Das Buch gipfelt in Sätzen wie "Im Tod wird der Mensch erst er selbst", in Zitaten des älteren Jakob von Uexküll wie "So kehre jeder im Tode aus dem Werden in das Sein zurück", in der mit Teilhard aufgestellten Forderung nach dem "Vertrauen in den Tod" und danach, den Tod "zu entdecken als ungeheure Verwesentlichung" des Nordeuropäers. Dies alles hat ein Ziel: den Tod des Individuums für das Ganze zu legitimieren, insbesondere die Forderung nach dem angeblichen Opfertod des angeblichen Helden im Krieg oder in sonstigen Kämpfen. (386)

Die extremste Affirmation alles Seienden ist die Affirmation des Todes - und im politischen Zusammenhang Hunkes und der faschistischen Sekten zu erkennen: des Tötens -, geheiligt und damit aus der menschlichen Verantwortung genommen durch die pantheistische "All-Einheit". Im Glaubensbekenntnis der 1913 gegründeten Sekte "Germanische Glaubensgemeinschaft" (GGG) lautet der zehnte und letzte Punkt: "Über das Grab hinaus aber schauen wir mit ganzem Vertrauen in die Unendlichkeit, daher wir gekommen sind. Unsere Aufgabe ist, dieses Dasein zu erfüllen - sie zu bestimmen ist das Recht und die Kraft des Geistes, der das All durchdringt und uns, in Zeit und Ewigkeit." Der Gründer der GGG, der "deutschgläubige" Ludwig Fahrenkrog, wird auch von den "Deutschen Unitariern" geschätzt. Sein Wahlspruch lautete: "Gott in uns, das sittliche Gesetz in uns und die Selbsterlösung." "Was ist deutscher Glaube?", heißt es 1935 in einem Flugblatt der "Deutscher Glaubensbewegung" (DG), der unmittelbaren Vorgängerin der "Deutschen Unitarier", die von Wilhelm Hauer gegründet wurde. Die Antwort: "Glaube an das All-Wirkende, an das ewige Stirb und Werde, an den religiösen Urwillen unseres Volkes. Glaube an das Starke und Tapfere, das Edelmütige und Heldische unseres Volkes." In den "Grundgedanken" der "Deutschen Unitarier Religionsgemeinschaft e. V." (DUR) liest sich dasselbe - zeitgemäß abgemildert - heute so: "Vom Leben: Wir sehen das Leben als einen nicht endenden Ablauf von Entstehen, Sichentwickeln und Vergehen. Wir bejahen es in seiner Gesamtheit und stellen uns auch seinen Widersprüchen und Härten. Im Tod des Einzelwesens erkennen wir eine unausweichliche Voraussetzung für die Vielfalt des Lebens. ... Über den Tod hinaus vermag der Mensch besonders durch sein Denken und Handeln sowie durch seine Nachkommen fortzuwirken."

"Nur aufgrund seiner Verwurzelung in seinen Ursprüngen", so führt uns Hunke zu den ideologischen Hintergründen der "Ahnenstätten" faschistischer Sekten zurück, die sie allerdings nicht direkt nennt, "in seiner Heimat, seinen Vorfahren, in seinem Volk und seinen Toten, aufgrund seiner Bindung an Vaterland, Nation und Geschichte und seines Gründens im religiösen Bereich verfügt der Mensch über die Freiheit, im Bewahren des Bewährten und in der Kontinuität des in allem Wandel bestehenden Zusammenhangs des historisch Gewordenen aktiv in die Geschichte einzugreifen, selber Zwecke und Ziele zu setzen und die Entwicklung mitzubestimmen, zu planen und zu gestalten." Die faschistische Tat wurzelt in den naturreligiösen Mythen der Vorfahren. (387)

Tote soll man ruhen lassen? Die "Ahnenstätten", als eingetragene Vereine organisiert, sind fest in die regionale "Heimatpflege" und die freigeistige Religiösität integriert, obwohl sie oftmals von Faschisten beherrscht werden. Sie bieten fernab der politischen Auseinandersetzungen und der Beobachtung durch den Verfassungsschutz Refugien für eine menschenverachtende Ideologie, deren Schlußfolgerungen - würden sie denn öffentlich ausgesprochen - wegen ihres Gewaltpotentials möglicherweise sogar zu einem Verbot führten. Grabsteine aber kann man nicht verbieten. Gibt es etwas friedlicheres als einen Friedhof? "Ahnenstätten"-Vereine in Norddeutschland stehen in intensiver Verbindung mit den "Freien Humanisten Niedersachsen", einer Untergliederung des "Bundes der Freireligiösen Gemeinden Deutschlands". Querverbindungen zum ökofaschistischen "Weltbund zum Schutz des Lebens" wurden ebenso nachgewiesen wie zu örtlichen Heimatvereinen oder bekannten Rechtsextremisten wie dem Bassumer Alfred Manke, in dessen "ALMA"-Verlag auch Sigrid Hunke publizierte. Verbindungen gibt es auch zu Jürgen Riegers rassistischer Zeitschrift "Neue Anthropologie", in deren "wissenschaftlichen Beirat" Alain de Benoist sitzt. Einem prominenten Ludendorffer des "Ahnenstättenvereins Conneforde" aus dem Landkreis Ammerland im Ostfriesischen wurde 1988 - just in der Zeit des "Geist und Natur"-Kongresses - vom damaligen niedersächsischen CDU-Ministerpräsidenten Ernst Albrecht sogar der niedersächsische Verdienstorden am Bande für seine ehrenamtliche Arbeit zur Heimatpflege verliehen. (388)
 

Auch der neuheidnische "Ahnenstättenverein Conneforde e. V. " im Kreis Ammerland in Niedersachsen, gegründet 1958, wirbt mit der aufgerichteten "Irminsul" vom (christlichen) Felsrelief der Externsteine. In dem Jubiläums-Heftchen von 1998, dessen Rückseite hier abgebildet ist, gedenkt der Verein seiner Mitbegrüderin Marie Adelheid Prinzessin Reuß-zur Lippe, einer alt- und neonazistischen Agitatorin der Deutschen Unitarier Religionsgemeinschaft (vgl. Kapitel 5), und zitiert Antoine de Saint-Exupéry mit dem Sinnspruch: "Eine Gemeinschaft ist nicht die Summe von Interessen, sondern die Summe an Hingabe".

"Ahnenstätten" sind offenbar ideologische Drehscheiben nicht nur zu Zeiten der Sonnwendfeiern. Die Idylle des natürlichen Bewuchses, die Verschiedenheit der naturbelassenen Findlinge, der Glaube an das Eintauchen der Verstorbenen in den ewigen Naturkreislauf der Heimat verweisen auf plattesten Biologismus. Eine "naturgewollte Lebens- gestaltung" wollen uns die Ludendorffer lehren. Wie kein Findling dem anderen gleicht, so seien auch die Völker verschieden, mit verschiedenen Plätzen und Aufgaben im Ganzen. Es ist die alte rechtsextreme Propaganda von den Naturphänomenen als Vorbild einer menschlichen Gesellschaft, in der dem einzelnen Individuum eine Bedeutung nur in seiner dienenden Funktion als Teil des Ganzen, niemals für sich selbst, zukommt. Die neofaschistische intellektuelle Elite der "Neuen Rechten" hat das "Recht auf Ungleichheit" (Benoist) als politisches Mittel im Kampf gegen Demokratie und Menschenrechte, für den Fortbestand der Privilegien weniger entdeckt. Das Hakenkreuz auf Omas Grabstein sagt dem Enkelkind fünfzig Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs: Die "naturgewollte" Gestaltung Europas setzt die deutschen Herrenmenschen an die Spitze ungleicher Völker.
Wer hinter der Naturidylle der Ahnenstätten die alte Ideologie erblickt, den überkommt wieder das Grauen. Da dürfen keine Lebenden mehr ruhen.

Mit "Begleitung" ins New Age-Grab

Der Tod ist "in". Während der letzten Jahre rückten Sterben und Tod wieder in die Mitte der Gesellschaft. Doch es ist nicht der Kampf gegen Krebs, Aids und Tschernobyl gemeint, auch nicht eine Friedenspolitik gegen die Bürgerkriege in Europa gemeint. Der Tod als Phänomen erregt Interesse, auch im New Age. Personifiziert als "Gevatter" gewinnt er wieder eine gesellschaftliche Akzeptanz, wie er sie im Mittelalter hatte, Erlebnisqualität inbegriffen. "Nahtod-Erlebnisse" bzw. "Out of body"-Erlebnisse heißen die Berichte, in denen immer wieder der fließende Übergang vom Leben zu angeblichen Todeszuständen von solchen Personen geschildert werden, die behaupten, dann wieder ins Leben zurückgekommen zu sein. "Wenn der Tod seinen Schrecken verliert", "Besser mit dem Leiden leben. Behinderte Frauen und Esoterik" oder "Lebendiger leben lernen durch den Tod?" heißen die Überschriften in New Age-Magazinen, in denen das Geschäft mit Leid und Tod boomt. Die New Age-Stars Elisabeth Kübler-Ross und Shirley MacLaine verdienen kräftig am "Leben danach", das als irdisches gemeint ist. "Wissenschaftliche Beweise für das Fortleben der Seelen nach dem Tode" wollen PSI-Fanatiker aus "paranormalen Tonbandstimmen" herauslesen. Verstorbene, die etwas mehr auf Zack sind, hinterlassen in Rußland Botschaften auf Computerbildschirmen, so berichtete jedenfalls "esotera" im Dezember 1991.

Hier wird auf der Erscheinungsebene die ideologische Auflösung des Unterschieds zwischen Leben und Tod ergänzt. Wenn Menschen, die schon "drüben" waren und dann auf geheimnisvolle Weise "wiedergekommen" sind, ihre angeblichen Erlebnisse erzählen, bekommt die abstrakte Rede von der "coincidentia oppositorum" einen scheinbar alltäglichen, faßbaren Charakter, ist nicht länger nur abgehobene Philosophie. Die indische Inkarnationslehre - der Glaube an Seelenwanderung und Wiedergeburt - ist hier ebenso zu nennen wie Fritjof Capras Ansicht vom zyklischen Charakter der Welt: "Das Begreifen des Zyklus von Werden und Vergehen ist außerordentlich notwendig für das Verstehen der 'dynamischen Ordnung des Kosmos'", so Capra. Man solle sich nicht ans Leben klammern, empfiehlt Erich Fromm, statt dessen lieber das Leiden teilen oder als "Held" in die Welt hinausziehen und etwas riskieren. Von einer tätigen Barmherzigkeit oder Solidarität, die Leiden lindert oder gar die Bedingungen des Leidens politisch verhindert, ist hier keine Rede. Konkretes Leben von Individuen wird geringgeschätzt. (389)

"Hoffnung und Inspiration im Tod finden" verspricht eine New Agerin auf Flugblättern, mit denen sie in esoterischen Buchläden für ihre Kurse zur Sterbebegleitung wirbt. Während sich die Ärzte noch um den Erhalt des Lebens von Kranken bemühen, gehen die Verwandten bereits heimlich in die Sterbebegleitungs-Seminare, die inzwischen überall in Deutschland von privaten "Instituten" angeboten werden. Eine besondere Einrichtung dieser Art ist die Genossenschaft "Begleitung", die der Kirchenreferent beim Parteivorstand der SPD, Rüdiger Reitz, initiierte und zeitweise aus den Räumen der Bonner Parteizentrale heraus führte. Reitz, der sich als Trauerredner etwas nebenher verdient und an den Gräbern freireligiöser und freidenkerischer Verstorbener spricht, versuchte immer wieder, die Tatsache herunterzuspielen, daß "Begleitung" auf lebhaftes Interesse auch bei rechtsextremen Sekten stieß. Die Kontakte liefen vor allem über den damaligen Präsidenten des "Deutschen Volksbundes für Geistesfreiheit" (DVfG), Fritz Bode, und den damaligen Präsidenten des "Bundes der freireligiösen Gemeinden Deutschlands" (BFGD), Armin Rieser, dessen Frau, Else Rieser, in der SPD aktiv ist und in den achtziger Jahren Funktionsträgerin der Partei war. Beide Riesers verbreiteten innerhalb der SPD Schriften der "Deutschen Unitarier". Der BFGD ist seinerseits ein Dachverband überwiegend pantheistisch-naturreligiös Eingestellter und hat traditionell Verbindungen in die SPD und die FDP, weil seine Mitglieder weniger einer Partei beitreten wollen, die das Christentum im Namen führt. In ihren Reihen haben diese Freireligiösen aber auch stramme Nazis. Ein Teil des BFGD versuchte in den Jahren 1933/34, die Freireligiösen mit den nazistischen "Deutschgläubigen" zusammenzuschließen. Wilhelm Hauer war damals in Personalunion Chef des BFGD und der "Deutschen Glaubensbewegung". (390)

Der langjährige Bundessekretär des BFGD Dietrich Bronder war vorher NSDAP- und SA-Mitglied, dann Offizier in Hermann Görings Luftwaffe. 1990 äußerte er sich als "Auschwitz-Lügner": "Ich bin von Auschwitz nicht überzeugt worden", schrieb er und befand kurz und bündig, Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß habe als einziger Deutscher den Friedensnobelpreis verdient. Dreißig Jahre war Bronder führender Funktionär der "Freireligiösen Landesgemeinschaft Niedersachsen", die heute "Freie Humanisten Niedersachsen" heißt. In Bodes Verein DVfG - überwiegend eine Nachkriegs-Nazi-Gründung - hatten sich die "Deutschen Unitarier" und ihre Zweigorganisation "Eekboom-Gesellschaft" mit dem BFGD zusammengeschlossen - man ist sich also aus gemeinsamer nazistischer Tradition vielfach verbunden. Rieser und Bode veröffentlichten unter diesem Dach Schutzschriften für die "Deutschen Unitarier", die wegen ihrer Nazi-Traditionen angegriffen wurden. Heute ist Bode Chef des neu gegründeten "Dachverbandes freier Weltanschauungsgemeinschaften", dessen heterogene Mitgliedsgruppen durch die Gegnerschaft gegen die christlichen Großkirchen geeint werden: Neben dem "Deutschen Freidenker-Verband", der sich inzwischen "Humanistischer Verband Deutschlands" nennt und seine linke Tradition weitgehend aufgegeben hat, gehören dem neuen Dachverband die "Freigeistige Aktion/Deutscher Monistenbund" an - das sind die Anhänger des Sozialdarwinisten Ernst Haeckel -, und auch wiederum die "Eekboom-Gesellschaft", der BFGD und die nazistischen "Deutschen Unitarier". Der weiterhin linke Landesverband Nordrhein-Westfalen der Freidenker schloß sich wegen dieser Nähe zu (Neo-) Faschisten dem "Humanistischen Verband Deutschlands" nicht an und blieb selbständig.

Die Beerdigungs-Genossenschaft "Begleitung - Lebenshilfe, Bestattung, Trauerkultur" bestätigt den Ausspruch von Karl Marx aus dem "Achtzehnten Brumaire", wonach sich die Geschichte immer zweimal vollziehe, einmal als Tragödie, das andere Mal als Farce, und beim zweiten Aufguß lasteten die Traditionen aller toten Geschlechter, die Geister der Vergangenheit, auf den Gehirnen der Lebenden wie ein Alp. Als abgeschmackte Posse auf rechte Sozialpolitik bis ins Grab erscheint "Begleitung", ist aber ernst gemeint. Die Unternehmensform der Genossenschaft zielt auf die "neuen sozialen Bewegungen", in denen Kapital und Problembewußtsein vermutet wird. Das Unternehmen bietet passend zur Aids-Zeit und zum Finanzstopp für die Aids-Modellprojekte ein Kompakt-Paket von Sterbebegleitung, Beerdigung, Grabpflege und Nachlaßverwaltung, das vor allem für Singles ohne Anhang attraktiv erscheint. Solche Allround-Institute des Todes bilden sich zur Zeit überall in großen Städten. Besonders HIV-positiv getestete Menschen schließen hier vermehrt "Versorgungsverträge" ab, wie die Berliner Schwulenzeitschrift "Siegessäule" im April 1993 berichtete. Der Markt ist in der "Risikogesellschaft" auch darüber hinaus vorhanden: Krebserkrankungen, Unfälle bei Macho-Sportarten, Gewalt auf dem Schulhof oder im Bürgerkrieg - die Liste potentieller "Versorgungs"-Kunden könnte in Zukunft sicher noch verlängert werden.
 

Todesanzeigen mit New Age-Zeichen sind in den 90er Jahren vermehrt in Zeitungen zu sehen.

Hierüber sollen offenbar auch die laufenden Einnahmen für das Projekt "Begleitung" erwirtschaftet werden. Die anfallenden Arbeiten, insbesondere die Betreuung der Sterbenden und Trauernden, werden dagegen real - so läßt sich aus den Prospekten von "Begleitung" schließen - überwiegend als unbezahlte Frauenarbeit geleistet. Das heißt dann "ehrenamtlich" und ist gesellschaftsspezifisch eine typisch weibliche Tätigkeit. Eins zu drei sei das Geschlechterverhältnis "zugunsten der Frauen" in den Betreuungsgruppen, so Reitz. Beim Personal ist man auf Personen mit Helfersyndrom angewiesen: "nichtprofessionelle Helfer, die in dieser Arbeit einen Gewinn für sich selber sehen." Das ist vom psychologisch-therapeutischen Standpunkt aus sehr problematisch: Therapeutinnen mit psychischen Eigeninteressen sind in der Fachwelt nicht gut angesehen.

Das Unternehmen wurde nach einer vorherige "Marktanalyse" generalstabsmäßig geplant. Mit reißerischen Flugschriften sammelte die "Genossenschaft in Gründung" ab 1989 das Startkapital: "Investieren Sie bei uns gegen das Geschäft mit dem Tod" hieß es da in einem Prospekt, und: "Hier ist der 'Gründungsfahrplan': 1. Sie füllen den Coupon aus. ... 2. Der Mitglieds- (oder besser Geschäfts-) anteil beträgt DM 150,-. ... 3. Was wir jetzt dringend brauchen, ist eine hohe Eigenkapitaldecke. ... 4. Die Zinsen aus Ihrem Treugeldanteil werden für die Öffentlichkeitsarbeit verwendet. ... 5. Ziel unserer Treugeldkampagne sind wenigstens DM 150.000,-. Unabhängig von dem künftigen Standort von Begleitung in der Region Köln/Bonn: Auch wenn Sie weiter weg wohnen - Begleitung könnte für Sie eine erste Adresse werden. Wir erarbeiten gegenwärtig ein Leistungsangebot für andere Regionen und Richtlinien für den Aufbau von regionalen Trägerkreisen. Machen Sie deshalb Begleitung durch Ihren Treugeldanteil 'grenzenlos' stark." Das also ist New Age-Trauerkultur.

Nach Hinweisen in der Öffentlichkeit auf das Interesse rechtsextremer Sekten an der Firma gab "Begleitung" zeitweise keinerlei Informationen mehr nach außen. Jegliche öffentliche Erklärung namens der Genossenschaft behielt sich Rüdiger Reitz persönlich vor. Bekannt ist jedoch, daß die Werbeprospekte breit in den Bode- und Rieser-Vereinen verteilt wurden und auch aus den nazistischen "Deutschen Unitariern" Interesse angemeldet wurde. Es ist kaum anzunehmen, daß Geld-Angebote zurückgewiesen worden wären. Inzwischen hat sich die Genossenschaft gegründet und in mehreren deutschen Großstädten Ableger gebildet.

Bewußt zielt "Begleitung" in den Werbeprospekten auf Naturmystik und dieselbe "Trauerkultur", die auch "Ahnenstätten" faschistischer Sekten auszeichnen. Das Unternehmen will "in einer bedrohten Welt eine geistige Orientierung sein. Nur wenn wir die ganzheitliche Sicht des Seins zurückgewinnen, können wir in der Verantwortung vor der Schöpfung überleben. Ganzheitlichkeit haben Generationen vor uns in der bewußten Beschäftigung mit Leben und Tod bereits zu Lebzeiten erfahren. Für eine Wiederbelebung dieser Erfahrung möchte Begleitung dasein." Statt sich z. B. auf der Basis der Befreiungstheologie für ein besseres Diesseits einzusetzen, sucht der SPD-Kirchenreferent die Ganzheit von Leben und Tod. Das pantheistische Gottes- und Todesverständnis Rilkes muß auch hier wieder herhalten. Aus einem "Begleitung"-Text: "Wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen mitten in uns. In diesem Satz von Rainer Maria Rilke ist die Rede von Sterben, Tod und Trauern. ... Die großen menschlichen Herausforderungen, Leiden und Schmerz, Krankheit und Tod verstehen immer weniger von uns anzunehmen. ... In der Begegnung mit der eigenen Sterblichkeit liegt eine Chance, die Einheit des Lebens wieder zu erfahren." Das hatte Sigrid Hunke ein paar Jahre früher ähnlich ausgedrückt.

Leid und Tod erscheinen als Naturnotwendigkeiten, "er" weint hier in uns; das angeblich Unumgängliche kann man nur "begleiten". Keine Rede davon, daß Krebs gesellschaftliche Ursachen im Profitstreben hat, vom gesundheitsgefährdenden Arbeitsplatz über Asbest- und Mineraldämmstoffe oder die vagabundierenden Seveso-Giftfässer bis zum "gespritzten" Apfel. Dafür ist von der "Einheit des Lebens" die Rede, Schweitzers "Ehrfurcht vor dem Leben" wird auch hier - holistisch verfälscht - bemüht. Die Entsubjektivierung der Mehrheit der Menschen kommt im thanatologischen Gewand einher: Bei der Sterbebegleitung gehe es um "neue Wege im Umgang mit Ohnmachtserfahrungen."

Als Echo der Bücher Hunkes erscheinen die folgenden Sätze aus einem "Begleitung"-Werbeprospekt: "Und doch hängt das 'gute Leben' eines jeden Einzelnen von uns ganz entscheidend davon ab, ob wir Leben und Tod in ihrer Untrennbarkeit begreifen. Die zerrissene Beziehung zu uns selbst und zur Natur heilt erst dann wieder, wenn wir die Gesellschaft und die Welt von ganzheitlichen Lebenserfahrungen her deuten lernen." Das "gute Leben" kommt hier nicht aus der Sozialpolitik und den sozialen Verteilungskämpfen, von denen die Massen offenbar sogar abgehalten werden sollen, sondern aus der "Deutung" der Welt, die nur "ganzheitlich" zu werden braucht, schon geht es uns gut. "Begleitung" empfiehlt - wie Hunke - den Sinn des Lebens im Tod. Ganz bewußt wird auf Erich Fromm angespielt: "Ein Ansatz, um die 'Kunst des Lebens' zu erlernen. ... Die Menschen werden die Todesfrage mehr an sich heranlassen, weil sie spüren: Das bereichert mein Leben. ... Unser Verhältnis zur Natur ist kaputt. ... Wer die Einheit der Natur aufkündigt, kann auch nicht mehr den Zyklus von Leben und Sterben in seiner Ganzheit erkennen."

Ein "freundschaftliches Verhältnis zum Tod" sollen die Lebenden entwickeln, wohl, damit sie nicht immerfort an soziale Verbesserungen denken. "Vergeudete Zeit! Fruchtlose Jahre!", so fängt eine "Begleitung"-Broschüre an, "Hatten Sie schon einmal das Gefühlt, das Leben versäumt zu haben? Sich seines eigentlichen Sinnes gar nicht bewußt gewesen zu sein? ... Sie haben die Möglichkeit, etwas zu korrigieren. Falls Sie Ihr Leben sinnvoller als bisher ausschöpfen und intensiver leben wollen." Der Tod als Sinn des Lebens, das ist die Botschaft faschistischer Sekten: Er verschafft das Einssein-Erlebnis mit dem Kosmos. So erstaunt es auch nicht, daß die "Begleitung"-Werbemittel mit Wald-Fotos illustriert sind, die auch optisch die Verbindung zu den "Ahnenstätten" schaffen.

Mag es überraschen, daß all dies von einem Beschäftigten des SPD-Parteivorstands betrieben wird, so zeigt doch auch das Buch "Christen und Sozialdemokratie" von Rüdiger Reitz eine bemerkenswerte Parallele. Ähnlich wie der "neurechte" Henning Eichberg versucht Reitz hier, aus ein paar Randerscheinungen der Arbeiterbewegung eine Nähe zwischen dieser und freireligiösen bzw. völkisch-religiösen Gruppen zu konstruieren. Dabei stützt er sich schließlich sogar auf den flämischen Faschistenführer Hendrik de Man, der von Belgien als Kriegsverbrecher verurteilt wurde, nachdem er schnurstracks vom völkisch-religiösen "Sozialisten" der zwanziger Jahre zu einem führenden Kollaborateur mit den nazistischen Besatzern Belgiens geworden war. Reitz meint überschwenglich, de Man habe "einen so einzigartigen Beitrag geleistet" zur "Freilegung unterschiedlicher Spurenelemente in der organisierten Arbeiterbewegung." Das Ziel von Reitz ist identisch mit dem der "Neuen Rechten". Er will völkische Religiösität an die Stelle liberaler und demokratisch-sozialistischer Positionen setzen - eine geistig-moralische Wende in der SPD: "Der Pfahl des Liberalismus wurde so über die Religionskritik ins Fleisch der Sozialdemokratie eingetrieben", meint der Parteivorstands-Referent, die Arbeiterbewegung sei "aus einer soziologisch fremden Schicht" beeinflußt worden, nämlich der, die die Gleichheit der Menschen auf Erden als erste politisch durchsetzte.

Zum New Ager wird Reitz, wenn er "statt eines Schlußkapitels" über das "unselige kausal-mechanistische Weltbild" und den "Klassenkampf"-Begriff im Görlitzer Parteiprogramm der SPD von 1921 als "dogmatische Vergangenheit" der Partei herzieht. "Wie läßt es sich sonst erklären, daß beispielsweise ein so einschneidendes Ereignis wie die Veröffentlichung der Quantentheorie durch Max Planck im Jahre 1925 spurlos an der Sozialdemokratie vorübergehen konnte?" Sodann fordert er die SPD auf, ihr freiheitlich-sozialistisches Erbe zugunsten völkischer Religiösität über Bord zu werfen: "Der religiöse Sozialismus stellt die Sozialdemokratie vor die Aufgabe, den aufgeklärten Religionsbegriff des Bürgertums zugunsten einer positiveren Sicht von Religion aufzugeben." Diese Sicht findet er ausgerechnet in de Mans konservativ-revolutionärer Forderung, "das sozialistische Wollen" nicht mehr auf die Kritik des Kapitalismus zu stützen, sondern auf "volkstümliche Ethik", die Ethik eines Kriegsverbrechers. Daß Hendrik de Man ebenso wie Henning Eichberg oder Wilhelm Hauer in der Zeitschrift der "Deutschen Unitarier", "unitarische blätter", als positiver Bezug genannt wurden, rundet das Bild ab. Man kennt sich und man macht Politik in dieselbe Richtung. (391)

Die sanfte Rückkehr der Sozialpolitik des Todes

Auf mehrfache Nachfragen weigerte sich Reitz, eine eindeutige Stellungnahme zum Thema "Sterbehilfe" abzugeben: Es sei nicht Aufgabe der Genossenschaft, hier Empfehlungen auszusprechen. In einer ergänzenden schriftlichen Erklärung hierzu führte er aus: "'Begleitung' lehnt eine aktive Sterbehilfe als eine die Mitgliedschaft verpflichtende Grundausrichtung entschieden ab." Anlaß zu diesen Fragen an Reitz waren Äußerungen von "Begleitung" über ein "Todesverständnis ... des mitdenkenden und deshalb mitwirkenden Menschen."

Die "Deutsche Gesellschaft für humanes Sterben" (DGHS) hatte immer wieder Verbindungen zu rechten Sekten. Der langjährige Chef der DGHS, Hans Henning Atrott aus Augsburg, war nach einem Bericht der BFGD-Zeitschrift "Humanist" von 1980 sogar eine Zeitlang Vorsitzender der Landesgemeinschaft Bayern des "Bundes freireligiöser Gemeinden Deutschlands". Fragt man bei Mitgliedsverbänden des BFGD nach Informationen zur Haltung gegenüber der Sterbehilfe, so bekommt man die Adresse der DGHS mitgeteilt, wie es uns 1991 geschah. Bei der Landesgemeinschaft Bayern des BFGD wollte noch im Oktober 1991 die Vorsitzende der bayrischen "Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen" (ASF), Ursula Pusch-Gruber, sprechen; die "Deutschen Unitarier" warben kräftig für diese Veranstaltung in den "unitarischen blättern". Im Frühjahr 1990 veranstaltete die Jugendorganisation der "Deutschen Unitarier", der "Bund deutsch-unitarischer Jugendlicher", in der Jugendherberge Kassel ein "Training zur Eigenständigkeit" mit dem Titel "Ist mit dem Tod alles zu Ende?" Auf der Einladung war "ein Vertreter der 'Gesellschaft für humanes Sterben'" angekündigt.
 

Der "Ahnenstättenverein Conneforde" wirbt mit den Zeichen der Freireligiösen (links) und der Deutschen Unitarier Religionsgemeinschaft (rechts) um Kundschaft.
(Aus der Jubiläumsbroschüre des "Ahnenstättenvereins Conneforde" 1998).

Im freireligiös-pantheistischen Bereich gehörte die Bereitschaft zum Freitod immer schon zur weltanschaulichen Grundausstattung, ebenso in der Konservativen Revolution und ihren Nachfolgern, wo Arthur Moeller van den Bruck ein historisches und Bernard Willms ein aktuelles Beispiel sind. Bei einem Josef Goebbels erstaunt auch die selbstgöttliche Tat des Mordes an seinen Kindern in den letzten Tagen des "Dritten Reiches" nicht, Faschisten sehen hierin sogar die väterliche Fürsorge wirken. Trifft dies in der Regel nur diejenigen, die "Hand an sich legen" (Jean Améry), so geht die Todes-Diskussion, die in den achtziger Jahren um den Peter Singer und seine "Praktische Ethik" aufkam, alle an: In den Zeiten drastischen Sozialabbaus kommen alle als potentielle Opfer dieser neuerlichen "Ethik" des Todes in Frage.

Die "Ethik-Debatte" verläuft um gesellschaftspolitische Strategien, nicht um die persönliche Freiheit des/der Einzelnen. Dies gilt erst recht in den "ganzheitlichen" Weltanschauungen, in denen die Individuen als Teile ohnehin nur im Bezug auf das primäre Ganze und dessen Bestandserhalt handeln dürfen. Jedenfalls innerhalb der Ideologie ist der Freitod hier keine Frage persönlicher, "bürgerlicher" Freiheit, sondern eine des kosmischen Zusammenhangs. Wenn aus diesem Zusammenhang entsprechende "Notwendigkeiten" herausgelesen werden, so kann hier auch - wie im historischen Faschismus geschehen - der Tod anderer gewissermaßen von den Erleuchteten verfügt werden. Der "Gnadentod" der "unnützen Esser" im Nazi-Euthanasie-Programm ergab sich unmittelbar aus dem Sozial- darwinismus, wenn man das Recht des Stärkeren als unhinterfragbares Gesetz der göttlichen Natur erst einmal auf die menschliche Gesellschaft anwendet. Aber auch das unauffällige Sterbenlassen durch Sozialabbau profitiert von dieser Ideologie. Der Bedarf an weltanschaulicher Legitimation des Sterbenlassens oder Tötens fängt bei den finanziellen Einsparungen für den Notfall-Rettungsdienst an, der heute mancherorts in Deutschland kaum noch in der nötigen fachlichen Qualifikation gewährleistet werden kann. Das geht weiter bei der üblich gewordenen Praxis, behinderten Neugeborenen die ärztliche Hilfe zu verweigern, damit sie sterben, statt später dem Staat "zur Last zu fallen." Es endet schließlich damit, gegenüber alten Menschen eine "Pflicht zu sterben" zu postulieren, wie sie in den USA bereits offen, in Europa (noch) verdeckt von Politikern gefordert wird.

Der Pflegenotstand in den Krankenhäusern und Altenheimen dient der DGHS auf Werbeveranstaltungen als Argument, sich den Zugriff auf Zyankali-Kapseln durch einen Beitritt in die Organisation zu sichern. "Ist es nicht verständlich, daß mancher alte und kranke Mensch lieber tot sein will, als seine eigenen Kinder zum Sozialhilfeempfänger zu machen", schrieb Atrott in einem DGHS-Blatt. Auch nach Atrotts Ausscheiden paßt in der DGHS-Zeitschrift "Humanes Leben - Humanes Sterben" noch alles zusammen: "Euthanasie: Wahrheit und Mythos" und "Ärztliche Ethik für Euthanasie" heißen im Dezember 1993 hier Artikelüberschriften, eine Veranstaltungsreihe der DGHS mit "Lesungen aus der Lyrik von Rainer Maria Rilke" wird angekündigt. Unter dem Foto aus einem überfüllten Krankenhaus - Bildunterschrift: "Kein Platz für Kranke" - steht die Liste der DGHS-Adressen. So findet die Ideologie des Zusammenfalls von Leben und Tod, von Leid und Glück, ihre praktische Aufgabe in Zeiten der "Deregulierung". Im "sanften" Gewand des New Age kehrt eine Sozial- und Wirtschaftspolitik des Todes zurück, die im Faschismus zu den selbstverständlichen Grundlagen gesellschaftlicher Planungen zählte. (392)

Die "Praktische Ethik" Peter Singers, die für die Herrschenden so praktisch ist, weil sie das Töten aus ökonomischen Nützlichkeitserwägungen erlaubt, ist explizit eine New Age-"Ethik", die ihr Erfinder von einer Kritik der "jüdisch-christlichen Tradition" her begründet. Singer versteht sich als Angehöriger der moralphilosophischen Richtung des "Präferenz-Utilitarismus", die individuelles menschliches Leben nach dem mystisch-"intuitiv" zu erlangenden Maßstab eines kosmischen "Gesamtglücks" wertet. Er nimmt den "Standpunkt des Universums" ein, wie er schreibt, und benutzt dabei den abstrakten "Lebens"-Begriff. Diesen ergänzt er um einen ebensolchen Begriff des "Glücks", der es ihm ermöglichen soll, eine absurde "Gesamtsumme des Glücks" im Universum zu bestimmen. Die Idee scheint vom "Gesetz der Erhaltung der Gesamtgestalt des Lebens" abgeschrieben zu sein, das Houston Stewart Chamberlain in seinem Buch "Natur und Leben" erfand. Auch Mynarek erfindet eine solche Kategorie in der "vollkommenen Harmonie des Ganzen", zu der sich Glück und Leid am Ende der Geschichte aufsummieren. (393)

Um diese "Gesamtsumme des Glücks" zu erhalten, darf man nach Singer Behinderte töten, die dem "Ganzen" zu teuer werden, denn die Kosten müssen ja Nichtbehinderte aufbringen, deren Glücksbilanz dadurch geschmälert würde. "Der Vorwurf, wir würden uns als Schöpfer aufspielen, wird uns nicht kümmern", befindet er kurz und selbstgöttlich. Das, was im New Age angeblich bekämpft wird - Kosten-Nutzen-Denken -, wird extrem verstärkt. Der ökonomische Utilitarismus im Interesse eines fiktiven "Ganzen" gewinnt seine Rationalität erst aus der Koppelung an den irrational aufgefaßten Begriff des ganzheitlichen "Kosmos", "Lebens", "Universums", der "All-Einheit" usw., aus dem mystisch-unhinterfragbar die Legitimation der Geld-Vernunft abgeleitet wird. Singer zeigt auch auf praktische Weise, daß er mitten im Netz des New Age-faschistischen "Neuen Denkens" steht: Er verteidigt die vom Neofaschismus hofierten Vererbungsideologen Arthur Jensen und Hans-Jürgen Eysenck, die wissenschaftlich diskreditiert sind, weil der erste sich auf Datenfälschungen stützte und der zweite bei faschistischen Organisationen auftrat. Singer spricht sich indirekt für das Akzeptieren der Verteilung von Wohlstand nach "ererbten Fähigkeiten" aus. Auch hier kennt man sich: Eysenck schrieb in dem "Thule-Seminar"-Buch "Das unvergängliche Erbe" von 1981. Jensen ist - gemeinsam mit Benoist - Mitglied im "Wissenschaftlichen Beirat" der rassistischen Zeitschrift "Neue Anthropologie", deren Chef Jürgen Rieger auch die rechtsextreme Sekte "Artgemeinschaft" führt. Die "Neue Anthropologie" bezieht sich positiv auf den obersten Nazi-Rassisten Hans F. K. Günther, den das "Thule-Seminar" 1990 nachdruckte und der auch bei den "Deutschen Unitariern" beliebt ist. (394)

Eine Opposition gegen Singers "Praktische Ethik", wie sie Wolfgang Jantzen auf der Basis von New Age-Positionen versucht, endet jedoch ebenfalls nur in der Inhumanität und ist somit selbst Teil der "Schwarzen Debatte", wenn auch abgemildert. So vertritt Jantzen ausgerechnet in der "Zeitschrift für Heilpädagogik" des "Verbandes Deutscher Sonderschulen" eine pantheistisch-naturreligiös begründete Affirmation des Leidens als Mißverständnis der praktisch gemeinten christlichen "Nächstenliebe", die hier in passivem Mitleid sich verzehren soll, statt tätige Barmherzigkeit hervorzubringen. Die "Überwindung" des Leidens "durch Liebe" ist seine Botschaft, die den Behinderten allerdings nichts bringt: "Teilhabe am sinnvollen Sein erfordert subjektiv gesehen nicht Entsorgung von Leiden, sondern Teilnahme am Leiden, damit in dieser Teilnahme (und nicht etwa in der Wirklichkeit behinderten Lebens, P. K.) die Wünsche und Träume der Leidenden auf humanes Sein nicht in der menschlichen Vernunft verlorengehen." Von diesem Leiden haben nur die am Helfersyndrom leidenden Mitleider etwas. Jantzens Satz läßt sich auch so lesen, daß ein passives Mitleid - vielleicht in der Form des Betens an ein pantheistisches All-Leben - an die Stelle vernünftiger menschlicher Technik und Therapie treten soll, die die "Wünsche und Träume" von Behinderten vielleicht tatsächlich zu einem Teil befriedigen könnten. Statt dessen rät Jantzen zur "humane(n) Annahme des Leidens" als der "Voraussetzung der Überwindung des Unglücks." So wird die Diskriminierung Behinderter, die aus den gesellschaftlichen Strukturen entsteht und den Großteil ihres Unglücks erst hervorruft, nicht etwa bekämpft, sondern unter dem Mantel einer abstrakten "Liebe" verborgen: Wer brav leidet und sich widerspruchslos diskriminieren läßt, statt die optimale Einrichtung der Lebensumstände einzufordern, kann sich des Mitleids der weniger Behinderten gewiß sein. Das ist schon alles, was Behinderte dem Leben in einer High Tech-Gesellschaft abverlangen dürfen. Ob Singers faustische Schwarze Ethik oder Jantzens pantheistisches Glück im Leiden: mit beiden Ansätzen sparen die Herrschenden jedenfalls eine Menge Geld ein. (395)

Der Zusammenhang von völkischem Rassismus und Behindertenpolitik zeigt sich auch an einer Episode, über die "Der Spiegel" im Mai 1993 berichtete: Der Behindertenbeauftragte des Deutschen Bundestages, der CSU-Abgeordnete Otto Regenspurger, habe bei einem Empfang den Körper eine deutschstämmige Frau in Kiew ausgiebig gemustert und dann geäußert: "Solche Mädel wie Sie hätte man früher zur Nachzucht verwendet." Behinderte beschweren sich immer wieder, daß sie von Regenspurger kaum Hilfe erhielten, wenn sie sich mit Petitionen an den Abgeordneten wendeten.

Das Bemerkenswerte an den Arbeiten von Götz Aly und Susanne Heim zur gesamtgesellschaftlichen, ökonomischen Rationalität des Komplexes Auschwitz ist ihre implizite, auf die Zukunft gerichtete Warnung: Die massenhafte Vernichtung von Menschenleben, die damals vor allem dazu diente, vermeintliche Überbevölkerung zu reduzieren, kann sich jederzeit wiederholen, wenn es hierfür wieder einen rationalen Grund gibt und die Mordtat "ethisch" eingebettet werden kann, wenn sich also auf allen gesellschaftlichen Ebenen Täter finden. Die kapitalistisch-ökonomische Rationalität definiert das Zuviel an Bevölkerung. Heim und Aly richten ihr Augenmerk auf den Modernisierungsschub durch den Nationalsozialismus, der mit der nazistischen Sozial- und Wirtschaftspolitik des Todes verwirklicht werden sollte. Die heroisch-realistische Legitimierung dieser Politik im pantheistischen Organizismus ist dabei nicht ihr Thema. Die Frage der Motivation der individuellen Täter, die doch alle irgendwie im hegemonialen Geist der christlichen Pflicht zur Nächstenliebe aufgewachsen waren (die nazistische Nachwuchs-Elite wurde gerade erst erzogen), stellen sie ebenso wenig wie die Frage nach dem inneren Verarbeiten dieser Taten, die die Täter selbst - dies ist bis hin zu Heinrich Himmler bezeugt - eben letztlich doch als Verbrechen erkannten.

Erst die neuheidnische Selbstvergöttlichung und der Heroische Realismus, so behaupten wir, ermöglichten das individuelle Tun des kapitalistisch-ökonomisch scheinbar Notwendigen. Das verbrecherische Tun wird so zur unausweichlichen "Tragik", in der der SS-Mann nur dann "sauber" blieb, wenn er seine Taten im mystisch erfahrenen angeblichen Einklang mit dem Ganzen sah. Die Ideologie des "Selbst-Schöpfer-Seins", die göttliche Rechtfertigung für menschliches Handeln erst war es, die Menschen unter dem Stichwort "Überbevölkerung" zu einer Verfügungsmasse machen konnte, zu "Material", das man wegen mangelnder Rentabilität reduzieren durfte und noch mehr reduziert werden sollte.

Von hierher löst sich auch das Problem der "Betonung des Unterschieds zwischen Rationalität und Irrationalität" im Antifaschismus, das Susanne Heim als lange gepflegte "Sackgasse" bezeichnet. Dieses Problem löst sich, wenn die ökonomische und technische Rationalität aus der Irrationalität naturreligiöser Mystik heraus begründet wird: Die faustische Rationalität ist die Praxis des pantheistischen Organizismus. Wie der Komplex Auschwitz erst als rationaler Akt der gesellschaftlichen Modernisierung vollständig verstanden werden kann - einer Modernisierung, die als solche irrational-naturmystisch verankert und ermöglicht war -, so muß heute in der parallelen Ideologie des New Age zumindest die Möglichkeit gesehen werden, nicht eine Wiederholung, sondern eine Potenzierung dieses komplexhaften Gesamtverbrechens zu legitimieren. Dieses Verständnis erscheint nötig, um die Wiederkehr des Verbrechens zu verhindern. Beides, diese ökonomische Rationalität und diese sie stützende Religiösität des pantheistischen Organizismus zusammen, machten erst das größte Verbrechen möglich, das die Menschheitsgeschichte bisher kennt. Es muß ja nicht das größte bleiben. (396)

Heute werden die allerschwersten Fälle von Behinderung und spektakuläre Einzelfälle individuellen Todeswunsches propagandistisch benutzt, um eine allgemeine sozialpolitische Strategie durchzuziehen. Der Angriff auf die Behinderten zielt über diese hinaus auf die sozialen Errungenschaften und Forderungen aller. Er trifft die mehr Behinderten ebenso wie die weniger Behinderten, die sich als Nichtbehinderte fühlen, bis sie die Folgen dieser Gesellschaft in Kriegs- und Schwerbeschädigung, arbeitsplatzbedingter Frühinvalidität, Krebs oder Unfallfolgen ebenso zu spüren bekommen wie in streßbedingten psychosomatischen Erkrankungen bis hin zu schweren Neurosen. Heute bereits erreicht nur ein Drittel der Rentenversicherten das Altersruhegeld. Ein Drittel ist bereits vorher tot, ein weiteres als Invalide frühverrentet, wobei psychische Schäden fast nur als Suchtkrankheiten zu Buche schlagen.

Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit, die sich mit diesen Invalidenquoten nicht vereinbaren läßt, ist nach einer jahrelangen Kampagne gesellschaftlich akzeptiert. Im August 1989 berichtete die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" ganzseitig unter der Überschrift "Sind unsere Alten noch finanzierbar?" über Sterbehilfe und die Finanzprobleme der Rentenversicherung. Deutlicher kann man den eigentlichen Sinn der "Schwarzen Debatte" nicht bloßlegen. Arbeiten bis zum Umfallen und dann der Giftbecher - das ist eine Perspektive für die Massen, die in den Eliten der hochentwickelten Staaten bereits seit Jahren diskutiert wird. "Ganzheitliches Denken" liegt ihr zugrunde: Zum Beispiel die barbarische Tradition indianischer Völker, ihre Alten zu töten, wenn diese unproduktiv wurden - alles naturreligiös legitimiert selbstverständlich. Knappe Ressourcen und steinzeitliche Produktionsverhältnisse waren die materielle Basis für die indianische Naturreligion, die heute in den "neuen sozialen Bewegungen" wieder Konjunktur hat. So drastisch kann die Wirklichkeit des scheinbar realitätsfernen, "sanften" New Age werden.

Ein anderes Beispiel ist der "ganzheitliche" Neurologe Viktor von Weizsäcker, der als einer der Begründer der psychosomatischen Medizin in Deutschland gilt. Vor allem seine bekanntesten Bücher "Der Gestaltkreis" von 1940 und "Gestalt und Zeit" von 1942 zeigen ihn als Ideologen des "Neuen Denkens", das zu dieser Zeit von seinem Neffen Carl Friedrich von Weizsäcker im Nationalsozialismus vertreten wurde. Viktors Buch "Natur und Geist" von 1944 gab den Titel des New Age-Kongresses "Geist und Natur" 1988 in Hannover ab, auf dem Carl Friedrich einen der Hauptvorträge hielt. Letzterer hat sich vielfach geistig zu seinem Onkel bekannt und sich in ideologischer Hinsicht "fast als Sohn" Viktors bezeichnet. (397)

Der Mediziner Viktor von Weizsäcker übersetzte das "Werden und Vergehen" aus dem ganzheitlich-kosmischen Denken in eine "Heilungs-" und "Vernichtungsordnung" des Arztes, der sich ehrlicherweise eingestehen müsse, bei seiner Tätigkeit beides zu tun: Heilen und Vernichten. Weizsäcker wollte beides für die ärztliche Praxis gewissermaßen kodifizieren. Er war ein Anhänger des Heroischen Realismus, der den Arzt befähige, Schuld auf sich zu laden "bis zum Risiko des persönlichen Untergangs." Die "Kette der Erhaltungs- und Vernichtungsmaßnahmen", in der ein Arzt stehe, sei "unentrinnbar": "Helfen heißt zugleich: wählen, wem man hilft und was man rettet." In der wirtschaftlichen Krisenzeit am Ende der Weimarer Republik entwickelte er mit anderen "ganzheitlichen" Medizinern das Konzept der "Rentenneurose", das gegen die Opfer der Weltwirtschaftskrise gerichtet war. (398) "Faulheit", aber auch aus anhaltender wirtschaftlicher Not folgende Apathie gegenüber der Erwerbsarbeit, führen danach bei "querulatorischen Rentenkämpfern" zu eingebildeten Krankheiten wie "Magen-" oder "Herzneurosen", um "neurotische Begehrensvorstellungen" gegen die Sozialversicherung durchzusetzen. Die Wortwahl Viktor von Weizsäckers macht deutlich, wie der Freiherr über das einfache Volk denkt. Der Kranke könne nur geheilt werden, indem er zum "Opfer" an sich selbst und an das soziale Ganze gezwungen werde. Dazu sei eine Veränderung der Sozialpolitik nötig, die den Kranken nicht etwa verrente, sondern zwangsweise zum Arbeitsdienst heranziehe und ihm bei fortgesetzter Weigerung jegliche soziale Unterstützung entziehe. Solche Ideen machten Weizsäcker zu einem angesehenen und offiziell wie öffentlich belobigten Mediziner im Deutschland der Nazis. Er lehnte es 1945 in seiner Autobiographie "Begegnungen und Entscheidungen" ausdrücklich ab, diesem Staat gegenüber "eine lediglich negative Haltung einzunehmen": Als ganzheitlicher Denker arbeitet man da doch mit!

Seine "Yin und Yang"-Vorstellung von "Heilen und Vernichten" fortsetzend, war Viktor von Weizsäcker direkt in die Euthanasie-Aktionen der Nazis verwickelt, wie Karl Heinz Roth in seiner Studie "Der Fall Viktor von Weizsäcker" darlegt. Vor allem ging es hier um die Tötung sozial unangepaßter Kinder, die auf barbarische Weise vorgenommen wurde. Die nach der Autopsie erstellten Hirnbefunde lagen in den Fällen, über die Roth berichtet, fast immer im Bereich des Normalen. Die Befunde und Hirn- und Rückenmark-Präparate der ermordeten Kinder wurden an Weizsäcker gesandt, der vorher genaue Anweisungen zur Behandlung der Kindesleichen gab, damit die als Präparate vorgesehenen Körperteile nicht zerstört würden. Das Ziel solcher Aktionen war es offenbar, sozialen Frieden durch die Ermordung derer herzustellen, die soziale Ansprüche stellten, hier ausprobiert an schwer erziehbaren Kindern. Das "Gestaltfremde" - ein Begriff des nazistischen Ganzheitspsychologen Friedrich Sander - mußte "ausgemerzt" werden. Wenn es - nach den Schätzungen von Wohlfahrtsverbänden - 1993 in Deutschland circa 40000 obdachlose Straßenkinder gab, so ist jedenfalls das polizeilich auffällige "Gestaltfremde", gegen das sich damals die "Ausmerze" richtete, heute bereits wieder vorhanden.

Viktors Bruder Ernst von Weizsäcker, SS-Mitglied ehrenhalber und Staatssekretär im Auswärtigen Amt der Hitler-Regierung, hatte sein eigenes "Werden und Vergehen"-"Yin und Yang". Er wurde als Kriegsverbrecher gemeinsam mit dem Ideologen des "Neuen Denkens" der SS, Walter Darr‚, in Nürnberg vor Gericht gestellt und im "Wilhelmstraßen-Prozeß" als Hauptangeklagter verurteilt. In einer Stellungnahme, die er am 27. März 1942 gegenüber Adolf Eichmann abgegeben hatte, hieß es: "Seitens des Auswärtigen Amtes wird gegen die Abschiebung von insgesamt 6000 polizeilich (!) näher charakterisierter Juden französischer Staatsangehörigkeit bzw. staatenloser Juden nach dem Konzentrationslager Auschwitz (Oberschlesien) kein Einspruch erhoben." Im Prozeßurteil wurde ihm vorgeworfen, unmittelbar nach der "Wannsee-Konferenz" vom 20. Januar 1942 von einem Teilnehmer über die Pläne zum fabrikmäßigen Mord an den europäischen Juden informiert worden zu sein und danach die osteuropäischen Satellitenstaaten des Nazi-Reiches gezwungen zu haben, Juden auszuliefern. (399)

Der unbelehrbare Viktor wurde niemals angeklagt, er schrieb 1947 unter dem Eindruck eines Euthanasie-Prozesses gegen andere, der als Nürnberger Ärzte-Prozeß in die Geschichte einging: "Es gibt jetzt eine soziale Krankheit. ... Ein Kollektiv kann als solches auf eigene, neue Art krank sein. ... So wie die Amputation eines brandigen Fußes den ganzen Organismus rettet, so die Ausmerzung der kranken Volksteile das ganze Volk. Als Opfer betrachtet wären beide Fälle berechtigt und beide als ärztliche Handlung sinnvoll und nötig." Wenn sich der New Ager Carl Friedrich von Weizsäcker selbst in diese Tradition stellt, dann wird ersichtlich, was er unter der Formel Albert Schweitzers von der "Ehrfurcht vor dem Leben" wirklich versteht, mit der er 1957 im "Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt" einen Artikel überschrieb.

"Der Tod ist ein Meister aus Deutschland"

Deutschland als Heimat des Todes bloßgestellt zu haben, war eine literarische Leistung von Paul Celan, die ihre ganze Bedeutung erst vor dem Hintergrund des pantheistischen Organizismus seit Meister Eckhart und der faustischen Taten seit der Gründerzeit gewinnt. Das erste gentechnisch hergestellte Lebewesen wurde beim Europäischen Patentamt in München zum Patent angemeldet: Die sogenannte Krebsmaus. Dem Tier wurde eine besondere Anfälligkeit, an Krebs zu erkranken, und die Fähigkeit, dies zu vererben, ins Genprogramm hineinmanipuliert. Die Pharma-Konzerne wollen sich den künstlichen Tod patentieren lassen.

Im deutschen Faschismus wurden die Massenmordpläne, die in verschiedenen Stufen zig Millionen Europäer betreffen sollten, mit dem Euthanasie-Programm getestet. Bisher noch weitgehend unbekannt sind die engen Verbindungen und personellen Identitäten zwischen der aktuellen "Schwarzen Debatte", rechten Sekten und ihrem Umfeld und dem Euthanasie-Programm der Nazis. Beispiele hierfür sind der "Bund freireligiöser Gemeinden Deutschlands" (BFGD) und die "Deutsche Unitarier Religionsgemeinschaft e. V." (DUR).

Bereits 1968 wurde unter dem Deckmantel eines "Europäischen Humanisten Kongresses" der Freireligiösen in Hannover diese Debatte geführt. Die BFGD-Zeitschrift "Der Freireligiöse", Vorläufer des BFGD-Blattes "Humanist", dokumentierte in der Ausgabe September 1968 die Referate des Kongresses, der unter dem Titel "Der Schutz des Lebens und seine menschliche Erfüllung" lief. Präsident des Kongresses war Gerhard von Frankenberg, damals Chef der DUR-Zweigorganisation "Eekboom-Gesellschaft", wie die DUR selbst eine überwiegende Nazi-Gründung, die personell und ideologisch in das "Amt Rosenberg" der NSDAP und die Spitze der SS zurückreichte. In seiner Eröffnungsrede 1968 beschwor er unter Bezug auf Goethe das Streben nach dem Übermenschen und meinte zugleich: "Die Erde ist überbevölkert." In einem weiteren Diskussionsbeitrag erinnerte er an seine Schrift "Vom Opium der Bevölkerungsdichte" aus den zwanziger Jahren, die als Teil der ideologischen Vorbereitung der Nazi-Massenmorde gelten kann.

Frankenberg hielt es in seinem Redebeitrag 1968 für falsch, sich bei der Reduktion der Überbevölkerung "auf die Einsicht der in Frage kommenden Personen zu verlassen. Das würde vielmehr zu einer 'Gegenauslese' der Gleichgültigen, Törichten und Verantwortungslosen führen; denn die würden fortfahren, sich fortzupflanzen, während die wertvollen Individuen ihre Kinderzahl beschränkten. Ganz ohne Begrenzung der persönlichen Freiheit geht es in solchen Fällen nicht. Wir sind ja auch genötigt, Seuchenverdächtige unter Quarantäne zu halten, Unmündigen und Narren eine Waffe aus der Hand zu winden ... Ähnliches gilt für die Eugenik, die erfreulicherweise ebenfalls in unserer Diskussion eine Rolle gespielt hat", meinte er mit Bezug auf den Kongreß. "Organismengruppen, die sich im Zustand der 'Nichtauslese' befinden, wie etwa domestizierte Tiere, - soweit nicht der Züchter die sonst durch den 'struggle for life' bewirkte Auslese übernimmt" würden "entarten". "Gerade der Mensch, der sich sozusagen aus dem Daseinskampf davongestohlen hat und sein eigenes Haustier wurde, ist der Gefahr der Entartung besonders stark ausgesetzt ... Da wir nun einmal gezwungen sind, die Bevölkerungsziffern zu begrenzen, sollten wir zu erreichen suchen, daß möglichst viel gesundes Erbgut erhalten bliebe, schwer Erbkranke dagegen sich und der Menschheit die Weitergabe ihrer unglücklichen Anlage ersparten. ... Die Drohung der Masse, der gute Denkgewohnheiten fehlen, stellt uns vor eine gewaltige Erziehungsaufgabe."

Was dieser Top-Funktionär der Freireligiösen hier an Viehzüchter-Weisheiten verbrät, ist vordergründig eine widerliche Behindertenpolitik des Kampfes ums Dasein. Der Argumentationsbogen von den "verantwortungslosen Kinderreichen" über die "schwer Erbkranken" zurück zu den "schlecht denkenden Massen" zeigt jedoch, daß in Wahrheit die kinderreiche Unterschicht bzw. die "Dritte Welt" gemeint sind, daß es in Wahrheit zu einer sozial motivierten Menschenreduktion kommen soll, wie schon im Umfeld Viktor von Weizsäckers. Der Verweis auf die "Erbkranken" dient lediglich dazu, eine Akzeptanz der tabuisierten Vorhaben herzustellen. Auf dem Kongreß beschäftigten sich zahlreiche Redner mit den "Bevölkerungsziffern", den "psychologischen Wirkungen des Bevölkerungsdrucks", der auch "die Vielfalt und Schönheit unserer natürlichen Umwelt mit ihren tierischen und pflanzlichen Bewohnern ... ständig vermindert." Der "Auschwitz-Zweifler" Dietrich Bronder, damals SPD-Mitglied, forderte die "Kontrolle der Reichen über die Armen", das Verweigern von Entwicklungshilfe "ohne radikale Geburtenbeschränkungen ... und Verzicht auf großindustrielle Projekte" im Süden, um die Vorherrschaft des Norden zu sichern. Er beendete seinen Vortrag mit den Sätzen: "Eugenik in Grenzen der Verantwortung aller für alle ist nötig und wird von humanistischer Seite durch Bertram in Cambridge ebenso vertreten, wie von katholischer Seite durch Teilhard de Chardin. Die Grundlage unseres neuen Weges muß eine neue Moral sein. Sie beruht auf den Prinzipien einer humanistischen Sittlichkeit, die noch zu erarbeiten ist." Der freireligiöse Funktionär Wilhelm Bonneß, zu den Zeiten der Präsidentschaft Armin Riesers über den BFGD hier Ehrenpräsident (1987), beschwor auf dem Kongreß die Ahnengalerie der Hunkeschen "eigenen Religion Europas" - ein Jahr vor dem Erscheinen des grundlegenden Hunke-Buches "Europas andere Religion". Von den "Indo-Ariern" über "die deutsche Mystik" Meister Eckharts, Giordano Bruno bis Max Planck und Albert Einstein als den angeblichen Schöpfern der Ideologie des "All-Einen" wurde die Stammeslinie genannt.

Wer glaubt, dies wären isolierte Sektenspinner, deren Pläne man nicht ernst zu nehmen bräuchte, irrt. Die "Festrede" dieses Kongresses hielt der Sozialdemokrat Sicco Mansholt, damals Vizepräsident der EWG-Kommission und zeitweiliger Lebensgefährte der EG-Verwaltungsrätin und späteren Bundestagsabgeordneten der Partei Die Grünen, Petra Kelly, die selbst ebenfalls eine Anhängerin der Naturreligion war und neben Robert Jungk im "Berater-Netzwerk" von Fritjof Capras Esalen-Institut saß. Mansholt warnte damals - es war die Zeit der Studentenbewegung und des Prager Frühlings sozialistischer Reformen - vor der Linken "von Dutschke bis Dubcek" und vor dem "Mamama-Ismus (Marx-Mao-Marcuse)." Er machte sich für eine neokolonialistische Politik des vereinten Europa gegen die "Bevölkerungsexplosion" in der "Dritten Welt" stark und befand, "daß dieser jetzt weltweite Klassenkampf, wenn wir ihn nicht überwinden, eines Tages zum Untergang der gesamten Welt führen könnte. Hilft das organizistische "Yin und Yang"-Konzept nicht, den Klassenkampf "sanft", freiwillig zu überwinden, dann muß eben wieder das Konstrukt der "Erbkrankheit" und der "Rentenneurose" ran.

Der "Ethiker" und Philosoph Hans Jonas bemitleidete 1989 in der Wochenzeitung "Die Zeit" Peter Singer, weil der kritische Teil der Öffentlichkeit ihn offensiv bekämpfte: "In der angelsächsischen Welt, in der ich nun seit Jahrzehnten lebe, kennt man diese Form der Diskussion nicht, die vergiftet ist von Unterstellungen und Beschimpfungen, von Verdächtigungen der Motive des anderen - bis hin zum Anwurf des Faschismus." Doch es geht nicht um "Unterstellungen" und "Verdächtigungen", sondern schlicht um Identitäten. Die Blindheit von Jonas für die faktischen Beziehungen zum (Neo-) Faschismus dankt ihm die "Neue Rechte". Die auch für das Neuheidentum der "Neuen Rechten" agitierende Zeitung "Junge Freiheit" schrieb im März 1991: "Darüber hinaus hat jede Suche nach einer ökologischen Ethik per se konservative Implikationen. Zwar würden sich Hans Jonas und Erwin Chargaff kaum selbst dem konservativen Lager zurechnen, aber ihre Einsicht in das 'Prinzip Verantwortung' (ein Buchtitel von Jonas, P. K.) ... wirkt in ähnlicher Weise wie das, was Konrad Lorenz oder Irenäus Eibl-Eibesfeld schon früher bezüglich der Gefahren von Umweltzerstörung und Manipulation der natürlichen Lebensbedingungen des Menschen erkannt haben." Lorenz hatte, wie oben zitiert, 1988 in der Zeitschrift "natur" seine alte These von der Überbevölkerung als der eigentlichen Gefahr für den Organismus Erde wiederholt und seine Hoffnung in Massenseuchen wie Aids gesetzt, damit die Menschheit reduziert werde. Eibl-Eibesfeld vertritt - auch innerhalb der extremen Rechten - ähnliche Positionen.

Es sind Fachleute der Zwangssterilisation und Euthanasie, die für die rechte Praxis des pantheistischen Organizismus bürgen. Die "Deutschen Unitarier" sind ein weiteres Beispiel für die Kontinuität der "Schwarzen Debatte" von den Nazi-Verbrechen her. Nach vielfachen Angriffen von Antifaschisten versteckt die Sekte ihre Euthanasie-Politik heute hinter dem Wiederabdruck von Jonas-Zitaten zur passiven Sterbehilfe und von Zeitungsausschnitten aus der Zeitung "Die Zeit", die der Euthanasie-Kritiker Oliver Tolmein als "'Euthanasie'-Fachblatt" bezeichnet. In früheren Jahren war die DUR direkter. Am 23. und 24. Oktober 1965 veranstaltete das "Amt für praktische religiöse Arbeit" der DUR - das zeitweise unter der Leitung eines der engsten Mitarbeiter Alfred Rosenbergs, Eberhard Achterberg, stand - eine Wochenendtagung zum Thema "Humanismus und Euthanasie". Sprecher war der frühere Nazi-Euthanasie-Gutachter Prof. Werner Catel, der 1939 mit dafür verantwortlich war, daß die Kinder-Euthanansie in Gang kam. Er war bis 1944 Gutachter des "Reichsausschusses zur Erfassung schwerer erb- und anlagebedingter Leiden." Ob er auch mit den Kindern befaßt war, die in den letzten Monaten des deutschen Faschismus ermordet und als Präparate auf Viktor von Weizsäckers Tisch landeten, ließ sich nach den Quellen nicht klären. (400)  Als Koreferent über "Ethische Gegenwartsfragen" trat Thomas Leutkart auf, der bereits 1930 unter dem Einfluß des völkischen "Indologen" und Begründers der nazistischen "Deutschen Glaubensgemeinschaft", Wilhelm Hauer, gestanden hatte. Der Rosenberg-Anhänger Hauer überzeugte damals den soeben aus einem katholischen Missionskloster ausgetretenen Leutkart nach dessen eigener Aussage von 1990 davon, zum faschistischen Neuheidentum überzutreten: "Die Begegnung mit Hauer bedeutete für mich im damaligen Moment eine tiefgehende Klärung und Fundierung meiner religiösen Gesamteinstellung." Leutkarts pantheistisch-organizistisches Buch "Weg und Ziel bist Du selbst" gehört heute zu den wenigen Schriften, die der "Verlag der Deutschen Unitarier" herausbringt; es ist neben Hunkes "Europas andere Religion" eines der Hauptbücher der DUR. Auf dieser Pro-Euthanasie-Tagung wurde auch über "Verantwortung vor der Umwelt" gesprochen. All dies blieb kein Einzelfall bei der DUR.
 

Das Zeichen auf der Urne, die Kunden in Conneforde angeboten wird, entspricht dem Zeichen des DUR-Jugendverbandes "Bund Deutsch-Unitarischer Jugendlicher" (BDUJ).
(Aus der Jubiläumsbroschüre des "Ahnenstättenvereins Conneforde" 1998).

Das lag an Albert Hartl, der damals - neben dem soeben verstorbenen Wilhelm Hauer und vor Sigrid Hunke - der herausragende Ideologe der DUR war. Auch lange nach seinem Tod (1982) und noch in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre war Hartl für die Sekte von zentraler Bedeutung. Noch 1989/90 verteidigte die DUR ihn öffentlich.

Hartl war mehr noch als Catel in den Jahren 1938 und 1939 am Zustandekommen des Nazi-Euthanasie-Programms direkt beteiligt gewesen. Er und seine Frau Maria hatten in den sechziger Jahren zahlreiche Schriften zur New Age-faschistischen Ideologie herausgebracht, darunter 1963 das dreißig Seiten starke Bändchen "Das nichtchristliche Europa und seine religiöse Tradition", in dem Hartl Hunkes "Europas andere Religion" von 1969 thesenhaft vorwegnahm. Der eifrige pantheistische Organizist verfaßte auch ein Theaterstück über Giordano Bruno. Zeit genug hatte er, denn als ehemaliger hochrangiger SS-Offizier in Himmlers Berliner Terrorzentrale konnte er nach dem 8. Mai 1945 nichts mehr werden. Hartl war 1929 zum katholischen Priester geweiht worden, sympathisierte aber mit dem Nationalsozialismus. Der NSDAP trat er am 1. Mai 1933 bei. Weil er sich sofort als Spitzel gegen die eigene Kirche wandte und seinen NS-feindlichen kirchlichen Vorgesetzten bei den Nazis denunzierte, wurde er exkommuniziert. Er kam in Kontakt mit den beiden obersten SS-Terroristen. Heinrich Himmler, dessen Vater mit Hartl seit längerem bekannt war, und der mit Hartl gleichaltrige Reinhard Heydrich - ein zum fanatischen Neuheiden und Rom-Hasser konvertierter früherer Katholik - suchten Albert Hartl im Jahre 1933 persönlich auf, warben ihn als Spitzel gegen seine Kirche und übertrugen ihm ab 1934 den Aufbau der Abteilung für die Verfolgung antifaschistischer Christen im Sicherheitsdienst der SS, der sich im Prinz-Albrecht-Palais an der Wilhelmstraße einquartierte. Hartls Amtssitz war später in der Meinekestraße 10 in der Nähe der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche.

Der Himmler-Heydrich-Proteg‚ unterhielt weiterhin gute Verbindungen in die nazifreundliche Fraktion des deutschen Katholizismus. Ende 1938 wurde er von einem Mitarbeiter aus der direkten Umgebung Hitlers beauftragt, bei katholischen Theologen Gutachten darüber einzuholen, wie sich die katholische Kirche im Falle eines Euthanasie-Programms verhalten würde. Hartl besorgte daraufhin bei katholischen Theologen Expertisen, nach denen die Kirche den Mord an Behinderten wohl tolerieren werde, was ja auch schließlich einige Zeit geschah. In Nachkriegs-Prozessen gegen NS-Verbrecher trat er als Entlastungszeuge auf und behauptete, diese Gutachten hätten den Ausschlag für Hitlers Entscheidung gegeben, das Euthanasie-Programm zu starten.

1940 predigte Hartl "nordische Gottgläubigkeit" als innere Voraussetzung eines jeden SS-Führers, 1941 war er als SS-Sturmbannführer zum Leiter der Gruppe IV B in Himmlers Reichsicherheitshauptamt aufgestiegen und somit unmittelbarer Vorgesetzter Adolf Eichmanns, der die Abteilung IV B 4 "Judenangelegenheiten, Räumungsangelegenheiten" leitete. Zu dieser Zeit arbeitete Eichmann nicht nur seit längerem an dem mörderischen "Madagaskar-Plan", nach dem die Nazis die europäischen Juden auf der afrikanischen Insel verhungern und an Seuchen sterben lassen wollten. Es wütete auch bereits seit fast zwei Jahren in Polen die SS vor allem gegen Juden und gegen die polnische Intelligenz, die in Massenerschießungen starben oder bei Deportationen, die Heydrich bereits im Oktober 1939 angeordnet hatte. Ab Dezember 1939 war es Adolf Eichmann, der auf Befehl Heydrichs an dieser "Evakuierung des Ostraumes" arbeitete. Wie man heute weiß, wurden zu Hartls Zeiten in Eichmanns Unterabteilung auch bereits die planerischen Vorarbeiten für die fabrikmäßige Ermordung von Millionen Menschen geleistet, die schließlich am 20. Januar 1942 bei der von Heydrich geleiteten "Wannsee-Konferenz" lediglich abschließend koordiniert wurden. Es ist kaum anzunehmen, daß Hartl als unmittelbarer Vorgesetzter Eichmanns von alledem nichts wußte. Hartl verließ die Abteilung IV B Ende 1941, also nach dem Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion und nach dem Beginn der sofort im Sommer 1941 einsetzenden Massenerschießungen durch die SS-Einsatzgruppen hinter der Front. Allerdings wurde er - der in etlichen NS-Prozessen als Entlastungszeuge für seine SS-Komplizen auftrat - niemals selbst angeklagt. Der typische Schreibtischtäter war wohl überall dabei gewesen, man konnte ihm aber keine individuelle eigene Bluttat nachweisen. Statt dessen füllte er indirekt mit seine Kirchenbespitzelungen das "Geistlichen-KZ" Dachau und hatte offenbar derart viel Einfluß innerhalb der SS, daß sich frühere Bekannte aus der katholischen Kirche an ihn wandten, wenn sie Erleichterungen für ihre inhaftierten Verwandten erbitten wollten; ob sie bei dem inzwischen fanatischen Neuheiden zum Erfolg kamen, ist nicht bekannt.

Kurzzeitig bekam Hartl wegen einer Frauengeschichte disziplinarische Schwierigkeiten und war dann ab 1942 in der Ukraine bei der SS-Einsatzgruppe C, wo er Inspekteursaufgaben wahrnahm. Die Einsatzgruppe C hatte bei Hartls Eintreffen bereits mehr als 100.000 Ukrainer ermordet, meist durch Erschießungskommandos. Bald schon wurde er ins katholische Slowenien geschickt, daß Nazi-Deutschland nach der Zerschlagung Jugoslawiens teilweise annektierte. 1943 knüpfte er dann im Vatikan Kontakte zu dem nazifreundlichen Bischof Alois Hudal, der nach Kriegsende die sichere Flucht von Nazi-Größen über Rom und Kairo nach Südamerika organisierte. 1944 war Hartl in der Slowakei, die von dem faschistischen katholischen Priester Josef Tiso als Satellitenstaat Nazi-Deutschlands geführt wurde. Bei diesen Einsätzen außerhalb Berlins übte Hartl nach eigenen Angaben vor allem "Agententätigkeiten" in der Nachrichtenbeschaffung aus, sein Spezialgebiet seit den ersten, noch als Priester vorgenommenen Denunziationen 1933. Nach dem 8. Mai 1945 befand sich Hartl - wie etliche andere spätere Funktionäre der DUR auch - in speziellen Internierungslagern, die die Alliierten für hohe NSDAP- und SS-Funktionäre eingerichtet hatten. Dort warb er für Neuheidentum und religiöse "Toleranz", die alte, bis heute aktuelle Waffe der völkischen Sekten. Er mag hier zu den DUR-Gründern gestoßen sein. (401)

1965 veröffentlichte Hartl im Helmut Soltsien Verlag Hameln - dem Stamm-Verlag der DUR - seine Schrift "Euthanasie in religiöser Sicht" und reiste mit diesem Thema auf Vortragsveranstaltungen durch die DUR-Gemeinden. Der Begriff "Euthanasie" "umfaßt letzte Vollendung des Menschseins", befand er, er "drückt also zunächst das Glück, die Fähigkeit, die Kraft aus, gut, anständig zu sterben." Ob er die Kinder meint, die für die Weizsäcker-Präparate elendig an den Folgen der Luminal-Spritzen erstickten? Es gebe eine "Pflicht zur Sterbehilfe", weil "unsere Lebensgesetze eingewirkt sind in die Gesetze des Alls." "Erst aus diesem religiösen Grunde, aus dem Verwobensein mit dem All, dem einen All, erhellt sich unsere Wirklichkeit." "Lebenshilfe erhält ihre Krönung in der Sterbehilfe." Hartl kommt sofort zur Sache, der Euthanasie als Mittel zur faschistischen Sozial- und Bevölkerungspolitik nämlich, wie sie bereits bei Weizsäcker und seinen "medizinischen" Kumpanen die letzte Konsequenz der "Rentenneurose" war: Der Wert des konkreten Lebens sei relativ, "das Leben der berühmtem schöpferischen, liebenden, denkenden Menschen ist etwas ganz anderes als das Leben bequemer, körperlich und seelisch ranzig gewordener, vergifteter und verkniffener, erkalteter und verbitterter Personen." "Die rein biologische Existenz stellt nicht den höchsten Wert des menschlichen Daseins dar", es gebe eben doch "lebensunwertes Leben".

Dies ist ein umfassender Katalog zu ermordender Menschen. "Das Leben vollzieht sich in stetem Wandel", tröstet Hartl die zukünftigen Opfer, "zum Werden gesellt sich immer wieder das Vergehen." Der selbstgöttliche - und immer überlebende! - Euthanasie-Arzt "erfüllt in tiefer Menschlichkeit und Ehrfurcht die Gesetze des Lebens." Gelassen soll man in den Tod gehen, heroisch-realistisch sich ins angeblich Unvermeidbare schicken, notfalls etwas nachhelfen im "Recht zu sterben", wie Hartl schrieb. "Gelassenheit ist das Zusammenklingen von ganz persönlicher menschlicher Eigenart mit den großen Zusammenhängen des Alls. ... Gelassenheit oder Harmonie bedeutet deshalb die tiefste und zugleich weiteste Entfaltung menschlichen Seins." Das ist original New Age.

Nicht mehr "gelassen" sind dagegen diejenigen, die für gesellschaftliche Veränderungen kämpfen, damit sie nicht "vergiftet" werden, von ihren Arbeitsbedingungen nicht "körperlich ranzig", von der knappen Sozialhilfe nicht "verbittert". Die "Überwindung, Beseitigung, Ausschaltung der Unwerte, der negativen Seiten des Daseins" soll beim Todes-Ideologen Hartl nicht über gesellschaftliche Veränderungen geschehen, sondern über Mord der angeblich Unwertigen und Negativen. Statt Schwerkranke medizinisch zu versorgen, sollten nach seiner Meinung mit Hilfe der Euthanasie "wertvollste ärztliche und pflegerische Kräfte sowie kostbare technische und wissenschaftliche Hilfsmittel dem Dienst an jenen Menschen" zur Verfügung gestellt werden, "bei denen noch berechtigte Aussicht auf Heilung besteht." Diese fast dreißig Jahre alten Sätze sind aktuell in der heutigen Zeit der Kostenexplosion im Gesundheitswesen und des Pflegenotstands, ihre Intention ist völlig identisch mit der Argumentation von Funktionären der "Deutschen Gesellschaft für humanes Sterben", die heute - z. B. bei einer Veranstaltung in Bonn im Herbst 1991 - den Pflegenotstand als Argument für den Beitritt zu ihrer Organisation anführen.

Hartl ist auf der Linie von Peter Singer 1984, wenn er 1965 schreibt: "Die Gesamtheit des menschlichen Seins, das Wohl der Angehörigen und wirtschaftliche Gesichtspunkte zusammen wiegen mehr als das bloße Vegetieren unter maßlosen Schmerzen." Als ob es nicht gelte, hierzu eine Lebens-Alternative zu schaffen! Wiederum wird der grenzenlose ökonomische Utilitarismus deutlich. Wenn in den siebziger Jahren der ehemalige katholische Priester Hubertus Mynarek zum Ideologen der DUR aufsteigt, der in seinen Schriften gegen den "technisch-utilitaristischen", Natur "vernutzenden" Menschen angeht, so zeigt dies in aller Deutlichkeit die ganze Heuchelei im pantheistischen Organizismus: Gibt es eine größere "Vernutzung" in einer hochzivilisierten, extrem reichen Gesellschaft als die, kranke Menschen aus ökonomischen Gründen zu töten oder sterben zu lassen? In absurdester Perversion der Ethik schreibt Hartl: "Gerade in solcher Sterbehilfe könnte sich die wahre religiöse Ehrfurcht vor dem Leben zeigen, die viel tiefer und weiter greift als die bloße Ehrfurcht vor dem Bestand rein biologischer Funktionen des Lebens." Offenbar möchte er auch seine eigene Tätigkeit als SS-Mann entsorgen: "Massenvernichtungen" seien Frucht "der fortschreitenden Vermehrung der Menschheit" - das Problem der Überbevölkerung also -, die ersten Vernichter seien "die Israeliten" gewesen, die dem "Ausrottungsbefehl" ihres jüdischen Gottes gefolgt wären. Jetzt wissen wir endlich, wer am Komplex Auschwitz schuld ist, zumindest nach Meinung des unmittelbaren Vorgesetzten von Adolf Eichmann: das Judentum! Hartl beschwört am Schluß seiner Schrift noch einmal die New Age-faschistische "Einheit des Alls, die wir das Göttliche nennen. Nur in dieser religiösen Welt lösen sich uns die Probleme der Euthanasie." Das alles ist streng religiös abgesichert. Hartl bezieht sich in diesem Text von 1965 sogar noch einmal zusätzlich auf die theologischen Gutachten, die er selbst 1938/39 für Hitler besorgte. (402)

Die Beschäftigung der "Deutschen Unitarier" mit dem Tod bekommt vor diesem Hintergrund eine besondere Bedeutung. "Mauern abbauen" wollte ihre Zeitschrift "unitarische blätter" im Januar 1993: "Im Grenzland zwischen Leben und Tod." Drei Monate später hielt der "Fachverband für weltliche Bestattungs- und Trauerkultur" in der "Jugendbildungsstätte Klingberg" der "Deutschen Unitarier" ein Wochenendseminar ab: "Trauer um Kinder und Jugendliche - Kinder und Jugendliche in der Trauer". Da waren wohl Fachleute des Todes unter sich. Hartls Schriften dienten dem evangelischen Pfarrer Wolfgang Seibert aus Biebertal in Hessen in seinem unkritischen, durchweg positiven Buch "Deutsche Unitarier Religionsgemeinschaft" von 1989 als Quelle, um die DUR in der europäischen Kultur - nicht etwa Unkultur - verwurzelt darzustellen. Das Buch wurde von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen EZW, einer offiziellen Institution der EKD, herausgegeben. Die "Euthanasie"-Broschüre allerdings verschwieg Seibert, ebenso Hartls Tätigkeit in der SS. Offenbar war Ex-Katholik Hartl im evangelischen Bereich nicht unbekannt: Im Januar 1961 sprach er auf Einladung der Evangelischen Akademie Schleswig-Holstein in Ratzeburg. Es ist vor diesem Hintergrund völlig unverständlich, wie sich der Publizist Ernst Klee, der sich um die Aufklärung der Nazi-Euthanasie-Hintergründe verdient macht, bei einer Zeitschrift wie "Publik-Forum" engagieren kann, die den DUR-Ideologen Hubertus Mynarek vehement gegen antifaschistische Kritik in Schutz nimmt und die den "Justitiar" der DUR, Ralf Abel, als Kronzeugen gegen die konkurrierende rechte Sekte Scientology-Church anführt.

Albert Hartl macht am Ende seiner "Euthanasie"-Schrift noch einmal den Bezug zwischen Ideologie und Natur deutlich, der die Gestaltung der "Ahnenstätten" faschistischer Sekten prägt und deren politisch-weltanschauliche Botschaft ist. Es sei "eine natürliche Erfahrung", daß neben den "Gesetzen des Lebens", die "neues Reifen und Blühen und Lieben, neue Früchte und neue Ernten" bewirkten, "auch ein Gesetz des Welkens und Verderbens, des Verlöschens und Sterbens besteht. Wir erfahren es und wissen es, daß Tausende von einzelnen Naturgesetzen sich zu einem weiten und tiefen Gesamtgefüge eines einheitlichen ewigen Gesetzes verbinden." (403)

Die Botschaft "naturnaher" Todesäcker ist der Sozialdarwinismus des Werdens und Vergehens im Kampf ums Dasein, bis hin zu den Mordfabriken des Komplexes Auschwitz. Die Opfer dieser millionenfachen Morde verpflichten dazu, keine Toten und keine Lebenden "ruhen" zu lassen, wenn sich diese totgeglaubte Ideologie und Politik im sanften Gewand des New Age wieder regt. Es war die Blut-, Boden- und Rassereligion der völkischen Bewegung, die die moralischen Schranken vor dem Mord an den Schwachen niederriß. Es ist ihre Nachfolgerin, das New Age, die diese Schranken heute erneut überwindet. Die Opfer sind beide Male identisch.
 

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(Wie sich die "Schwarze Ethik" der rechten Sekten auf die Bioethik-Debatte im "Jahr der Lebenswissenschaften" 2001 auswirkte, zeigen die BIFFF-Texte:
"Biosozialismus I", "Biosozialismus II" und "Biosozialismus III",
die gekürzt auch in KONKRET erschienen.)
 

Anmerlungen:
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(383) A. de Benoist: Die Religion der Menschenrechte, in: Krebs 1988. "Thule"-Programm zit. n. Arbeitskreis "Neue Rechte": Thule Seminar. Spinne im Netz der Neuen Rechten, Kassel o. J. (1990), S. 10.
(384) "Volk im Werden", Jg. 1942, S. 46. Krieck 1938, S. 160. Hitler zit. n. Läpple 1980, S. 35. Hunke 1969, S. 333; S. 488 f; S. 503.
(385) Die "Duineser Elegien", die Hunke zitiert, sind ein Werk Rilkes, in dem er diese "ganzheitliche" Sicht des Todes darstellte. Hunke 1969, S. 414; S. 412; S. 407; S. 406.
Zu beachten ist die völkische Gebundenheit, wenn Hunke von "uns" spricht. Sogenannte Nicht-Arier haben in dieser religiösen Konzeption keinen Zugang zum All-Göttlichen, weil ihnen angeblich eine andere Religiösität "eigen" ist.
(386) S. Hunke: Tod - was ist Dein Sinn?, Pfullingen 1986, S. 124; S. 126; S. 129 f, S. 141 ff; S. 147; S. 145.
(387) GGG zit. n. Hieronimus 1982, in: Cancik, S. 169. DG zit. n. Deutschland-Berichte der SoPaDe, Bd. 2, 1935, S. 237. "Grundgedanken" der DUR, Flugblatt, (1990). Hunke 1986, S. 145. Der Begriff des "historischen Gewordenseins" bei Hunke darf nicht verwechselt werden mit dem, wie er von der Linken verwendet wird. Dieses "Gewordensein" beruht nicht auf der planmäßigen menschlichen Arbeit an der Welt, sondern auf rassisch-religiösen Zwängen.
(388) Vgl. "Der Rechte Rand", Nr. 14/1991, S. 13 f; Nr. 10/1991, S. 14-16.
(389) Capra 1987, S. 289. Fromm S. 126; S. 115; S. 109 f. Schweidlenka (1989) zitiert zur Geringschätzung des Individuums z. B. David Spangler von der Findhorn-Kommune.
(390) Verf. führte im Jahre 1990 mehrere Gespräche mit Reitz über das Projekt "Begleitung". Zur DG vgl. "Deutschlandberichte der SoPaDe 1934-1940", a. a. O; U. Nanko: Die Deutsche Glaubensbewegung. Eine historische und soziologische Untersuchung, Marburg 1993.
(391) R. Reitz: Christen und Sozialdemokratie. Konsequenzen aus einem Erbe, Stuttgart 1983, S. 162 f; S. 295; S. 301; S. 319. Vgl. "unitarische blätter", Nr. 1/1980, S. 7. Der Artikel behandelt "kultische Thingspiele", ein Thema, mit dem Eichberg den Neofaschismus in der Sportwissenschaft verankern wollte, vgl. F. Teichmann: Henning Eichberg. - Nationalrevolutionäre Perspektiven in der Sportwissenschaft, Frankfurt a. M. 1991.
Eichberg durfte im "Lexikon des Sozialismus" seine Sicht der Freidenkerbewegung darstellen (Köln 1986). Das Buch wurde mitherausgegeben von dem damaligen Büroleiter Willy Brandts, Karl-Heinz Klär, dem Leiter der Heimvolkshochschule der Friedrich-Ebert-Stiftung in Freudenberg, Thomas Meyer, und der SPD-Parteihistorikerin Susanne Miller.
(392) Atrott zit n. O. Tolmein: Geschätztes Leben. Die neue "Euthanasie"-Debatte, Hamburg 1990, S. 56. Vgl. Th. Bruns, U. Penselin und U. Sierck (Hrsg.): Tödliche Ethik. Beiträge gegen Eugenik und 'Euthanasie', Hamburg 1990; D. Weber: Wer nicht paßt, muß sterben. Euthanasie für das Jahr 2000, "Publik-Forum" Materialmappe, Oberursel 1990; Impatientia e. V. (Hrsg.): Informationspaket zur Bioethik-Debatte, Genarchiv Essen o. J.; L. Weß: Die Bioethik und der Wert des Menschen, in: "1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts", 5. Jg., 1990, H. 4, S. 64-81.
(393) P. Singer: Praktische Ethik, Stuttgart 1984, S. 291; S. 182 f. Vgl. Chamberlain 1928; vgl. Mynarek 1986, S. 203.
(394) Singer S. 40-56. Vgl. Krebs 1981; "elemente", einzige Ausgabe 1990.
(395) Jantzen 1991b, S. 57 f.
(396) Vgl. S. Heim und G. Aly: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Hamburg 1991; W. Schneider (Hrsg.): "Vernichtungspolitik". Eine Debatte über den Zusammenhang von Sozialpolitik und Genozid im nationalsozialistischen Deutschland, Hamburg 1991. "Verfolgung der Juden war kein Selbstzweck", Interview mit Susanne Heim, in: "ak", Nr. 338, 13. 1. 1992, S. 18 ff, hier S. 20.
(397) Vgl. G. Süssmann: Carl Friedrich von Weizsäcker, in: H.-J. Schultz (Hrsg.): Tendenzen der Theologie im 20. Jahrhundert. Eine Geschichte in Portraits, Stuttgart 1966, S. 582. Originalzitat in: C. F. v. Weizsäcker, Zum Weltbild der Physik, a. a. O., S. 332.
Zur Analyse der Ideologie und Praxis Viktor von Weizsäckers vgl. Karl Heinz Roth: Psychosomatische Medizin und "Euthanasie". Der Fall Viktor von Weizsäcker, in: "1999. Zeitschrift für die Sozialgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts", 1. Jg., 1986, H. 1, S. 65-99. Die im Text folgenden Zitate V. v. Weizsäckers finden sich bei Roth.
(398) Vgl. den "ganzheitlichen" Arzt Erwin Liek, der den angeblichen "Mißbrauch" der Sozial- und Rentenversicherung anprangerte und von Kranken der Unterschicht als "Kassenlöwen" sprach. Er unterschied in "Personen, denen es zu helfen lohne und solche, die keine Hilfsberechtigung besitzen würden", vgl. H.-P. Schmiedebach: Der wahre Arzt und das Wunder der Heilkunde. Erwin Lieks ärztlich-heilkundliche Ganzheitsideen, in: Der ganze Mensch und die Medizin, Hamburg 1989.
Vgl. den "ganzheitlichen Mediziner" Karl Kötschau, der sich 1981 ausdrücklich auf den südafrikanischen Rassisten-Holisten Jan Smuts berief und 1936 die Verantwortung für die "bewußte Pflege und Aufzucht alles Krankhaften und Erbuntüchtigen" beim "jüdisch marxistische(n) Internationalismus" suchte. Als Gegenmittel empfahl er, "die Ganzheits-Reaktionen organismischen Geschehens zu studieren", um "das große Ganze ..., die biologischen Zusammenhänge und Grundregeln der Natur" zu erkennen. "Wir wissen heute, daß man aus den Teilen nichts Ganzes aufbauen kann. Es ist nötig, vom Ganzen her zu kommen, die Natur als Ganzes zu betrachten und Gesundheit und Krankheit im Rahmen des Naturganzen zu erforschen", was praktisch bedeute: "Der Schwächliche ist nicht dazu da, geschont zu werden. ... Ist es nicht ein Gewinn für alle, wenn Sieche, die unter oft unsäglichen Leiden ihre letzten Lebensmonate verbringen müssen, in einem letzten Versuch, ihr Lebensschicksal zu wenden, etwa vorzeitig zugrunde gehen?" Wer alles krepieren soll, sagt Kötschau auch: "Ich denke an den Krebskranken, den Tuberkulösen, den Rheumakranken und andere chronische Leiden. ... Es wird eine Entscheidung darüber herbeigeführt, entweder Leistungsfähigkeit oder natürliche Ausmerze". Zit. n. R. Jäckle, S. 92-100.
Heutige Vorstellungen der "Eigenverantwortlichkeit" statt der staatlichen Wohlfahrtsfürsorge, wie sie für den Gesundheits- und Bildungsbereich in den "neuen sozialen Bewegungen" vertreten werden, haben in diesen älteren Angriffen auf die Sozialsysteme eine Wurzel. Sie arbeiten der konservativen Argumentation von der Notwendigkeit zur Selbstbeteiligung des Einzelnen vor allem im Gesundheitswesen zu, die so alt ist, wie die Sozialsysteme, und immer nur die unteren Gesellschaftsschichten traf.
(399) Vgl. "Der Spiegel", Nr. 12/1987, S. 142. Vgl. J. Friedrich: Die kalte Amnestie. NS-Täter in der Bundesrepublik, Frankfurt a. M. 1984, S. 113-118.
(400) Vgl. die DUR-Zeitschrift "glaube und tat", Nr. 10/1965, S. 320. Zu Catel vgl. Tolmein, S. 59; S. 188.
(401) Zur Biographie Hartls vgl. die oft widersprüchlichen Angaben in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg 14. November 1945 - 1. Oktober 1946, Nürnberg 1949, Bd. XXXVIII, Dokument 185-L (Geschäftsverteilungsplan des Reichssicherheitshauptamtes vom 1. März 1941), S. 1-24, hier: S. 14; F. Zipfel: Kirchenkampf in Deutschland 1933-1945, Berlin 1965, S. 296 f, S. 486. M. Höllen: Heinrich Wienken, der 'unpolitische' Kirchenpolitiker, Mainz 1981, S. 86 f, S. 91 f; H. Stehle: Ein Eiferer in der Gesellschaft von Mördern. Albert Hartl, der Chef des antikirchlichen Spitzeldienstes der SS, in: "Die Zeit", Nr. 41/1983, S. 12; E. Klee: "Euthanasie" im NS-Staat, Frankfurt a. M. 1983, S. 278 ff; ders.: Dokumente zur "Euthanasie", Frankfurt a. M. 1985, S. 146-151; ders., W. Dreßen und V. Rieß: "Schöne Zeiten". Judenmord aus der Sicht der Täter und Gaffer, Frankfurt a. M. 1988, S. 84 f; R. Rürup (Hrsg.): Topographie des Terrors. Gestapo, SS und Reichssicherheitshauptamt auf dem "Prinz-Albrecht-Gelände", Berlin 1987, S. 78.
(402) A. Hartl: Euthanasie aus religiöser Sicht, Hameln 1965, S. 4 f; S. 6; S. 15; S. 7; S. 16; S. 24; S. 8; S. 27; S. 11; S. 10 f; S. 28; S. 16; S. 19; S. 20; S. 21 f; S. 29.
(403) Ebd., S. 28.

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