Peter Kratz: "Rechte Genossen.
Neokonservatismus in der SPD", Einleitung
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1. Projekt M 
Modernisierung und Imperialismus 
im Interesse der Konzerne 

Die Sozialdemokratie der 90er Jahre strebt eine technokratische Gesellschaftsreform bisher nicht gekannten Ausmaßes an: das Projekt Modernisierung. Nach Ansicht führender Sozialdemokraten, aber auch des linken Flügels der Partei, gibt es für die Menschen in Nordmitteleuropa nur dann eine Lebensperspektive für das nächste Jahrundert, wenn das politische Handeln konsequent und total auf die Interessen der Hochtechnologie-Industrie ausgerichtet wird. Mit ein wenig sozialer und ökologischer Demagogie geht man darüber hinweg, daß dieses Konzept futuristischer Mobilmachung innenpolitisch Deregulierung und außenpolitisch zumindest ökonomische Aggressivität - wenn nicht auch militärisches Eingreifen - bedeutet. Die Effekte auf Menschen und Umwelt könnten katastrophal werden. 

Peter Glotz und der frühere schleswig-holsteinische SPD-Wirtschaftsminister Uwe Thomas brachten vor der Bundestagswahl 1994 ein Buch heraus, das sich wie eine Wunschliste der deutschen Hightech-Konzerne für die nächsten Jahrzehnte liest. Das Buch sollte den Industriemanagern und Kapitaleignern wohl die Regierungsfähigkeit der SPD im Falle eines Bonner Machtwechsels deutlich machen. Der Titel "Das Dritte Wirtschaftswunder. Aufbruch in eine neue Gründerzeit" zitiert das 19. Jahrhundert als Programm, einschlißlich aller sozialen und ökologischen Folgen. "Winning culture" heißt die Devise, explizit von Glotz in vielen Reden der letzten Jahre als neue Zielorientierung der Sozialdemokratie ausgegeben. Der Begriff kommt verkleidet, in fremder Sprache daher, doch er beinhaltet nichts anderes als die wilhelminische und faschistische Überheblichkeit derer, die andere zu Loosern machen wollen - seinerzeit von der Sozialdemokratie hartnäckig bekämpft.  (9) 

Die beiden Autoren vertreten die offizielle Wirtschafts- und Technologiepolitik der heutigen SPD, die voll und ganz auf Hochtechnologie setzt. "Deutschland verdankt seinen Wohlstand technologischen Spitzenprodukten. In den letzten Jahren hat uns aber die japanische und amerikanische Industrie abgehängt", hieß es in einem Wahlkampf-Prospekt der SPD vom Herbst 1994; im Europa-Wahlkampf einige Monate vorher stand da noch "gnadenlos abgehängt". "Die SPD wird sofort in Forschung, Bildung und Wissenschaft verstärkt investieren, um die deutsche Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern", lautete nun das Wahlversprechen unter der Überschrift "Arbeit mit Zukunft - Reformen für Deutschland". Hier wurde nahtlos an die Hightech-Politik unter dem Bundeskanzler Helmut Schmidt in den 70er Jahren angeknüpft, als die SPD den Einstieg in die Luft- und Raumfahrt, in die Plutoniumwirtschaft mit der Entwicklung des Schnellen Brüters und in die Hochgeschwindigkeits-Verkehrspolitik mit dem Bau der ersten Transrapid-Teststrecke vollzog. Nach dem Erscheinen des "Wirtschaftswunder"-Buches berief Rudolf Scharping den SPD-"Vordenker" Glotz in sein Schattenkabinett: Als Superminister für "Wissenschaft, Forschung und Innovation", einem neu zu schaffenen Schlüsselressort der Zukunftsplanung, dem auch Teile der Kommunikationsinfrastruktur zugeschlagen werden sollten. 

In einem "Memorandum zur Innovationspolitik in Deutschland", das Scharping, Glotz und Lafontaine im Mai 1994 vorstellten, wurde die Richtung dieser Zukunftspolitik klar. Der Wirtschaft solle in den staatlichen Großforschungseinrichtungen "mehr Einfluß auf die Prioritätensetzung eingeräumt werden", hieß es da. Der bisherigen Forschungspolitik fehle "eine konsequente Industrieorientierung, die das Ziel, neue Wachstumsmärkte mittelfristig zu gewinnen, realistisch erscheinen läßt". 

Glotz und Thomas meinen, daß sich der europäische Wirtschaftsraum - faktisch deutsch geführt - die Welt untertan machen muß, daß überall Märkte, Rohstoffe, Humankapital zu erobern sind, wenn in Nordmitteleuropa Zukunft sein soll. Die Zielregionen der Expansion sind schnell abgesteckt: China und Ostasien, Indien, Osteuropa - Wachstumsregionen, in denen die schnelle Mark zu verdienen ist. "Hinzu kommen die Energie- und Rohstoffreserven von Rußland, Kasachstan und anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion", heißt es in dem Buch. 

In scharfem deutschem Ton fordern sie, die Produkte des deutschen Hochkapitalismus als "Weltstandards durchzusetzen", "zum Beispiel beim digitalen Funktelefon" von Siemens und Mannesmann. (Die neuartigen elektronischen Grenzsicherungsanlagen, die Siemens-Nixdorf in Ungarn zur Fahndungsbeschleunigung aufbaut, nennen sie lieber nicht, auch nicht den "mobilen Sensorzaun für Baustellen", den die Daimler-Benz Aerospce AG DASA - vielleicht auch für Ad-hoc-Lager oder Polizeikessel - entwickelt hat.) Die expandierenden Branchen, die sie als Basis dieser Zukunft aufzählen, hätte man fast allein erraten: Informationstechnologie, Biotechnologie, Atomtechnologie, Verkehrstechnologie, Recyclingtechnologie. "Deshalb werden weltweit - hoffentlich - die sicheren Kernkraftwerke übrigbleiben und die unsicheren bald abgeschaltet werden." 

Siemens verkaufte 1994 mehrere Kohlekraftwerke und Wasserkraftwerkskomponenten nach China, das zusätzlich 15 Atomkraftwerke bauen will - in der Tat ein hoffnungsvoller Markt, auf dem keine Demonstrationen und Blockaden vor Werkstoren und Zwischenlagern oder Baumbesetzungen in Flußtälern zu befürchten sind. Himmlicher Friede für deutsche Konzerne. Der energiepolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Volker Jung, hatte bereits im Januar 1994 auf einer Tagung des industrienahen "Deutschen Atomforums" angekündigt, die SPD werde über die Ausstiegspolitik neu nachdenken, wenn Siemens die angekündigten "sicheren" Reaktoren herausbringe.Gerhard Schröder setzte diese Politik 1995 vehement fort. 

Mercedes-Benz setzt auf das "Family Car China" und entwickelte eine Markt- und Produktstudie, die AEG-Daimler-Benz-Industrie leitet das Konsortium für den U-Bahn-Bau in Shanghai und der Mutterkonzern richtete das "Daimler-Benz-Beida-Stipendium" für ausgewählte spätere Lobbyisten ein. Ein Daimler-Labor für Metallurgie steht bereits in China, ein Joint Venture zur Luft- und Raumfahrttechnik schloß die DASA dort ab. Mit Mikroelektronik und Halbleiter-Fertigung ist der Mischkonzern, den SPD-Mitglied und Scharping-Wirtschaftsberater Edzard Reuter formte, in Schanghai schon präsent: da boomt's. 

Aber auch überraschende Expansionsfelder nennen Glotz und Thomas. "Ein Markt, der voller Dynamik steckt, ist der Gesundheitsmarkt, ist der Wunsch der Menschen nach Gesundheit und einem langen Leben, den sie sich etwas kosten lassen. Nicht zu Unrecht wird in diesem Zusammenhang die Gentechnologie genannt ... Die wirkungsvolle Bekämpfung von Krankheit und Tod ist ein Ziel, das neue Märkte beflügelt." Solche Zukunftsvisionen hören die chemischen Konzerne ebenso gerne wie die Siemens AG, deren Konzernbereich "Medizintechnik" sich immer weiter vergrößert, während die medizinischen Leistungen für die breite Bevölkerung durch Gesundheitsreformen immer weiter eingeschränkt werden. 

Die Zukunftsoffensive von Glotz und Thomas soll nicht etwa den Lebensstandard verbessern, sondern zielt auf reine Warenproduktion und Warenverkauf. Die Realisierung von Tauschwert auf dem Weltmarkt ist das Ziel, der Gebrauchswert der Waren spielt nur eine Nebenrolle. Wer braucht schon wirklich ein Auto, das über eine Kamera Verkehrszeichen selbständig erkennt und verarbeitet - Mercedes-Benz entwickelt diese Technik. Wer braucht schon die DASA-3D-Kamera in einer Weltraumstation, die der "Daimler-Benz High Tech Report" so anpreist: "In Neu Delhi sieht man einzelne Flugzeuge landen, in Saudi-Arabien erkennt man den Reifegrad der Früchte"? Die Bauern wohl kaum, denn die arbeiten am Boden und sehen es selbst. Wer braucht wirklich das sensorische Fahrzeug, das Mercedes-Benz mit der E-Klasse der Limousinen 1995 auf den Markt brachte: "Infrarotstrahlen tasten die Scheibe ab. Sensoren fangen die Reflexionen auf. Je schwächer die Reflexion, deso mehr Wasser auf dem Glas - und desto höher die Wischfrequenz", schrieb der "High Tech Report", und: "Der winzige Sensor auf dem Armaturenbrett mißt die Lichtstärke der Sonne und regelt die Klimaanlage." Bei manchen Projekten, z. B. der Magnetschwebebahn Transrapid, will die SPD einen Einsatz auf dem heimischen Markt sogar weitgehend verhindern, weil die Hochgeschwindigkeitsbahn ICE die europäischen Großstädte wesentlich günstiger verbinden kann, auf meist vorhandenen Trassen. Der Transrapid soll für den Export entwickelt werden und den Verkehrs- und Elektrokonzernen Kapitalverwertungsmöglichkeiten eröffnen, die sich in dieser Art in Europa nur noch schwer durchsetzen lassen. 

Das vermeintlich sichere Atomkraftwerk wird sich eher im Export durchsetzen lassen als im ökologisch sensibilisierten Europa. Die technische Überwachung auf dem AKW-Weltmarkt - und damit die Kontrolle der Energieerzeugung und der Mengen des regionalen Energieverbrauchs - bleibt weltweit ein Monopol des Nordens. Das digitale Funktelefon ist eher ein Produkt für die Mittel- und Oberschicht des Weltmarktes - auch für die Oberschicht der "Dritten Welt". Die "Ariane"-Rakete dient weniger einer europäischen Unabhängigkeit von den USA als dem Konkurrenzgeschäft im kommerziellen Satellitentransport für die Medienkonzerne des Nordens oder den Kommunikations- und Militärinteressen der Europäischen Union und der neuen Mittelmächte. Hier werden nicht Gebrauchswerte für die breite Bevölkerung entwickelt, sondern Transportkapazitäten, die an kapitalkräftige Medienkonzerne verkauft werden: Speditionsgeschäfte. "Über den Bereich staatlicher Aufträge hinaus gibt es zudem doch eine ganze Reihe kommerzieller Bereiche, in denen wir sehr erfolgreich sind", meinte Daimler-Benz-Chef Edzard Reuter im November 1993 gegenüber der Zeitschrift "Wirtschafts-Woche". "Zum Beispiel die europäische Ariane-Rakete, an der wir beteiligt sind. In der vergangenen Woche hat die Dasa ein Joint Venture in China für die Entwicklung und den Vertrieb von Kommunikationssatelliten abgeschlossen. Dasselbe haben wir auch in Amerika getan. Luft- und Raumfahrt ist ein internationales Geschäft, und im Ausland sehe ich erhebliche Chancen." 

Auch die Entwicklung und Patentierung genetisch veränderter Lebewesen dient weniger der Erhöhung des Wohlstands als vielmehr dem weltweiten Lizenzverkauf der Patente. Das Erbgut der Natur wird als genetische Ressource verstanden. Den Zugriff hierauf wollen sich die Chemiekonzerne ebenso sichern wie aufs Erdöl. Die Kontrolle der Welternährung durch genetisch verändertes Saatgut und den jeweils passend lieferbaren Kunstdünger erhöht nicht die Ernährungssicherheit in der "Dritten Welt", sondern die Monopolsicherheit der Konzerne des Nordens. Denn die Patente bleiben im Norden. Wer das Monopol eingerichtet hat, kann auf Jahrzehnte hinaus sichere Gewinne einfahren: Herkömmliches Saatgut wird verdrängt, die Artenvielfalt ökonomisch reduziert, bis die Ernährungsproduktion weltweit in die koloniale Abhängigkeit weniger Chemiekonzerne geführt ist. In Wirklichkeit will dieses "Dritte Wirtschaftswunder" keinen breiten materiellen Wohlstand schaffen, sondern Waren verkaufen: irgend etwas, und wenn es nur Patente, Organisationssysteme, Wartungs- und Verwaltungsdienstleistungen sind.  (10) 

Freilich muß sich die Europäische Union in der Triadenkonkurrenz behaupten, denn in den USA und in Japan wird ähnlich gedacht und geplant wie bei Glotz, Thomas und in den Konzernetagen des deutsch geführten europäischen Kapitals. "Sturm auf Europa" nannte die "Wirtschafts-Woche" im Januar 1994 die US-Wirtschaftspolitik. "Das Rennen geht weiter", meinte schon zwei Jahre vorher Siemens-Chef Heinrich von Pierer im "Spiegel" zum Wettlauf mit japanischen Konzernen um den 64-Megabit-Chip. "Das ist für uns allerdings eine Überlebensfrage", vertraute er nur Wochen später der SPD-Mitgliederzeitschrift "Vorwärts" an, die kommentierend hinzufügte: "Eine Überlebensfrage für Europa". Der "Vorwärts"-Artikel war mit der bedrohlichen Frage überschrieben "Auf dem Weg zur japanischen Kolonie?", ein Horrorszenarium erschreckte und orientierte die sozialdemokratischen Parteimitglieder: "Europas Computerhersteller fallen im Wettbewerb mit den großen japanischen und amerikanischen Konkurrenten immer weiter zurück. ... Als einziger europäischer Wettbewerber auf dem Chip-Markt ist mittlerweile Siemens übriggeblieben." 

In einer gemeinsamen Erklärung der SPD-Wirtschaftsexperten vom Juni 1994 zogen Rudolf Scharping, Oskar Lafontaine, die Wirtschaftsminister der SPD-geführten Bundesländer und die wirtschaftspolitischen Sprecher der SPD-Fraktionen im Bundestag und den Landesparlamenten die politische Konsequenz: "Die Anstrengungen deutscher Unternehmen zur Erschließung neuer Märkte müssen durch eine aktive Außenwirtschaftspolitik unterstützt werden. Ein Land, in dem jeder vierte Arbeitsplatz vom Export abhängt, kann es sich nicht leisten, daß unsere Unternehmen auf den Auslandsmärkten nur deshalb das Nachsehen haben, weil sich die Regierungen unserer Konkurrenten wirksamer für ihre Unternehmen einsetzen. Die deutschen Botschaften im Ausland müssen sich stärker als bisher handelspolitisch engagieren. Die deutsche Entwicklungspolitik muß enger mit der Außenwirtschaftspolitik verzahnt werden. Bei den Finanzierungsbedingungen wichtiger Exportprojekte muß für mehr Chancengleichheit gesorgt werden."  (11) 

Notfalls muß eine schnelle Eingreiftruppe der Bundeswehr ran, um die Interessen deutscher Konzerne gegen die "global tätigen amerikanischen Hochtechnologie-Unternehmen" zu behaupten, die Glotz im Mai 1994 als einen Hauptgegner der deutschen Computer-Konzerne Siemens-Nixdorf oder Mannesmann ausmachte. Starke Kräfte in der SPD-Bundestagsfraktion befürworten heute bereits uneingeschränkte Kriegseinsätze deutscher Soldaten überall auf der Welt, um die Interessen "unserer Unternehmen" zur Geltung zu bringen. Die "Petersberger Beschlüsse" der SPD-Spitze 1992 verhalfen dieser Kehrtwende in der Friedenspolitik zu Durchbruch. Demokratisch nicht legitimiert, verständigten sich führende Politiker aus Parteivorstand und Bundestagsfraktion bei einer internen Tagung im Gästehaus der Bundesregierung auf dem Petersberg über Bonn darauf, weltweite militärische Einsätze der Bundeswehr unter UNO-Befehl zu unterstützten und damit an der Militarisierung der neuen deutschen Außen-(handels)-politik mitzuwirken, obwohl damals Parteitagsbeschlüsse eindeutig dagegen standen. Der Wiesbadener Parteitag vom November 1993 legitimierte den Kurswechsel dann, doch der rechte Gewerkschaftsflügel in der SPD stellte sofort danach auch den neuen "Blauhelm"-Kompromiß in Frage: "An dem Tag, an dem die SPD die Regierung übernimmt, werden die dort beschlossenen Positionen keinen Bestand mehr haben", erklärte der hannoveraner SPD-Abgeordnete Gerd Andres, Sprecher des einflußreichen "Seeheimer Kreises" und Gewerkschaftssekretär beim Hauptvorstand der IG Chemie-Papier-Keramik, im November 1993 im SPD-nahen "Politisch-Parlamentarischen Pressedienst". 

Weniger der große Krieg gegen die beiden Konkurrenten steht hier zur Debatte, als vielmehr das Bestreben, "deutsche" oder "europäische" Interessen zu wahren, indem deutsche Soldaten einfach nur "dabei" sind. So werden die militärischen Kontingente anderer EU-Staaten für die Interessen der deutschen Konzerne streiten, ohne daß die innereuropäischen Konkurrenten den Vorwurf der Drückebergerei gegen die Deutschen erheben können. Eine besondere Sprachregelung gab hierzu der langjährige SPD-Verteidigungspolitiker Erwin Horn im Februar 1994 nach der Münchner "Wehrkunde-Tagung" aus, auf der Scharping seine Übereinstimmung mit der Außen- und Militärpolitik Helmut Kohls bekundet hatte: Die Sozialdemokratie als "klassische Partei des Internationalismus" könne nicht "immer bloß abseits stehen. Wir müssen den wilhelminischen Größenwahn lassen, immer etwas anderes sein zu wollen als die anderen." 

Die erste Amtshandlung der vorherigen SPD-Politikerin Jutta Limbach als Vizepräsidentin des Bundesverfassungsgerichts war die Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der Blauhelm-Einsätze von Bundeswehrsoldaten. In dem Urteil vom Sommer 1994 nannte das höchste deutsche Gericht den Staat aus Serbien und Montenegro "Restjugoslawien", statt den offiziellen Staatsnamen Jugoslawien zu verwenden. Eine solche Bezeichnung gab es zuletzt 1938/39, als Nazideutschland zuerst von der "Resttschechei" sprach und sie dann besetzte. Inzwischen benehmen sich Nato und EU in Bosnien-Herzegowina als Besatzungsmacht, die nach Gutdünken Soldaten stationiert. In der SPD sagt man Ja, wenn die Semantik stimmt. Der außenpolitische Sprecher ihrer Bundestagsfraktion, Karsten Voigt, erklärte im Februar 1995, beim Abzug der Uno-Blauhelme müsse man doch helfen: "Und es gibt nichts Defensiveres als die Planung eines Abzugs, auch wenn dabei zum Schutz der Soldaten militärische Komponenten notwenig sind." Deshalb solle die SPD dem Bundesverteidigungsministerium zustimmen, Jagdflugzeuge und Kriegsschiffe nicht abzuziehen, sondern hinzuschicken. Voigt forderte dann im Mai 1995, als sich der Bürgerkrieg verschärfte: "Weiter dagegenhalten!", was deutlich militärisch gemeint war. Und der Außenpolitiker Freimut Duve, der sich zum linken Flügel der SPD zählt, wurde im selben Frühjahr nicht müde, für ein militärisches Eingreifen auf dem Balkan zu werben. 

"Deutsche Soldaten und deutsche Waffen in alle Welt? Nein, Herr Kohl!", schrieb die SPD im Herbst 1994 auf ein Flugblatt. Doch las man genau, so wurde auch diese Option offengehalten: "Unser Appell an Kanzler Kohl: Kommen Sie herunter von Ihrem hohen Feldhernnroß. Verhelfen Sie Deutschland zu neuer Ehre: als friedfertiges, helfendes und damit bei Nachbarn und in der Dritten Welt geachtetes Land." Und im Kleingedruckten hieß es: "Das will die SPD: Eine saubere Verfassungsänderung, die die Beteiligung deutscher Soldaten an friedenserhaltenden Blauhelm-Missionen sowie der Absicherung humanitärer Hilfe und von UNO-Schutzzonen ermöglicht." Inzwischen geht es nicht mehr nur um Blauhelm-Missionen, sondern der Bundestag entschied Ende Juni 1995 über die Entsendung regulärer Kampfverbände auf den Balkan. Die Sozialdemokratie inszenierte eine ablenkende Debatte über "Tornados oder Lazarette" und entschied sich mehrheitlich für logistische Bodentruppen. 45 SPD-MdB unter Führung von Norbert Gansel, Freimut Duve, Karsten Voigt, Stefan Hilsberg, Thomas Krüger, Hermann Rappe, Gerd Andres, Rolf Schwanitz und Erwin Horn stimmten jedoch auch für die Kampfflugzeuge und damit für den Eintritt Deutschlands in den jugoslawischen Bürgerkrieg. So hatte die Blauhelm-Diskussion in weniger als drei Jahren von der humanitären Hilfe zur Kriegsbeteiligung geführt. 

Über das eigentliche Ziel einer Verfassungsänderung, die die Bundeswehr an Blauhelm-Einsätzen der Uno beteiligte, hat Peter Glotz nie Unklarheiten gelassen. Bei ihm gibt es keine Tabuzonen mehr, in denen aus historischer Rücksichtnahme keine deutsche Soldaten stationiert werden sollten, wie dies die SPD-Führung z. B. beim ehemaligen Jugoslawien teilweise noch vertritt. Auch die Schalmeienklänge von humanitärer Hilfe verklingen angesichts der Milliarden, die deutsche Konzerne in Südosteuropa verdienen könnten. Glotz forderte im Frühjahr 1994 in der Wochenzeitung "Die Zeit" den Einmarsch von Bodentruppen in die Balkanregion: "Man muß einen grausamen Krieg entweder ausbluten lassen, oder man muß das betreffende Land besetzen, mit allen Konsequenzen und der Bereitschaft, dort lange zu bleiben." Sein politischer Ziehsohn Tilman Fichter geht noch weiter. Er forderte im Mai 1994 in der sozialdemokratischen Theoriezeitschrift "Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte" - Chefredakteur: Peter Glotz - die militärische "Besetzung" Bosnien-Herzegowinas durch "europäische und nordamerikanische Eliteeinheiten" unter ausdrücklicher Beteiligung der Bundeswehr an dieser Invasion. 

Glotz selbst schloß sich in demselben Heft dieser Meinung an. Er druckte einen persönlichen Brief an Fichter ab, in dem er schrieb: "Deine Grundidee, daß die einzige 'Lösung' dieses Konfliktes ein regelrechter Krieg und eine daran sich anschließende langjährige Besetzung wäre, teile ich." Diese Option würde bisher jedoch "von keiner der betroffenen Mächte in Erwägung gezogen". Glotz ging noch den entscheidenden Schritt weiter und machte vollends deutlich, daß diese SPD-Politik vermeintlich humanitärer Einsätze genau auf die Expansionsgebiete zielt, in denen das deutscheuropäische Kapital nach Meinung von Glotz und Thomas Gewinne erwirtschaften soll. Er schrieb an Fichter: "Vergiß bitte nicht, daß es in Kabul, Tbilissi oder Maputo genauso schlimm zugeht wie in Sarajewo. Warum ein großer Krieg in Sarajewo und nicht auch in den übrigen dreißig Konfliktherden, die derzeit brennen?" Nach diesen Stichworten zog auch der Glotz-Nachfolger im Amt des SPD-Bundesgeschäftsführers, Günter Verheugen, nach: Die Bundeswehr solle auch dort eingesetzt werden, wo die Wehrmacht Nazi-Deutschlands bereits kämpfte, sagte er im Februar 1995. "Gerade weil Deutschland in der Vergangenheit dort schuldig geworden ist, müssen die Deutschen helfen, wenn sie um Hilfe gebeten werden", meinte Verheugen, nachdem Fichter ähnlich argumentiert hatte. Inzwischen plant die DASA eine Militär-Version des Airbus als Transportmittel. 

Der Bundesratsminister im Mainzer Kabinett Scharping, Florian Gerster, schrieb im Januar 1994 in der "FAZ": "Echte Bedrohungen des Weltfriedens, wie sie mit dem Völkermord auf dem Balkan entstanden sind, erfordern keine Blauhelme, sondern - wenn überhaupt - Eingreiftruppen von modern ausgerüsteten Soldaten." Als Vorsitzender des SPD-Bezirks Rheinhessen gehört er zu den einflußreichsten Politikern der Partei und stieg nach Scharpings Weggang unter Ministerpräsident Kurt Beck zum Sozialminister von Rheinland-Pfalz auf. Die tatsächliche Weltpolitik einer SPD-Regierung - "winning culture" eben - wird an solchen Äußerungen deutlicher als an Parteitagsbeschlüssen, die nach der "Methode Petersberg" ohnehin schnell gekippt werden können. 

Was inzwischen SPD-Politik ist, mußte jahrelang sorgfältig vorbereitet werden, denn die Parteibasis hatte sich in den 80er Jahren vehement und oftmals pazifistisch in der Friedensbewegung engagiert. Schon im Frühjahr 1992 trat Glotz für weltweite Kriegseinsätze der Bundeswehr ein und berief sich dabei auf Willy Brandt und den damaligen Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, Hans-Ulrich Klose, heute Vizepräsident des Bundestages. Der Weg sollte über "die Beteiligung an einer wirksamen europäischen Verteidigung" gehen, denn Europa könne "nicht große Töne von einer Selbständigkeit spucken und immer dann, wenn doch einmal Soldaten notwendig sind, die Amerikaner bitten, die Sache zu erledigen", so Glotz. "Die Sache" - das eurogemeinschaftliche "Erledigen" von Menschen gegen außereuropäische Konkurrenten - wurde damals von Freimut Duve als Mittel gesehen, den "Anspruch der USA auf den Status als alleinige Supermacht" zurückzudrängen. Der rotgrüne Politikwissenschaftler Claus Leggewie schrieb sogar im April 1991 im "Vorwärts": "Die Außenpolitik der deutschen Sozialdemokratie darf nicht der verlängerte Arm von Pax Christi werden. Es gibt, im Zweifelsfall, in der Tat wichtigeres als den Frieden."  (12) 

Freimut Duve brachte schon 1986 das Buch "Die Weltmächte gegen Europa. Plädoyer für ein neues europäisches Selbstbewußtsein" von Régis Debray heraus. Debray war damals der engste außenpolitische Berater des französischen Staatspräsidenten Francois Mitterand, auf dem die Hoffnungen der europäischen Sozialdemokratie ruhten. "Das vorliegende Buch ist darum auch in der französischen und amerikanischen Presse als programmatische Stimme Mitterands gewertet worden", schrieb Duve in einer Vorbemerkung. Debrays Buch endet mit der Aufforderung, das "Schicksal Europas" in Konkurrenz zu den USA an die Hochtechnologie zu binden: "Frankreich stellt die Hälfte der europäischen Weltraumforschungsaktivitäten, und wenn Europa (elf Länder sind Mitglieder der Weltraumbehörde) nicht bald auch im Weltraum präsent ist, wird es sich auch auf der Erde verflüchtigen. Unsere Zänkereien sind lächerlich, wenn man bedenkt, was mit der Einführung der Roboter, der Mikroelektronik, der Biotechnologie, der Weltraumraketen ... auf uns zukommt." Debrays Visionen von der alles überragenden Großmacht Europa sind weitgehend identisch mit denen der französischen "Neuen Rechten" um Alain de Benoist und Guillaume Faye, die schon lange die USA als den "Hauptfeind" ansehen, mit dem Europa möglicherweise sogar in einen dritten Weltkrieg verwickelt werde. So las man beim Berater Mitterands: "Die dritte Großmacht der Welt - eigentlich ist sie aufgrund ihrer Anthropologie, ihrer Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur die erste - hat es nicht nötig, in der militärischen Rangordnung ein Abklatsch der beiden ersten zu sein." Und auch die "Nouvelle Droite" betont allerorten, daß die Hochtechnologie - von der Weltraumfahrt über den Computer bis zur Gentechnik - eine Entwicklung Europas sei, vor allem seines deutschen Teils, und deshalb exklusiv zur kulturellen Identität des Nordeuropäers gehöre. So wundert es nicht, daß Debray schließlich in der Benoist-Zeitschrift "Krisis" publizierte. 

Horst Ehmke, ein erklärter Gegner nationaler Tümelei, der in den 70er und 80er Jahren ein außenpolitischer Steuermann der SPD und enger Vertrauter Willy Brandts war, schrieb im Januar 1989 im Pressedienst seiner Partei: "Vor genau fünf Jahren habe ich in einer kleinen Schrift über die 'Selbstbehauptung Europas' dargelegt, warum das an Menschen, Wissen und Fähigkeiten so reiche Westeuropa seine Kräfte endlich zusammenfassen muß, wenn es zwischen den beiden Weltmächten seine Eigenständigkeit wahren und im weltweiten wirtschaftlichen und technologischen Wettbewerb mit Japan und den Vereinigten Staaten bestehen will. Inzwischen ist die atemberaubende Entwicklung Japans weiter fortgeschritten, und auf dem amerikanischen Kontinent sehen wir uns jetzt einer Freihandelszone der USA und Kanadas gegenüber", die seitdem noch um Mexiko erweitert wurde. Die dritte Weltmacht war 1989 noch die UdSSR. Das Feindbild des Dritten wurde inzwischen lediglich etwas weiter nach Osten verlagert. 

Es ist eine alte Erfahrung, daß sich die Gefährlichkeit der Rede mit wachsender Irrationalität erhöht. Jacques Delors, sozialdemokratischer Präsident der Europäischen Kommission, sagte 1991: "Wir müssen uns schnell bewegen, sonst wird Europa zu einer archäologischen Ausgrabungsstätte, wo Amerikaner und Japaner nach untergegangenen Gedanken und Lebensstilen suchen werden." Im März 1989 warnte Glotz davor, Europa werde "koloniales Terrain", "ein phantastisches kulturhistorisches Museum", "ein Kontinent mit absteigender Tendenz", auf dem die "nivellierende Massenkultur" nordamerikanischer Medienkonzerne aus japanischer Unterhaltungselektronik quille. Zwischen dieser apokalyptischen Vision und der Option auf die "winning culture" liegen nur fünf Jahre deutscher Einheit.  (13) 

Nach allem wundert es nicht mehr, daß die Sprache von Glotz und Thomas im "Dritten Wirtschaftswunder" 1994 die von Kriegsziel-Denkschriften ist. Es gilt, "neue Märkte schneller zu besetzen und dabei global zu denken". Die "Exportoffensive der Zukunft" müsse jetzt eröffnet werden, damit "unsere innovativen Unternehmen" an den Fronten "kräftig mitmischen" können, bevor "neue Konkurrenten" zum Zuge kämen, dann mit "dramatischen Konsequenzen". Der Zweite Golfkrieg drängt sich als Beispiel für diese Konsequenzen auf: Kapitalkräftige, industrialisierte Mittelmächte wurden vom Norden militärisch in die Schranken verwiesen. Glotz und Thomas geht es darum, "globale Präsenz zu gewinnen. Die deutsche Industrie mit ihren mittelständischen und gleichzeitig weltweit operierenden Unternehmen ist dafür zumindest in den klassischen Märkten hervorragend gerüstet." An solchen Sätzen wird auch klar, daß es ihnen trotz aller europäischen Orientierung vor allem um die Interessen des deutschen Kapitals geht, das faktisch ohnehin die führende Kraft der Europäischen Union ist. 

Ökologische und soziale Demagogie 

Diesen Visionen von globaler Präsenz deutscheuropäischer Hochtechnologie steht konkrete Not gegenüber, auf allen Ebenen. Drei Beispiele: Recyclingtechnologie z. B. ist als Mittel der Kapitalverwertung nur solange interessant, als genügend Müll produziert wird. Die Möglichkeit der Gewinnerwirtschaftung durch Wiederverwertung verlangt geradezu nach Verschleißproduktion, nach kurzlebigen statt soliden Produkten, nach Moden und Wegwerfwirtschaft. Import und Export von Müll sind heute bereits der Regelfall, weil immer mehr private Unternehmen der Abfallwirtschaft europaweit und international organisiert sind. Der Rohstoff Müll wird zum begehrten Handelsgut, denn profitorientiert arbeitende Recycling-Fabriken müssen ausgelastet sein, wenn sich die Investitionen für die Kapitaleigner rentieren sollen. Die kapitalistische Organisation macht die Recyclingwirtschaft unökologisch, aber auch unsozial. Denn der Arbeits- und Gesundheitsschutz in der Müllentsorgung ist mangelhaft, an den Sortierfließbändern stehen vorwiegend unterprivilegierte ausländische Arbeitskräfte, um die Kosten des Faktors Arbeit auf dem neuen Müll-Markt gering zu halten. 

Auch auf dem Gesundheitsmarkt, den Glotz und Thomas als boomendes Investitionsfeld entdeckt haben, läßt sich ohne Krankheiten, ohne Leid und Angst, kein Geld verdienen. Die Hochtechnologie des Konzernbereichs "Medizinische Technik", für den die Siemens AG im "Vorwärts" Anfang der 90er Jahre ganzseitige Anzeigen schaltete, als Wachstumschance zu propagieren, ist auch aufgrund der Situation im Gesundheitswesen nicht schlüssig, wo die SPD den Sozialabbau - "Kostendämpfung" genannt - mittrug. Der DGB-Sozialwissenschaftler Gerhard Bäcker kritisierte im Juni 1995: "Steigende Gesundheitsausgaben gelten, wenn sie öffentlich, d. h. über Beiträge und/oder Steuern finanziert werden, als Ausdruck einer gefährlichen Kostenexpansion. Steigende Gesundheitsausgaben gelten demgegenüber, wenn sie privat, d. h. über Versicherungsprämien und/oder Marktpreise finanziert werden, als Ausdruck eines Zukunftsträchtigen Wachstumsmarktes mit Beschäftigungs- und Gewinnchancen." Diese Art von Modernisierungspolitik hat soziale Konsequenzen: "Nur wer über ein ausreichendes Einkommen verfügt, kann sich dann eine dem medizinischen Standard entsprechende Versorgung leisten", so Bäcker. (14)   

Schließlich: Wer glaubt denn, das nordamerikanische und das ostasiatische Kapital ließen sich ihre Expansionsräume widerstandlos abjagen! Ein deutsch geführtes Europa wird sich also zu wappnen haben. Not und Tod sind die Gevattern des "Dritten Wirtschaftswunders", es wird Opfer geben: soziale, ökologische, Kriegsopfer auch bei der erneuten Weltaufteilung. "Natürlich ändert sich die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung", so Glotz und Thomas, "daraus ergeben sich für einzelne Branchen Nachteile, die zu struktureller Arbeitslosigkeit führen. Es macht jedoch volkswirtschaftlich wenig Sinn, immer nur die Nachteile zu beklagen. Wir sollten auch die Vorteile zu schätzen wissen." In den Vorstandsetagen und Entwicklungslabors von Siemens, Daimler-Benz und den IG Farben-Nachfolgern Bayer, BASF und Hoechst weiß man sie zu schätzen, auf den Aktionärsversammlungen auch. 

Deutlichere Hinweise auf die ganz normalen Folgen kapitalistischen Gründungsfiebers verkneifen sich Glotz und Thomas. Die Wirklichkeit der Kapitaloffensive wird von ihnen eingekleidet in den wohlfeilen "ökologischen Umbau". Durch marktwirtschaftliche Werkzeuge sollen ökologisch verträgliche, energiesparende Produkte entwickelt und auf den Weltmarkt geworfen werden. Die deutschen Konzerne könnten dabei ihr Knowhow in Wettbewerbsvorteile verwandeln. "Eine schrittweise und berechenbare Anhebung der Energiesteuern, verteilt über ein bis zwei Jahrzehnte bei gleichzeitiger Senkung der Einkommens- und Körperschaftsteuern, könnte einen Heimmarkt für die Exportoffensive der Zukunft schaffen." 

So wollen Glotz und Thomas die Kritik an ihrer Wachstumseuphorie parieren. Doch die Gesellschaften der "Dritten Welt" müßten ja erst einmal das Markt-Niveau für Hightech-Produkte entwickeln, zumindest in ihren Metropolen. Die erste Gründerzeit muß dort stattfinden - soziale und ökologische Verelendung inbegriffen -, um Kundschaft für die Waren der "dritten Gründerzeit" zu haben: Eine Mittel- und Oberschicht muß sich erst herausbilden, die dann Hochtechnologie kaufen kann. 

Dieser Zusammenhang könnte dem breiten Publikum auffallen, also sorgen Glotz und Thomas verbal vor: "Wenn das Wachstum der neuen Industrieländer sich allerdings an den Mustern der alten orientiert und nur zu einer weiteren Dimension in der Ressoucenverschwendung und Umweltbelastung führt, steuert die Weltwirtschaft in eine extrem kritische Situation." Ihre Lösung bedeutet faktisch, den Wohlstand auf wenige zu beschränken. "Die Leute werden vielleicht bequemere, leisere und damit teurere Autos kaufen, aber sie werden vor allem nicht daran vorbeikommen, mehr Geld für umweltfreundlichere und energiesparsamere Autos auszugeben." Das gilt jedoch nicht für Milliarden von Asiaten. "Jedermann weiß, daß der Motorisierungsgrad der Industrieländer, übertragen auf China und Indien (bliebe es bei der heutigen Technik), ökologisch nicht verkraftet werden könnte." Ihre Einschränkung, eine neue Autotechnik des "niedrigen Energieverbrauchs" könne die Lage ändern, überzeugt nicht allzu sehr. Ein anderes Entwicklungs- und Wohlstandsmodell, eines der Armut der Peripherie gegenüber den Metropolen weltweit, wird diesen nach Milliarden zählenden Massen wohl Verzicht predigen: Armut auf dem Lande und in den Elendsgürteln der Megastädte, Wohlstand für das Viertel oder Drittel "Besserverdienende" in New Delhi oder Hongkong. Das Konzept wird von sozialdemokratischen Entwicklungspolitikern wie Ingomar Hauchler heute bereits vertreten; Glotz ließ es in der Zeitschrift "Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte" ideologisieren, wo Lobeshymnen auf das "Hinterwäldlertum" gesungen wurden, eine positiv bewertete bescheidene Lebenshaltung, die angeblich Heimatverbundenheit ausdrücke. Entbehrung wird als nationale/regionale Identität ausgegeben, als Voraussetzung zum Glück im "Eigenen", und wenn es nur die "eigene" althergebrachte Armut ist. So bliebe die globale Wohlstandsverteilung erst einmal erhalten, lediglich die beiden anderen Hightech-Konkurrenten auf den Metropolenmärkten der "Dritten Welt" wären mit dem "Dritten Wirschaftswunder" aus dem Felde geschlagen. 

Genau betrachtet, betreiben Glotz und Thomas nichts anderes als soziale und ökologische Demagogie. Denn es existiert keine volkswirtschaftliche Gesamtrechnung - erst recht keine welt-volkswirtschaftliche -, bei der unter dem Strich eine Null oder ein Plus stünde, wenn man die Verbote sozial und ökologisch schädlicher Produktionen gegen die Förderung der sozial und ökologisch verträglichen Produktionen aufrechnete. Die Logik einer "ökologischen Steuerreform" führt allenfalls zum Absenken der Staatsquote, weil strafsteuerbelastete Produkte nicht mehr gekauft und daher weniger Steuern eingenommen werden. Dagegen besteht die Anarchie der Produktion großenteils fort, ihr einziges Kriterium - die Effektivität der Kapitalverwertung - tasten Glotz und Thomas nicht an, die Mittel der effektiveren Kapitalverwertung - Modernisierung und Expansion - sind sogar erklärtes Ziel der beiden Autoren. Die Formel: "Wer Energie spart, bekommt Steuererleichterungen", bleibt für die Umwelt eine Milchmädchenrechnung. 

Mitstreiter in der SPD wollen die Ökosteuer sogar nutzen, um den Wohlstand von unten nach oben umzuverteilen und indirekte Subventionen zu finanzieren. Anke Fuchs, ehemalige Bundesministerin für Arbeit und Soziales unter Kanzler Helmut Schmidt, Mitglied des Bundestags-Fraktionsvorstandes und von Rudolf Scharping beauftragt, die verschiedenen Steuerreform-Vorschläge zu koordinieren, favorisiert z. B. höhere Steuern auf Benzin von mindestens 30 Pfennig pro Liter, deren Ertrag über den Umweg der Bundesanstalt für Arbeit die Lohnnebenkosten der Unternehmen senken soll. Das frei werdende Unternehmenskapital könne dann investiert werden, um die Wettbewerbschancen auf dem Weltmarkt zu verbessern, schlug der SPD-Wirtschaftspolitiker Ernst Schwanhold im Frühjahr 1995 vor. 

Der Blick von Glotz und Thomas auf die "Dritte Welt" verrät völlig den demagogischen Charakter ihrer Vorschläge: "Bereits in den kommenden ein bis zwei Jahrzehnten" biete z. B. der südchinesische Raum "eine neue Dimension" der Profiterwartungen; die Entwicklung von ökologisch verträglicheren Produkten soll jedoch erst in derselben Zeit erfolgen, durch langfristige Steuerungen der Marktwirtschaft mit Hilfe von Sonderabgaben und als Probelauf auf dem "Heimmarkt", der der "Exportoffensive" vorausgehen soll, wie sie schrieben. So werden die Profite wohl doch noch vor der vermeintlichen ökologischen Wende eingefahren, mit den herkömmlichen statt den ökologischen Hightech-Produkten. Das "Dritte Wirtschaftswunder" des Nordens hat die Vergiftung der chinesischen Flüsse und die Verarmung der chinesischen Bevölkerung zur Voraussetzung. Die primäre Kapitalakkumulation in Indien oder Indonesien kostet andere, aber nicht weniger Opfer als die im Norden. 

"Schwellenländer mit hohem Wachstumspotential exportieren vorwiegend Fertigprodukte und importieren anspruchsvolle Investitionsgüter. Im Handel mit diesen Ländern eröffnen sich daher gerade für die deutsche Industrie besondere Chancen", so Glotz und Thomas, wieder deutlich national. Der Export von ökologischem Knowhow, technischem Fachwissen und sozialistischer Gesellschaftswissenschaft in diese Regionen - eine "Gründerzeit" vor Ort mit intelligenter und rücksichtsvoller industrieller, sozialer und ökologischer Planung - wäre geradezu tödlich für den deutscheuropäischen "Aufbruch" in ein "Wunder". 

Die Interessen der Konzerne werden seit Jahren - von den Jusos über die Mehrheits-SPD bis zu den Realo-Grünen - als die Zukunftschancen der Menschen in Mitteleuropa ausgegeben: Nur mit konkurrenzlosen Hochtechnologie-Produkten - also mit Waren, deren Herstellungsweisen den Nichteuropäern vorenthalten werden - könne der eigene Wohlstand gegen die Schwellenländer der "Dritten Welt" verteidigt werden. "Wir müssen das produzieren, was die anderen noch nicht können", sagte Oskar Lafontaine im September 1993 in seinem Vortrag "Zukunftsperspektiven für das Modell Deutschland" vor der Friedrich-Ebert-Stiftung. Auch er, der sich sonst so antinationalistisch gibt, betonte hier den deutschen Führungsanspruch in Europa und der Welt: "Wir müssen die modernste Forschungslandschaft der Welt aufbauen, wenn wir pro Kopf die größte Exportnation der Welt bleiben wollen, was wir immer noch sind. ... Wir sind Exportweltmeister geworden, weil wir es in der Vergangenheit immer geschafft haben, Spitzenprodukte zu entwickeln und neue Technologien, die die anderen noch nicht hatten, und die wir dann auf den Weltmärkten plazieren konnten" - notfalls mit zwei Weltkriegen. Lafontaines "Wir" ist national gemeint und ausgrenzend. 

Diese Wirtschaftspolitik funktioniert nach dem Konkurrenz-, nicht nach dem Kooperationsmodell. Es ist akzeptiert, daß der Norden auf Kosten des Südens lebt. Diese Grundvoraussetzung des "Dritten Wirtschaftswunders" wird nicht in Frage gestellt, allenfalls dem Süden die Entwicklung einiger Metropolen auf Hightech-Markt-Niveau erlaubt, nicht etwa auf Hightech-Produktions-Niveau. "Schwellenländer", das stimmt nicht mehr: Durch die Politik der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, die sich weitgehend auf Direktinvestitionen der nördlichen Konzerne beschränkte, und durch eigene Leistungen der Menschen der "Dritten Welt" sind im Süden dem Norden bei den herkömmlichen Industrieprodukten überlegene Konkurrenten erwachsen. Stahl kauft man billiger in Korea, Indien oder Brasilien - inklusive Transport - als im Ruhrgebiet oder im Saarland. Die Schwellenländer haben den Schritt zur Industriegesellschaft längst getan, sie stellen heute bereits die Produkte billiger her, von denen der Norden vor zwanzig Jahren noch lebte und die einen relativen Wohlstand auch der Unterschichten des Nordens ermöglichten. Das Elend der Arbeitslosigkeit in Europa ist auch eine Folge der Verlagerung arbeitsintensiver Produktionen in Billigproduktionsländer, wo das Elend des Südens Extraprofite erlaubt. Die Direktinvestitionen der Konzerne des Nordens in der "Dritten Welt" stiegen seit 1985 von 8,5 Milliarden Dollar auf 56 Milliarden im Jahre 1993. Sie lohnen sich jetzt für die Aktionäre doppelt: durch geringe Produktionskosten und durch wachsende Absatzmärkte für Hightech in den Trikont-Metropolen. Doch die Entwicklung des Südens nach Maßgabe der Konzerninteressen brachte keinen sozialen Ausgleich, sie ließ die Slums zu Megastädten wachsen und den Reichtum des Nordens ins Unermeßliche steigen. 

Diese Entwicklung geht weiter. Ein afrikanischer Wirtschaftsboom, ähnlich dem in Südostasien, ist nach der Herstellung der politischen Rahmenbedingungen im südlichen Afrika vorhersehbar. Hier sind gut ausgebildete Facharbeitskräfte, Kapital und Rohstoffe vorhanden. In einer "Berliner Erklärung" vereinbarte die EU im September 1994 bereits eine wachsende Kooperation mit den Staaten der "Entwicklungsgemeinschaft des Südlichen Afrika" (SADC). Erinnerungen an die Berliner Afrika-Konferenz, die Bismarck vor 110 Jahren einberief, um die Interessen des deutschkaiserlichen Kapitals in dieser Region abzusichern, kommen auf. (15) Ein ähnlicher Boom wäre auch in Lateinamerika möglich, wo die Wachstumsrate derzeit bei 3,5 Prozent liegt. Mexikanisches Öl und Gold beflügeln die Entwicklung weiter, ebenso das nordamerikanische Freihandelsabkommen. Die industrielle Entwicklung im Süden bedeutet, so betrachtet, eine Gefahr für den industrialisierten Norden. Die Rettung sollen Hightech-Entwicklungen bringen, zu denen weder Afrikaner noch die verarmten Regionen Asiens und Lateinamerikas Zugang haben. 

Die Konzerne des Nordens sichern ihr Geschäftsrisiko, das die Triadenkonkurrenz birgt, gesellschaftlich ab: Subventionen der Öffentlichen Hände und die Senkung der Kosten des Faktors Arbeit sind die Voraussetzung für Entwicklungsschübe. So trägt die Mehrheit der Bevölkerung das Risiko. In der Kommunikationstechnik wurde dies schon während der ersten "Gründerzeit" gelernt: Der Bau von Eisenbahnen, Schiffahrtswegen und Autostraßen war derart teuer, daß er meist staatlich finanziert werden mußte, weil es für Private keine lohnende Gewinnspanne gab. Die heutigen Verkehrssysteme - weltraum- und satellitengestützt vom Telefon über die "Schüssel auf dem Dach" bis zum staufreien Automobil, das aus dem Weltraum um die Engstellen der Autobahn herumgelenkt wird - verschlingen große Teile des gesellschaftlichen Reichtums, staatlich verteilt. 

Die Entwicklung der europäischen Trägerrakete Ariane ist dafür ebenso ein Beispiel wie die Erprobung der Abrechnungssysteme für privatisierte Autobahnen, die zur Zeit zwischen Bonn und Köln von den Steuerzahlern finanziert wird. "Die Erfassung und Abrechnung der einzelnen Fahrleistungen und das Einzugsverfahren sind durch Anwendung elektronischer Kommunikationsanlagen auszugestalten", forderte der verkehrspolitische Sprecher des SPD-Bundestagsfraktion, Klaus Daubertshäuser, bereits 1991 im "Vorwärts". Scharping selbst hält die europäische Luft- und Raumfahrt für ein gelungenes Beispiel der Hightech-Subvention. In einer gemeinsamen Erklärung mit dem französischen Sozialistenführer Michel Rocard zum 50. Jahrestag der alliierten Invasion in der Normandie ging er sehr feinsinnig auf die Triaden-Konkurrenz des Weltmarktes ein, in der - nach dem verheerenden Ergebnis des Zweiten Weltkriegs - die deutschen Konzerne nur durch europäischen Zusammenschluß erfolgreich bestehen könnten: "Bei der Entwicklung moderner Technologien haben die Erfolge des Airbus und der Ariane beispielhaft das Potential des deutsch-französischen Zusammengehens gezeigt. Die weltweite Konkurrenz der Hochgeschwindigkeitszüge zum Beispiel ist Anlaß, neue Formen der Zusammenarbeit zu suchen und die Kräfte dadurch zu bündeln." Das Siemens-Thyssen-AEG-Konsortium zum Bau des ICE verliert bekanntlich auf dem Weltmarkt die Konkurrenz zum französischen TGV. Daimler-Benz mit seinem Ableger Messerschmitt-Bölkow-Blohm bzw. Aerospace (MBB/DASA) sitzt dagegen bei der europäischen Luft- und Raumfahrt an der Kasse - nach Jahrzehnten der Alimentierung durch die Steuerzahler. Inzwischen berichtet die Presse, es rege sich in Frankreich "Unbehagen über ein zunehmend empfundenes deutsches Dominanzstreben" der Deutschen, vor allem der DASA von Daimler-Benz. 

In der Energiewirtschaft ist die Verschwendung an der Tagesordnung. Die Milliarden, die unter dem SPD-Forschungsminister Hans Matthöfer - früher einmal ein linker Gewerkschafter - für die Entwicklung des Schnellen Brüters hinausgeworfen wurden, kamen nur den Elektro- und Baukonzernen zugute. Heute fordert Matthöfer in seinem Buch "Agenda 2000. Vorschläge zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik" erneut die Förderung des technischen Fortschritts als oberste Priorität und rät der SPD, sich an die Spitze einer neuen EDV-Revolution zu stellen. Bei der Entwicklung der Super-Computer-Chips, auch im Bereich der biologischen Produkte gentechnisch veränderter Pflanzen und Tiere - zu schweigen vom "Bio-Chip", der Kreuzung aus Computer- und Gentechnologie, die Glotz bereits anvisiert - geht nichts ohne Subventionen zur Absicherung der Konzern-Risiken. "Jessi", das europäische Entwicklungsprojekt für den 64-Megabit-Chip, hat bereits so viel Steuergelder verschlungen wie der Schnelle Brüter. 

Den neuen Interessen entsprechend, sucht die SPD das Personal aus. Matthöfers Gewerkschaftskollege Rudolf Dreßler hielt im Wahlkampf 1994 die Nominierung des ehemaligen Präsidenten von IBM Europa, Hans-Olaf Henkel, zum Präsidenten des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) für einen "Glücksfall". Henkel, der kurz zuvor schon als möglicher Wirtschaftsminister in der SPD-Alleinregierung Manfred Stolpes gehandelt worden war, verfüge nicht nur über wirtschaftspolitische Erfahrungen, so Dreßler, sondern auch über "politische und gesellschaftliche Offenheit." Die braucht er, um die Milliardensubventionen für die Hightech-Produkte im rotgrünen Spektrum zu verkaufen. Die Profite allerdings, die mit solchen Waren erzielt werden, bleiben in privater Hand. Scharping wollte Henkel sogar in den neu gegründeten Wirtschaftsrat der SPD berufen, doch der wollte parteipolitisch für alle offen bleiben und schlug das Angebot aus. Statt dessen forderte er, kaum zum BDI-Präsidenten gewählt: "Das Ziel muß eine deutliche Erhöhung der Felxibilität und eine spürbare Entlastung der Arbeitsplatzkosten sein." Dann entwickelte Henkel ein Sozialabbau-Programm, wie es seit der Regierungszeit des Reichskanzler Heinrich Brüning in den frühen 30er Jahren nicht mehr vorgeschlagen worden war. Im April 1995 lobte er mit Lafontaines Worten, Deutschland sei zwar "Exportweltmeister", die Politik müsse aber nun im Ausland die Interessen der deutschen Wirtschaft konsequenter vertreten, damit diese auf den dynamischen Wachstumsmärkten in Übersee nicht zu kurz komme.  (16) 

Die Konkurrenz in der Weltmarkt-Triade bedingt, daß Hightech-Systeme gleich dreimal entwickelt werden. Die Anarchie der Produktion verbläst natürliche und menschliche Ressourcen in Konkurrenzen, ohne eine Verbesserung der Lebensqualität zu bewirken. Rational betrachtet, täte es eine einmalige statt dreimalige Entwicklung des 64-Megabit-Chips auch, wenn sie denn für den Wohlstand der Menscheit sein muß. Die heutuge Art von Weltmarkt verschlingt also zusätzliche Subventionen, denn wer "kräftig mitmischen" will, muß versuchen, die weitergehende Entwicklung schneller am Markt zu haben. 

Statt aus der Kritik einer Müll- und Verschleiß-Wirtschaft, die zusätzlich nach dem Konkurrenzprinzip verschwendet, die Perspektive einer Gleichverteilung des möglichen Wohlstands zu entwickeln, setzt die Sozialdemokratie in Europa auf technokratische Modernisierung. Rudolf Scharping beschwor sie 1994 in seinem Buch "Was jetzt zu tun ist". Mit der Überschrift "Wohlstand durch Modernisierung" spielte er auf Ludwig Erhards "Wohlstand für alle" an. Die "formierte Gesellschaft" ist da nicht weit, wie man sehen wird. "Nur durch neue Produkte und Produktionsverfahren", erklärten die SPD-Wirtschaftspolitiker auf ihrer Konferenz im Juni 1994, "kann der Standort Deutschland dauerhaft gesichert werden. Wir wollen, daß 'Made in Germany' auf den Weltmärkten wieder zum Gütezeichen internationaler Spitzentechnologie und deutscher Qualitätsarbeit wird." 

Wer erwartet, daß wenigstens die Jungsozialisten opponieren, wenn die SPD-Spitze einen Nationalstolz zur Schau trägt, der zwei Weltkriege ideologisch absicherte, wird enttäuscht sein, denn die Parteilinke trägt den neuen Kurs mit. Stolz zu sein auf "Made in Germany", das war ein kleinbürgerliches Gefühl in der Kaiserzeit, der ersten Gründerzeit und der Prosperitätsperiode der Jahrhundertwende, als dieses Siegel die französischen und britischen Produkte vom Markt verdrängen sollte. Heinrich Manns "Untertan" schrie "Hurra", als er Kaiser Wilhelm im Ausland hoch zu Roß begegnete, weil Deutschland hinter Großbritannien die zweitstärkste Handesmacht der Welt war. Die ausländischen Märkte zu verteidigen, war das Ziel der wilhelminischen "Kanonenboot-Politik" und der weltweiten militärischen Interventionen. Deutschland erwarb z. B. 1900 durch seine militärische Beteiligung bei der Niederschlagung des Boxeraufstands in China (hierher rührt der Ausruf "Germans to the front!") den Stützpunkt Tsingtau, begann 1902 mit dem Bau der Bagdadbahn als Einflußstütze im Bereich der mittelasiatischen Ölfelder und sicherte sich 1911 durch Drohungen einen Anteil an den marokkanischen Erzvorkommen ("Panther-Sprung": das deutsche Kanonenboot "Panther" demonstrierte vor Agadir Kriegsbereitschaft). 1896 erklärte Kaiser Wilhelm II. die Notwendigkeit einer deutschen Weltmeer-Flotte: "Deutsche Güter, deutsche Betriebsamkeit gehen über den Ozean. Nach Tausenden von Millionen beziffern sich die Werte, die Deutschland auf der See fahren hat. Der Dreizack gehört in unsere Faust. So ist es mein Wunsch, unserer vaterländischen Arbeit und der Industrie der produzierenden Stände die Absatzgebiete zu sichern und zu erhalten, die wir brauchen." Die maritime Aufrüstung des Deutschen Reiches durch die Krupp-Werft "Germania" in Kiel begründete er mit nichts anderem, als mit der bis heute wohlfeilen Demagogie: Friedenssicherung. Doch selbst die Schulgeschichtsbücher nennen diese Politik "Imperialismus". 

Für die Jungsozialisten existiert dieser Begriff nicht mehr. Ihr heutigen Papiere sind nur das Echo, wenn Scharping, Lafontaine und ihre Wirtschafts-Getreuen wieder stolz darauf sein wollen, Deutsche zu sein, oder wenn Glotz und Thomas - Zukunftsforscher der Konzerne - Prognosen abgeben über "Menschen im 21. Jahrhundert". Ein ganzes Kapitel des "Dritten Wirtschaftswunders" ist jugendnah den "Computer-Kids" gewidmet. Die Nutzbarkeit ihrer neuartigen Freizeit- und Lebensweisen für zukünftige Kapitalverwertung wird abgeklopft, denn die Vernetzung von Telefon, Computer und Fernsehen und der Aufbau einer entsprechenden Infrastruktur in Datenautobahnen sind die Lokomotiven und Geleise der "neuen Gründerzeit". Die Jusos haben die Botschaften von Glotz, Thomas, Lafontaine längst begriffen. Die sozialistische Forderung nach der Vergesellschaftung der Produktionsmittel zum Wohle der Bevölkerungsmehrheit wurde von ihrem "Zukunftsinvestitionsprogramm" abgelöst. Sie treten heute für gesellschaftlich finanzierte Subventionen der Hightech-Entwicklungen in der Chemie-, Verkehrs- und Kommunikationsindustrie ein. 

Die Grundsatzerklärung "Wirtschaftsstandort Deutschland" der Juso-Landeskonferenz Bayern von 1994 stellte den weltweiten Imperialismus der deutscheuropäischen Konzerne nicht in Frage. "Für die eng in den Weltmarktzusammenhang eingebundene BRD existiert unabweisbar die Notwendigkeit, insbesondere im Bereich der Produkt- und Prozeßinnovation ständige Fortschritte zu erzielen", hieß es da. Die Funktion der "BRD" als ideeller Gesamtkapitalist wird nicht mehr auf der Basis der Theorie vom staatsmonopolistischen Kapitalismus kritisiert - wie noch in den 70er Jahren, sondern akzeptiert. Die Frage, ob die Bevölkerung der Schwellenländer den Transrapid braucht oder doch eher Produkte mit Alltags-Gebrauchswert, wird nicht mehr gestellt. 

"Der Zugang zu neuen Technologien bzw. die Fähigkeit, in technologieintensiven Bereichen differenzierte und qualitativ hochwertige Produkte herstellen zu können, sind weit wichtiger als niedrige regionale Löhne", haben sie schlau erkannt. Die Grundlage der ökologischen und sozialen Zerstörung - Konkurrenz- und Warenwirtschaft, Wettlauf und Protektionismus bei Patenten und Produktionsverfahren - wurde zur Grundlage ihrer Politik. "Produktivitätswachstum erfordert permanente Fortschritte und Innovationen in bestehenden Industrien und das Eindringen in neue hochtechnisierte Branchen. Ein Ziel staatlicher Politik zur Erhaltung der Wettbewerbsstärke liegt darin, ein Umfeld zu schaffen, in dem Unternehmen ihre Stärken in etablierten Branchen ausbauen können, indem sie aufwendigere Technologien und effizientere Methoden einführen und sozial- und umweltverträglich anwenden können." Die Frage nach der Qualität der Anwendung jedoch wird in der Wirklichkeit weiterhin privat beantwortet. Da mögen Glotz- oder Juso-Papiere noch so viele Floskeln von der angeblichen Sozial- und Umweltverträglichkeit enthalten. 

Wir sind wieder wer, das meinten auch die bayrischen Jusos: "Der Anteil der BRD am gesamten Weltexport übersteigt den Anteil der BRD an der Weltwirtschaft, wie er im Bruttosozialprodukt Ausdruck findet. Damit ist das BRD-Kapital auf den Weltmärkten erfolgreicher als die US-amerikanischen oder japanischen Unternehmen", schrieben sie nicht ohne Stolz, dazuzugehören. Daß genau dies eine Krisen- und Kriegsgefahr ist, sehen die bayrischen Glotz-Schüler nicht. Nachdem der staatsmonopolistische Kapitalismus seine Kinder gefressen hat, konnten sie gemeinschaftstümelnd fortfahren, ohne zu erröten: "Verbesserungen in der Technologie sind wesentlich für die Steigerung der Effizienz, das Erzielen höherer Preise durch bessere Qualität und das Vordringen in neue Branchen. Die Verbesserungen muß der Staat mit anregen. Forschung und Entwicklung können nicht den privaten Unternehmen überlassen bleiben, weil der Nutzen für die Gesellschaft aufgrund übergreifender Wirkungen den für einzelne Unternehmen übersteigt. Das gilt besonders für die Grundlagenforschung und für Bereiche mit Anwendungsmöglichkeiten in zahlreichen Branchen. Die wirtschaftliche Effizienz hängt ebenso von einer modernen und sich verbessernden Infrastruktur ab. Für die Verkehrsinfrastruktur und die Telekommunikation trägt der Staat die Hauptveranwortung. Die Infrastruktur muß auch auf die Befriedigung von Freizeit- und Kulturbedürfnissen zielen, die Menschen zum Leben und Arbeiten an einen Ort ziehen. Allerdings gilt auch hier, daß beispielsweise die Verkehrspolitik nicht bloß den Weltmarkterfordernissen angepaßt werden darf. Sie muß nach wie vor ein zentrales Umbaufeld im Rahmen der ökologischen Modernisierung bleiben" - diesen Widerspruch wollen Glotz und Thomas ja nun gelöst haben. 

Die Reste des linken Flügels der SPD stehen faktisch weitgehend hinter der Politik der technokratischen Modernisierung und des ökonomischen Imperialismus, wie sie die Parteiführung in den letzten Jahren konzipiert hat. Allenfalls wird Kritik geübt an Formulierungen, die allzu deutlich die Konzerninteressen durchblicken lassen. Zwar rechnet es sich das Sprachrohr der verbliebenen linken Sozialdemokraten, die "Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft" (spw), als Leistung an, die Reallohnkürzungen aus dem wirtschaftspolitischen Leitantrag des Wiesbadener Parteitags von 1993 gestrichen zu haben, die Lafontaine beschlossen haben wollte. So schrieb das Blatt im Januar 1994: "Von großer Bedeutung ist auch, daß die Lafontaine-Position, den Lohnanstieg im Osten auf die Steigerung der Produktivität zu beschränken und damit den Gewerkschaften in ihrem Kampf um die Einhaltung der in Ostdeutschland geschlossenen Tarifverträge in den Rücken zu fallen, aus dem Antragsentwurf gestrichen wurde." Doch letztlich wurde niemand von "spw" in Scharpings Schattenkabinett berufen, statt dessen aber Lafontaine. 

Vergessen ist auch z. B. die alte Forderung der Parteilinken aus der Bildungsreform-Zeit, daß Bildungs- und Forschungspolitik vor allem der Emanzipation der Menschen dienen sollten. Das duale Berufsausbildungssystem, früher gescholten wegen seiner anti-emanzipatorischen Wirkungen, wird heute auch von den Jusos, z. B. dem bayrischen Landesverband, als vorbildlich gepriesen. Dabei nützt es vor allem den Interessen der Unternehmer, die vom ersten Ausbildungstag an die Formung der Jugendlichen nach den ökonomischen Bedürfnissen des Betriebes vornehmen können. Die Forderungen nach polytechnischem Unterricht in staatlichen Schul- und Ausbildungszentren, die in den 70er Jahren von der SPD-Linken erhoben wurden, passen nicht in eine bildungspolitische Landschaft, die Peter Glotz als Super-Innovationsminister nach Weltmarkt-Kriterien neuordnen will. Hier paßt besser eine Politik, wie sie die nordrhein-westfälische SPD mit der technokratischen Reform der gymnasialen Oberstufe heute betreibt: Einschränkung der Wahlfreiheit und Rückkehr zu Klassenverbänden, Förderung von Eliteschülern, Ausgrenzung der Schwächeren, Streichung von mehr als 4000 Lehrerstellen. 

Konzepte zur Humanisierung des Arbeitslebens konnte der Gewerkschaftsflügel bisher auf Parteitagen der Delegiertenmehrheit gerade noch so abringen. "Im Interesse der Beschäftigten brauchen wir besseren Arbeitsschutz, bessere Gesundheitsvorsorge und eine Humanisierung des Arbeitslebens. Dies ist auch eine Voraussetzung für die dauerhafte Sicherung der Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft" - diese beiden Sätze waren schon alles zum Thema in dem 20-seitigen Wiesbadener Parteitagsbeschluß "Eine gesamtdeutsche Strategie für Modernisierung, Beschäftigung und umweltverträgliches Wachstum". Dem Ausbau der Industriesubventionen waren hier mehrere Abschnitte gewidmet, die konkreten Arbeitsbedingungen außerhalb der Managerbüros und Wissenschaftlerlabors jedoch fanden bei der SPD kaum noch Interesse, geschweige eine Lobby. 

"Humanisierung des Arbeitslebens" soll vor allem der Erhöhung der Arbeitsproduktivität dienen. Glotz schrieb 1994 in einer Wahlkampfbroschüre "Bildung - Forschung - Kultur. Materialien zum SPD-Regierungsprogramm" unter der Überschrift "Humanisierung des Arbeitslebens und Verbesserung der Lebensbedingungen": "Für die Nutzung der Stärken des Wirtschaftsstandorts Deutschland und der hohen Qualifikation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer" - die Ergebnis der dualen Berufsausbildung sein soll - "ist die Entwicklung und Erprobung neuer Arbeits-, Produktions- und Dienstleistungskonzepte von größter Wichtigkeit." Ein Jahr vorher hatte er dafür geworben, "neue Formen der Arbeitsorganisation zu finden, die Kreativität und Leistungsmotivation fördern". Wo der Primat der Kapitalverwertung sogar die Humanisierung bestimmt - eigentlich ein Widerspruch -, ist für emanzipatorische Politik kein Platz mehr. Zur "postfordistischen" Produktionsweise wechselt man nicht aus Menschenfreundlichkeit. In Lafontaines Reden tauchen Humanisierungs-Forderungen schon gar nicht mehr auf. Und selbst der hartgesottenste Sozialist am Rande der SPD, so scheint es, mag im Zusammenhang mit Industriearbeit wohl nicht einmal mehr an die Möglichkeit der menschlichen Selbstverwirklichung denken, zu schweigen vom Versuch, sie politisch herzustellen. 

Vorrang für die Kapitalverwertung, so heißt es auch bei der Anwendung von Genforschungsergebnissen zur Arbeitsplatzgestaltung. Hier ist die genetische Selektion der Arbeitskräfte weitaus kostengünstiger als eine Humanisierung durch Arbeitsplatzsicherheit. Spezielle Tests sollen chemieresistente Arbeiter für besonders gefährliche Arbeitsplätze auswählen. Jemand wie SPD-MdB Wolf-Michael Catenhusen, der als Parteilinker gilt, vertrat in "spw" die Forderung nach "mehr Sachlichkeit und sachbezogener Differenzierung" in der Gentech-Debatte. Er rechtfertigte die Änderung des deutschen Gentechnikgesetzes, die auf Betreiben der Chemie-Konzerne geschah, als "Durchforstung" von "bürokratischen Regelungen", als seien die Schutzvorschriften des alten Gesetzes nichts als Wildwuchs gewesen. Kein Wort mehr vom Kapitalinteresse an der "genetischen Revolution" in der Landwirtschaft, bei der Arzneimittelherstellung, an der Vermarktung von Gentests zur Menschenselektion jeder Art. Schon 1988 sprach sich Catenhusen grundsätzlich für die Nutzung der Genomanalyse in der Arbeitswelt aus, wenn nur ihr "Mißbrauch" ausgeschlossen werde. Die Frage einer Überstellung der IG-Farben-Nachfolger unter gesellschaftliche Kontrolle wird nicht einmal mehr erwogen, obwohl sie sich anschicken, wieder einmal am menschlichen Erbgut zu experimentieren - damals wie Viehzüchter in den KZ der SS, heute wie Götter des Neuen Zeitalters im Gentech-Labor. Dabei wäre die gesellschaftliche Verfügungsgewalt über die Chemie-Konzerne doch die erste und wichtigste Voraussetzung, mögliche Erkenntnisse der Genforschung tatsächlich im Interesse der Menschen anzuwenden, z. B. in der Medizin, statt im Interesse der Aktionäre, die im Konfliktfalle profitorientirt entscheiden. 

Vor diesem Hintergrund erscheint es ungerecht, die Zeitschriften-Abkürzung "spw" immer noch mit "Sp-iel-W-iese" für den linken Parteiflügel zu übersetzen, auf der der Nachwuchs eine andere Politik übt. Der wirtschaftspolitische Leitantrag von Wiesbaden wurde vom "spw"-Redakteur und Mitglied des nordrhein-westfälischen SPD-Landesvorstandes Ralf Krämer nach einiger Kritik schließlich sogar ausdrücklich verteidigt: "Ein wirtschaftspolitisches 'Petersberg' hat auf dem Wiesbadener Parteitag nicht stattgefunden, weshalb auch die meisten Linken dem Antrag letztlich zugestimmt haben." Die Linken hätten "Schlimmeres verhindert", und so können sich Glotz und Lafontaine trotz aller Detailkritik auf eine breite Basis der Zustimmung verlassen. 

Mehr noch: Im September 1994 druckte "spw" einen Text des "Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts" des DGB (WSI), der bis ins Detail die Positionen von Glotz und Thomas enthielt. Unter der Überschrift "Für eine nationale Anstrengung" wurde für die Hightech-Branchen "eine staatliche Investitionsoffensive für Modernisierung und Beschäftigung" gefordert. Zusätzlich - und das überrascht auf dem linken Flügel - wollten die WSI-Autoren zahlreiche neue Arbeitsplätze im Bereich der Polizei schaffen, wo "beklagenswerte Engpässe" bestünden, und die 35-Stunden-Woche ohne Einkommensausgleich einführen. Im selben Heft forderte Krämer dann ganz offen Deregulierungs- und Privatisierungsmaßnahmen ("Entbürokratisierung", "Verkauf von staatlichen Wirtschaftssektoren").  (17) 

Konkrete realpolitische Ausformungen der allgemeinen Hightech-Euphorie brachten die wirtschaftspolitische Erklärung vom Juni 1994 und die Rede Oskar Lafontaines auf dem "Handesblatt Wirtschaftsforum" am 20. April 1994. "Kostenentlastung der Wirtschaft" durch vielfältiges staatliches Handeln hieß die Parole, nachdem die deutschen Unternehmen in der letzten Dekade Gewinne einfuhren wie sonst nur zu Kriegs-Boom-Zeiten. Staatlich geförderte "Transferzentren" sollen "die Umsetzung der Forschungsergebnisse in neue Produkte" beschleunigen, also in Waren, die privat verkauft werden können. Wenngleich sich die SPD-Wirtschaftspolitiker auch dem Mittelstand öffnen wollen, blieb dennoch das Interesse der Konzerne im Mittelpunkt deutlich. Die "jungen Technologieunternehmen", die "wagemutigen Unternehmer", die "freien Erfinder" wurden zwar in der Erklärung vom Juni 1994 beschworen, ihnen wurden finanzielle Vorteile versprochen. Doch in der Wirklichkeit kapitalistischer Konkurrenz werden die findigsten Unternehmen schnell geschluckt, Patente verschwinden in Konzerntresoren, Erfinder werden mit Erstnutzungsrechten an Großfirmen gefesselt. Den findigen Mittelständlern bot die SPD nur eine vage Hoffnung: "Durch diese Technologie-Transferzentren kann auch den kleinen und mittleren Unternehmen der Zugang zu moderner Spitzentechnologie eröffnet werden" - muß aber nicht! In der Wirklichkeit ziehen die kapitalkräftigen Konzerne durch Drittmittelforschung die interessanten und praktisch verwertbaren Erkenntnisse aus den staatlichen Forschungseinrichtungen ab, bevor sie öffentlich und den Kleinbetrieben zugänglich werden. 

Ganz in diesem Sinne liest sich das "20-Punkte-Programm" für eine "Technologie- und Innovationsoffensive", mit dem das Buch von Glotz und Thomas endet. Mit Subventionen in fast jeder denkbaren Form sollen die Risiken der Hightech-Entwicklungen vergesellschaftet werden. In Risiko-Kapitalfonds sollen sich die Länder und der Bund verstärkt engagieren. Gleichzeitig sollen Großunternehmen und das Finanzkapital an der Gründung "junger" Unternehmen beteiligt werden, in denen der Erfindergeist "junger" Kleinunternehmer offenbar unter der Kontrolle der Konzerne bleiben soll. "Das Engagement erfolgreicher und erfahrener deutscher Unternehmer steuerlich zu fördern, wenn sie ihr Vermögen in Beteiligung an solchen Unternehmen anlegen", heißt es verklausuliert als Punkt 11, wo es um nichts weiter als die Abschöpfung von Kreativität geht. "Großunternehmen an der Gründung solcher Unternehmen stärker zu interessieren" und "den deutschen Banken und Versicherungen mehr Möglichkeiten einzuräumen, einen Teil ihrer Kapitalbeteiligungen in Venture Fonds zur Finanzierung junger Technologieunternehmen anzulegen", lauten die Punkte 13 und 14. Das Unternehmensbeteiligungsgesetz müsse geändert werden, damit es für Großunternehmen, Banken und Versucherungen attraktiv werde, das Risiko einzigehen, Kapital in "junge" Hightech-Unternehmen zu investieren. Die "kaufmännische Kompetenz" der "jungen" Neuunternehmer solle gegebenenfalls "durch Ergänzungen im Management und in den Besitzverhältnissen" verstärkt werden. Was als "Mittelstandsförderung" durch Subventionen anfing, entpuppt sich hier als Umwegfinanzierung für die Forschungsvorhaben der Konzerne. Die Gewinne aus der "neuen Gründerzeit" werden also weiterhin in die Taschen der alten Aktionäre fließen. 

Vor allem in den Erläuterungen ihrer 20 Punkte wird klar, daß Glotz und Thomas die völlige Entfesselung kapitalistischer Produktionsbedingungen bezwecken, um das "dritte Wirtschaftswunder" zu realisieren. Eine extreme Unterordnung der gesamten Gesellschaft unter die Erfordernisse der Hightech-Konzerne scheint ihr Ziel zu sein, vor allem der Erziehung und Bildung. "Dabei sollte das Streben der Gründer nach Reichtum und Ansehen nicht verteufelt werden, sondern als positiver Impuls anerkennt werden", meinen sie scheinheilig mit Blick auf "eine junge Generation ..., die aus den Großorganisationen ausbrechen und ihre Zukunft in die eigenen Hände nehmen will, die Hierarchien ablehnt und auf Kooperation setzt". Ihr Appell an den Sozialdarwinismus steht dabei durchaus im Einklang mit den Ideen der bayrischen Yuppie-Jusos, die ja ebenfalls auf "das Erzielen höherer Preise" als Motor des Fortschritts setzen. 

Keineswegs denkt der Elite-Politiker Glotz daran, die Subventionen einer breiten Mehrheit in der Bevölkerung zugute kommen zu lassen: "Für rund tausend potentielle Gründer pro Jahr sollte ein erstklassiges Seminarangebot mit straff strukturierten praxisorientierten und branchenspezifischen Kursen entwickelt werden. ... Wir stellen uns vor, daß der Deutsche Industrie- und Handelstag (die Dachorganisation der Industrie- und Handelskammern) oder der Verband Deutscher Ingenieure (VDI) ein entsprechendes Konzept von Fachleuten aus Deutschland und dem Ausland erarbeiten läßt und der Forschungsminister dafür und für die Durchführung der Seminare vor Ort Fördermittel bereitstellt. ... Unsere Hochschulen sollten vielfältige Vorlesungs- und Seminarangebote von Praktikern aus der Wirtschaft und dem Kapitalmarkt, von Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern schaffen, in denen die Probleme und Chancen von Unternehmensgründungen für Studentinnen und Studenten und als Weiterbildungsangebot für Interessenten aus der Wirtschaft praxisnah dargestellt werden." Das liegt auf der Linie von Ergebnissen einer Umfrage, die das "Institut der deutschen Wirtschaft" 1994 unter Personalchefs deutscher Unternehmen machte. 85 Prozent plädierten für eine stärkeres Engagement der Wirtschaft in der Hochschullehre, die Hälfte der Befragten wollte Lehraufträge für Unternehmensvertreter im regulären Hochschulbetrieb.  (18) 

In der Wahlkampfschrift "Bildung - Forschung - Kultur" verschärfte Glotz diese Aussagen noch: "Wir brauchen eine neue Bildungsidee in Deutschland, die Konturen eines Kern-Curriculums. Was will der neue Nationalstaat im Verhältnis zu seinen Nachbarn? ... Es ist unsere Aufgabe, aus verbeamteten Lehrkörpern und in Routine eingeschnürten Forschungsbeamten eine schlagkräftige, individuell zur Leistung motivierte Truppe zu machen. ... Einer der Schlüsselsätze in unserem Text läuft darauf hinaus, daß Wissenschaftspolitik den Mut haben muß, zwischen Erstklassigem, Durchschnittlichem und Schlechtem zu unterscheiden." Derart offene und aggressive Elitepolitik vertrat bisher nur die "Neue Rechte". Das Ziel will Glotz auch durch private Elite-Hochschulen als "sinnvolle Ergänzung unseres Hochschulsystems" und - so bislang nur als seine Privatmeinung - auch durch Studiengebühren erreichen. (Allerdings finden die Studiengebühren inzwischen breitere Resonanz in der partei: Die nordhessischen Sozialdemokraten diskutierten dies im Juni 1995 bereits auf ihrem Parteitag.) Die Masse derer, die bisher Abitur machten, verweist die SPD-Broschüre "Bildung - Forschung - Kultur" auf rein betriebliche Ausbildungen: "Wir wollen den Zwang beseitigen, der die an früherem Praxislernen Interessierten nötigt, den Weg über das Abitur zu wählen, wenn sie Zugang zu interessanten, entwicklungsfähigen beruflichen Tätigkeiten suchen", heißt es scheinheilig. Das ist eine völlige Abkehr von der emanzipatorischen Bildungspolitik der 70er Jahre, die damals bereits nur in Ansätzen durchgeführt wurde. Eine weitere "Zuspitzung" (Glotz) höherer Schulbildung, universitärer und akademischer Ausbildung auf eine kleine Elite wird die Folge sein, nachdem in den letzten Jahren bereits der Anteil von Arbeitnehmerkindern an den Universitäten wieder gesunken ist. 

Glotz geht noch weiter. Er will eine breite gesellschaftliche Debatte und Abstimmung über die Entwicklungsziele gar nicht erst zulassen. Nur Experten sollen entscheiden, nach Marktgesichtspunkten statt nach sozialen oder gar ethischen Gesichtspunkten. "Eine fachlich fundierte Auseinandersetzung um die Chancen des technischen Fortschritts ist eine ständige gesellschaftliche Aufgabe. Staat, Wirtschaft und Wissenschaft müssen systematisch zusammenarbeiten, um technologiepolitische Ziele zu setzen." Ein "Innovations- und Technologierat" soll "die öffentliche Debatte über die Gestaltung der Technik und die Veränderungen unserer Gesellschaft durch Technik sachlich und fundiert gestalten". Bei der Aufzählung "Staat, Wirtschaft und Wissenschaft" fehlen die Gewerkschaften ebenso wie die neuen sozialen Bewegungen oder gar ethische und religiöse Interessengruppen. Im November 1994 wiederholte Glotz in einer Bundestagsrede seine Forderung nach einem "Dialog zwischen Politik, Wirtschaft und Wissenschaft" - im Protokoll fett gedruckt, aber ohne Gewerkschaften. Im April 1995 wiederholte er dies gegenüber dem "Handelsblatt", wo er die japanische "Kultur des Dialogs zwischen Staat und Wirtschaft" als vorbildlich pries. 

Die Anwendung dieses "Experten"-Konzepts zeigte ein Kongreß "Zukunftstechnologien und gesellschaftliche Verantwortung", den die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) gemeinsam mit dem Verband Deutscher Elektrotechniker im April 1994 veranstaltete. Hier waren neben einer Reihe von Wissenschaftlern auch acht Topmanager der Produktfelder Energie, Information/Kommunikation, Verkehr und Medizintechnik geladen, u. a. von Siemens Medizintechnik, (Siemens-) Kraftwerk-Union KWU, (Daimler-Benz-) AEG, dem AKW-Produzenten ABB (früher Brown Bovery) und Philips. Zu jedem Produktfeld waren hochkarätige Arbeitsgruppen eingerichtet. Die SPD-Politiker Catenhusen und Vosen moderierten. Doch nur zur Abschlußdiskussion mit Peter Glotz saß ein einziger Gewerkschafter von der IG Metall auf dem Podium. Der Bremer Senator für Umweltschutz und Stadtentwicklung Ralf Fücks sollte wohl die neuen sozialen Bewegungen repräsentieren. An Bürgerbeteiligung war gar nicht erst gedacht: Die Veranstaltung fand im Kölner Gürzenich hinter verschlossenen Türen statt: "Anmeldungen nur über Friedrich-Ebert-Stiftung", stand auf den Einladungen an ausgewählte Gäste. "Wie entstehen Visionen von Technik und Gesellschaft der Zukunft, und wie werden sie im kontinuierlichen Prozeß der gesellschaftlichen und technischen Entwicklung realisiert?", fragte der FES-Vorsitzende und frühere SPD-Ministerpräsident und -Bundesgeschäftsführer Holger Börner im Gleitwort. Der Kongreß verstand sich ausdrücklich als Projekt der "Zukunftsforschung", doch die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen außerhalb der Konzernkalkulationen wurden nicht angesprochen.  (19) 

Futuristische Mobilmachung 

Dem Normalmenschen wird schwindelig bei der Fortüne, mit der die SPD-Führung ins 21. Jahrhundert stürmt. "Modernisierung marschiert" textete die Parteizeitung "Vorwärts" gewaltig und stolz. Gemeint war die Modernisierung der Partei, vor allem durch Computertechnik. Doch darf man den martialischen Ausruf durchaus weiter interpretieren. Das Blatt finanziert sich hauptsächlich aus den Anzeigen derselben Konzerne, die von dieser Art der Gesellschafts-Modernisierung profitieren werden: Chemie (Pharma-, Gen- und Biotechnologie), Elektro (Computer-, Energie-, Medien- und Kommunikationstechnologie), Verkehr (Auto, Luft- und Raumfahrt). "Hochtechnologie steht hoch im Kurs", heißt es da ganzseitig, z. B. in einer Anzeige des größten deutschen Unternehmens, das auch noch von einem SPD-Mitglied geführt wurde: Daimler-Benz, Chef: Edzard Reuter. Kauften einige der führenden Konzerne Europas - Siemens, Daimler-Benz und ihre Tochterunternehmen, auch der Bundesverband der chemischen Industrie oder die Energieversorgungsunternehmen - nicht Seite um Seite des "Vorwärts" - manchmal ein Drittel des gesamten Heftes - (20) für ihre Werbung, die SPD hätte keine Mitgliederzeitschrift mehr. 

"Peanuts" für die Konzerne ebenso wie für die Partei, sicherlich. Doch es zeigt auch die Anerkennung, die das Kapital einer Technologiepolitik zollt, die bereits vor Jahrzehnten in der Atom- und Weltraum-Forschungsförderung begann und heute z. B. in der Unterstützung des Transrapid-Projektes oder durch die Zustimmung zur Ausweitung der Gentechnik durch die SPD im Bundesrat fortgesetzt wird. "Deregulierung" nennt es Lafontaine, wenn die strengen Sicherheitsbestimmungen des deutschen Gentechnik-Gesetzes abgeschafft werden - er befürwortet dies und lobte die Parteispitze vor den Konzernmanagern auf dem "Handelsblatt-Wirtschaftsforum" 1994, daß sie hierbei mitgezogen hat. Die Bundesländer Rheinland-Pfalz (Scharping), Nordrhein-Westfalen (Rau), Brandenburg (Stolpe) und Saarland (Lafontaine) machten es möglich: die wichtigsten Politiker der Partei also. Der Wiesbadener Parteitag kritisierte lediglich die Abschaffung von Öffentlichkeitsbeteiligungen bei der Freisetzung von gentechnisch veränderten Organismen in die Natur, nicht aber die Freisetzung selbst, deren Folgen für den Genpool der Erde niemand abschätzen kann. 

Der sonst so bibelfeste Johannes Rau brachte eine "Landesinitiative Bio- und Gentechnik Nordrhein-Westfalen" auf den Weg - genascht wurde schon längst von den Früchten des Baumes des Lebens, jetzt kommt das große Fressen, nachdem die Chemiekonzerne Geschmack gefunden haben. Mehr als 10 Milliarden Dollar setzte die gentechnische Industrie im Jahre 1990 um, nach Angaben des Unternehmens Boehringer Mannheim können es im Jahr 2000 über 180 Milliarden sein - eine solche Steigerungsrate von 1800 Prozent kann selbst der ostasiatische Wirtschaftsraum nicht bieten. Die kommerzielle Verwertung des bisher tabuisierten Eingriffs in die Keimbahn soll nun doch beim Europäischen Patentamt geschützt werden, und Scharping berief ausgerechnet Jens Reich als parteiunabhängigen Berater für Forschung und Technologie in sein Schattenkabinett zur Wahl 1994. Wenige Wochen vorher hatte Reich in der "Zeit" die Forderung nach einer noch weitergehenderen "Deregulierung" des Gentechnik-Gesetzes erhoben: "Die Natur", so meint der Rotgrüne, "betreibt Gentransfer und Genmanipulation seit Milliarden Jahren, und wir überschreiten keineswegs eine heilige Grenze, wenn wir es ihr nachtun." Die demagogische Botschaft lautet: Wer könne dagegen sein, im Einklang mit "der Natur" zu sein? "Wir schauen der Natur über die Schulter, wenn wir das Genom entschlüsseln, und wir lassen die Natur für uns arbeiten, wenn wir Textänderungen vornehmen", so Reichs einfache Logik. 

Seine Beispiele für das Gute der Gentechnik - die angenommene Eliminierung von erblichen "Defekten" aus der Keimbahn des Menschen - zeigt die Selektionsperspektive seines Denkens: Krankes muß ausgemerzt werden, so hieß das früher. Reich nennt dies nun "fremde 'Schmierereien'" im Genomtext, die dann eben ausradiert werden. "Alle Grenzen sind längst niedergerissen, und zwar sowohl in der Natur als auch durch die experimentierende Menschheit. Allerlei unverständliches und sinnloses Zeug steht in unserem Genom (denn nur wenige Prozent des Textes gelten heutzutage als wirklich 'sinnträchtig'); Retroviren haben darin herumgekritzelt - mit einem Wort: Das Genom ist nicht der unberührte heilige Tempel des Lebens, von dem der frevelnde faustische Geist unter allen Umständen fernzuhalten wäre." 

Wer aber die Definitionsgewalt darüber hat, was in den Genen "sinnloses Zeug" sein soll und was nicht, hängt ab von ökonomischer Macht: Denn das bestimmen z. B. die Chemiekonzerne mit Selektionstests für bestimmte gefährliche Chemikalien am Arbeitsplatz. Am Ende steht der genetisch gereinigte, stomlinienförmig den Kapitalerfordernissen angepaßte Mensch, das genetische Kunsttier als Ware, die patentierte und anschließend neokolonial monopolisierte Reis- oder Weizenpflanze. Die Logik dieses Denkens ist dieselbe, die auch die Zucht-Techniker des historischen Faschismus auf die Menschheit anwandten: "Kritzeleien" sind zu bestrafender Kinderkram in einer zum Göttlichen erwachsenen Menschheit der Weißen. 

Ähnlich wie der Scharping-Berater Reich sieht dies der "neurechte" Ideologe Guillaume Faye, ein neofaschistischer Theoretiker der 80er und 90er Jahre, der sich allerdings offensiv zum Faustischen bekennt: "Der faustisch gewordene europäische Mensch überschreitet durch die Wissenschaft und die Technik, was alle Zivilisationen - das Judao-Christentum inbegriffen - nicht zu verletzen wagten, nämlich die offenbare Ordnung der Natur." Übermannt zu sein vom Faustischen, das bleibt nicht auf die faschistischen Intellektuellen der "Neuen Rechten" beschränkt. Jesco von Puttkamer, letzter Deutscher in der amerikanischen NASA, sagte im Juli 1994 der "Süddeutschen Zeitung" zur Finanzierbarkeit der Weltraumprojekte: "Die ganze Kostenfrage ist eigentlich irrelevant. Es geht doch nicht nur um den Nutzen - Raumfahrt ist auch Kultur: Menschen, die zu neuen Ufern wollen." Die Deutschen müßten aufpassen, daß sie dabei nicht zu kurz zu kämen. 

Während bei Jens Reich nur zwischen den Zeilen durchscheint, daß das "Dritte Wirtschaftswunder" die Weltherrschaft des Europäers vollenden soll, schrieb Faye schon 1988 offen und gegen das Weltbild des Sozialismus gerichtet: "Da virtuell nicht die 'Geschichte', sondern die Techno-Wissenschaft die Verlängerung der natürlichen Evolution ist, wäre es dann denkbar, daß die Europäer, sich hierbei von den anderen Völkern unterscheidend, die göttliche Kühnheit zeigen, die Technik - ihre Technik - zu benutzen, um eine steigende Selbstmodifizierung zu vollziehen, was Nietzsche metaphorisch als den Marsch zum Übermenschen bezeichnete? ... Worum handelt es sich? Um die Tatsache, daß die Völker, die die künftige Techno-Wissenschaft fest in die Hand nehmen, sich vor allem urch die Beherrschung der Genetik und der zugehörigen Wissenschaften die Möglichkeit zu einer Selbstmutation geben werden mit allen Gefahren, aber auch mit allen Möglichkeiten, die diese Wette bzw. Wagnis beinhaltet. Anstatt vereinheitlichend und einebnend zu wirken, wird die Techno-Wissenschaft den Völkern, die sich ihr hinzugeben wagen, als das wichtigste Mittel erscheinen, ihre Verschiedenheit gegenüber den anderen zu behaupten und zu gestalten - wird gewissermaßen die differenzierende Logik der natürlichen Evolution ablösen." Man muß die "Selbstmutation" ja nicht wörtlich-biologisch nehmen. Im übertragenen Sinne - die Ausführungen von Faye ökonomisch verstanden - wäre die neue Hightech-Gründerzeit eine "Mutation" weg von den bisherigen Produkten, hin zu einer neuen ökonomischen Grundlage des Nordens, die die Unterschiedlichkeit der Wohlstandsverteilung auf der Erde fortsetzt - "differenzierende Logik" des "Dritten Wirtschaftswunders".(21) 

Die Aachener SPD-Bundestagsabgeordnete Ulla Schmidt war von Scharping als Vertreterin der Fraueninteressen in die Programmkommission berufen worden, die das 1994er Wahlprogramm erarbeiten sollte. Sie gehört dem Geschäftsführenden Vorstand der SPD-Bundestagsfraktion an. "Wir wollen die enormen Chancen der Bio- und Gentechnologie für die Gesundheit der Menschheit nutzen, ohne daß wir die Risiken übersehen", erklärte sie im November 1993 vor dem Deutschen Bundestag zur Änderung des Gentechnikgesetzes. Doch ohne den Gesundheits-Schmuh kam sie sogleich zum wahren Grund der Gesetzesänderung: "Die Weiterentwicklung der Bio- und Gentechnologie hat für die Zukunft des Standortes Deutschland einen außerordentlich hohen Stellenwert. Deshalb haben wir uns mit Nachdruck für eine Novellierung des Gesetzes, das 1990 von der Bundesregierung durchgesetzt wurde, eingesetzt. Die Bundesrepublik kann ihren ökonomischen und sozialen Spitzenplatz nicht dadurch erhalten, daß wir in Kostenkonkurrenz mit Thailand treten", verriet Schmidt das Geheimnis der 1800-Prozent-Steigerung, von der die "Tiger"-Volkswirtschaften Ostasiens nur träumen können, "sondern nur dadurch, daß wir Spitzentechnologie produzieren. Dazu gehört neben der Informations- und Kommunikationstechnik und der Umwelttechnologie auch der Sektor Bio- und Gentechnologie. Deshalb ist eine Novellierung sehr wichtig. ... Es ist an der Zeit, daß die bio- und gentechnische Industrie und Forschung selber Initiativen ergreift, um den Standort Deutschland auf diesem Gebiet wieder zu festigen. Wir brauchen diese Wissenschaft für die Zukunft unbedingt." 

Wenige Monate nach dieser Novellierung forderte die chemische Industrie eine erneute Absenkung der Sicherheitsstandards. Lafontaine schloß sich bereits auf dem wirtschaftspolitischen Kongreß der SPD Ende Januar 1994 - zwei Monate nach der Gesetzesänderung zugunsten der Gentechnik - der Salamitaktik an. Eine "Modernisierung des Standorts Deutschland" setze die weitere "Verbesserung der forschungspolitischen Rahmenbedingungen" voraus: "Es darf nicht länger sein, daß deutsche Gentechnologie nach Amerika abwandern muß, weil den Unternehmen hier eine Hürde nach der anderen in den Weg gestellt wird, die für den Umweltschutz nicht unbedingt notwenig ist. ... Die Politik muß die Kraft haben, notwenige Entscheidungen zu treffen, und dann auch entschlossen umzusetzen. Die Politik muß auch den Mut zu unpopulären Entscheidungen haben, wenn das für das Gemeinwohl notwendig ist." 

Solch martialische Worte beunruhigen aus dem Munde eines Politikers, der in der Vergangenheit nicht gerade durch moralisch-ethische Standhaftigkeit auffiel. Und auch der SPD-Frauen- und Familienpolitikerin Ulla Schmidt traut man nicht ohne weiteres ein ethisch verantwortliches Entscheidungsniveau in Fragen der Gentechnik zu, die immer auch Reproduktionstechnik ist: Denn in ihrer Heimatstadt Aachen ist sie in eine gerichtsnotorische Affäre um eine Halbwelt-Bar verwickelt. (22) 

Legte sich Helmut Schmidts Forschungsminister Hans Matthöfer noch für die Kernkraftwerks-Interessen der Siemens AG ins Zeug, stellten die SPD-Forschungsminister Klaus von Dohnanyi und Horst Ehmke in den 70er Jahren die Weichen für eine europäische Weltraumfahrt im Interesse von MBB/DASA, so setzt der rheinische SPD-Abgeordnete Josef Vosen diese Grundhaltung als technologiepolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion aus der Opposition heraus für die Weltraumforschung und den Transrapid fort. 

Als im Sommer 1987, kurz nach der Bundestagswahl, in der SPD-Bundestagsfraktion der offene Konflikt um die Weltraumpolitik ausbrach, setzten sich die Interessenvertreter der Konzerne - die Abgeordneten Vosen, Lothar Fischer und Karlheinz Klejdzinski - gegen die Proteste des DGB und linker Abgeordneter durch. Westeuropa solle sich als "Weltraummacht des 21. Jahrhunderts" sehen und ein entsprechendes Raumfahrtprogramm auflegen, beschloß eine Expertengruppe der rechtslastigen "Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik", in der Fischer und Klejdzinski saßen. Letzterer betätigte sich anschließend nebenberuflich zu seinem Abgeordnetenmandat als "Unternehmensberater". Doch auch solche SPD-MdB, die Einschränkungen bei Weltraumprojekten befürworten, stellen die MBB/DASA-Projekte zur Entwicklung des bemannten Weltraumgleiters "Sänger" und der "Ariane"-Rakete nicht infrage. "Für den Industriestaat Bundesrepublik Deutschland steht ein Rückzug aus dem Weltraum nicht zur Diskussion", so Catenhusen im März 1988 kategorisch. "Aufgrund ihrer wissenschaftlichen, technologischen, europa- und außenpolitischen (!) Bedeutung" müsse die Weltraumforschung und -technik "national und im Rahmen der ESA im bisherigen Umfang fortgesetzt werden".  (23) 

Wenig später dann forderte SPD-Mitglied und Daimler-Benz-Vorstandsvorsitzender Edzard Reuter - der damals wohl mächtigste Industriemanager Deutschlands - die Entwicklung satellitengestützter Verkehrsleitsysteme, mit deren Hilfe Mercedes-Limousinen und -LKW um Verkehrsstauungen herumgelenkt werden könnten. Die Fusion von Daimler-Benz mit MBB und den Aufbau der "Deutschen Aerospace AG" DASA (heute "Daimler-Benz Aerospace AG") hatte Reuter jahrelang betrieben, um die europäische Luft- und Raumfahrtindustrie unter deutsche Vorherrschaft zu bringen, um Daimler-Benz zum führenden Verkehrskonzern Europas zu machen. Daß er den Wirtschaftsrat der SPD inhaltlich führt und wirtschaftspolitischer Berater Scharpings ist, erklärt zumindest teilweise die Weltraumeuphorie der Genossen. 

Auch hier kommen die hochtechnologischen Entwicklungen keineswegs der breiten Bevölkerung zugute. Die Bayrischen Motoren Werke BMW berechneten im Sommer 1994 die "Kosten der Staus" auf deutschen Straßen. Der Liefer- und Güterverkehr läßt danach jährlich 40 Milliarden Mark - ohne Kraftstoffverbrauch - in Verkehrsstaus. Nachdem die Konzerne ihre Lagerhaltung in den Produktionsbetrieben weitgehend reduziert haben und die Autobahnen und LKW als rollende Lagerstätten benutzen, bringt jeder Stau in Mark bezifferbare Zeitverluste in der Zulieferung. Auf Dienstreisen, so die BMW-Rechnung, belaufen sich die Verluste sogar auf 43 Milliarden jährlich. Die Möglichkeit, Verkehrsstauungen durch Satelliten-Wegweiser zu umfahren, vermindert diese Kosten direkt. Eine Betriebspolitik der Lagerhaltung auf der Straße wird somit noch attraktiver für die Konzerne, noch mehr Güterverkehr kann auf die Straße verlagert werden. Die "Entwicklung hin zu einer Informationsgesellschaft", die die SPD-Wirtschaftspolitiker im Juni 1994 beschworen, gewinnt - so gesehen - eine ganz neue Qualität. 

So werden Luft- und Raumfahrt in die alltägliche Verkehrspolitik integriert. Im Februar 1994 schloß sich der SPD-Linke Catenhusen in einer Pressemitteilung der Hauptfeind-These der "Neuen Rechten" an: "Die Brisanz der Vereinbarung zwischen den USA und Rußland über eine gemeinsame Raumfahrtstrategie wird für Westeuropa immer noch unterschätzt. Die USA haben daran ein enormes außen- und sicherheitspolitisches Interesse, das einer Einbeziehung Westeuropas in diese Kooperation enge Grenzen setzt." Eine neue Strategie für die deutsche Luft- und Raumfahrt müsse her, eine "sinnvolle Aufgabenteilung zwischen Staat und Wirtschaft" sei notwendig. Die ESA, "zumindest aber Frankreich und Deutschland", sollten ihren Schwerpunkt auf Kommunikationssatelliten legen. Im Juni 1994 dann forderten Glotz und Thomas - das Gespann hat sich bewährt - ein "Verkehrsforschungsprogramm", das bis 1999 vier Milliarden Mark an Steuergeldern kosten soll. "Teil dieser Maßnahme ist es, die Deutsche Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrt zu einer leistungsfähigen Verkehrsforschungsanstalt weiterzuentwickeln." Die Entwicklung von "Hyperschallflugzeugen" (Catenhusen im Februar 1994), von "Hoch- und Höchstgeschwindigkeitszügen" (aus einer Empfehlung der SPD-Bundestagsfraktion vom März 1994) für die faustischen Übermenschen im Europa des 21. Jahrhunderts wird angepeilt. Guillaume Faye, der faustische "Neurechte" vom "Thule-Seminar", schrieb 1988: "Es ist ... wichtig, diese europäische techno-wissenschaftliche Kultur mit der Eroberung des Weltraums fortzusetzen, die für die Europäer ferner den Schlüssel zu ihrer strategischen und militärischen Unabhängigkeit bedeutet." 

Daß Helmut Schmidt 1994 den Wahlkampf für Scharping zu retten versuchte und im selben Jahr gemeinsam mit Kurt Biedenkopf und dem langjährigen Generaldirektor der ESA Reimar Lüst eine "Deutsche Nationalstiftung" als Zukunfts-Denkfabrik gründete, rundet das Bild ab. Lüst war auch Mitglied des Stiftungsrates der Siemens-Stiftung, als Armin Mohler Stiftungs-Geschäftsführer war und in Schriften des "Thule-Seminars" publizierte. Im September 1994 kündigte die ESA an, bis zum Jahre 2003 ein europäisches Raumfahrtzeug für die Neuauflage der Monderforschung zu entwickeln, die seit 1976 brach liegt. Die bemannte Außenstelle Europas auf dem Mond soll bis 2020 eingerichtet werden. Schon 1992 hatte Rolf Engel, "Raumfahrtpionier der ersten Stunde" in der Nazi-Forschungsstelle Peenemünde, später bei MBB Leiter der Raumfahrt-Abteilung, in dem DASA-Magazin "new-tech news" die Wiederaufnahme der Mondfahrt durch Europa gefordert: "Allein was die Rohstoffe angeht: Auf dem Mond stolpert man nur so über Titan!" 

Doch auch eine ganz neue Art des Verkehrs untereinander wird nun möglich. "Im Bereich der Vermarktung neuer Kommunikationstechnologien und neuer medienwirtschaftlicher Dienstleistungen", warben Glotz und Thomas, "liegen mit die größten Arbeitsplatzpotentiale der Zukunft." Man darf allerdings den Blick nicht nur auf CNN oder RTL beschränken. Auch Heimarbeitsplätze am Computer, vernetzt via Glasfaserkabel mit Dienstleistungsunternehmen in aller Welt, sind hier gemeint. Arbeitnehmer in Kabel-Satelliten-Netzen multinationaler Konzerne - wer kontrolliert die Arbeitsplatzsicherheit, die Pausenregelungen usw.? Ausgaben für Kantinen und Sozialräume können eingespart werden. Zwischenmenschliche Kommunikationen und Zusammenschlüsse der Arbeitnehmer untereinander, um menschliche Arbeitsbedingungen gemeinschaftlich zu erkämpfen, sind dann fast unmöglich. Kein Arbeitnehmer weiß mehr vom anderen die Spannbreite der Beschäftigungsbedingungen, in der er seine Arbeitskraft verkaufen muß. 

Der exponierteste und konsequenteste Kritiker der SPD-Entscheidungen zur Weltraumpolitik, der SPD-Abgeordnete Albrecht Müller, verzichtete 1994 auf eine erneute Kandidatur zum Bundestag, nachdem ihm klargemacht wurde, daß die Scharping-geführte rheinland-pfälzische SPD keinen aussichtsreichen Listenplatz mehr für den Unbotmäßigen bereitstellen würde. Das Gerede von der "europäischen Selbstbehauptung", so kritisierte Albrecht über Jahre, dürfe für die SPD nicht als Grund für ein derart teures Weltraumprogramm gelten, zumal die Ergebnisse dieser Entwicklung gänzlich unabsehbar seien. Seinen Fraktionskollegen warf er vor, "eine irrationale und stark von der Lobby geprägte" Forschungspolitik zu betreiben, die zu immer neuen Fehlinvestitionen wie beim Schnellen Brüter führe. "Rücksicht auf das große Geld und mächtige Interessen" bestimmten die SPD-Politik, meinte er. 

Während der DGB 1987 - als die SPD ihre Startrack-Politik beschloß - auf die Umverteilung des Wohlstands weg vom Sozialen, hin zu Hightech-Subventionen hinwies, den "Griff nach den Sternen auf Kosten der Armen" anprangerte und statt des Weltraumprogramms ein Programm zur Humanisierung des Arbeitslebens forderte, begab sich der Referent der SPD-Bundestagsfraktion für Forschungs- und Technologiepolitik, Reinhard Junker, sogar aufs ideologische Terrain, um die Konzern-Linie von Josef Vosen zu unterstützen: "Europäische Identität durch gemeinsame Weltraumpolitik" schrieb Junker im Stil der "Neuen Rechten". Die Kritiker von links gaben auf. 

Ähnlich verliefen im Sommer 1994 die Entscheidungen der SPD-Bundestagsfraktion zum Bau der Magnetschwebebahn Transrapid, deren Versuchsstrecke noch SPD-Minister Matthöfer unter der Führung der Konzerne Thyssen und Siemens und unter Beteiligung von Daimler-Benz und AEG bauen ließ - nebenbei allesamt wiederum treue Anzeigenkunden der SPD-Mitgliederzeitschrift "Vorwärts". 1,8 Milliarden Mark Steuergelder konnten die Konzerne bisher für die Entwicklung und Erprobung einstreichen, selbst gaben sie ganze 300 Millionen hinzu. Während der umweltpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Michael Müller 1994 Stellung bezog gegen die Magnetschwebebahn Transrapid als ein unnützes und verschwenderisches Verkehrsmittel, das geradezu nach der Energie aus Atomkraftwerken verlangt, appellierte der forschungspolitische Sprecher der Fraktion Josef Vosen an die SPD-Ministerpräsidenten, im Bundesrat dem Planungsgesetz für den Transrapid doch noch zuzustimmen. "Die SPD wird daran mitwirken, den Transrapid zum Erfolg zu führen", schrieb er schon im März. Sechs Wochen vor der Bundestagswahl setzte Vosen die Konzerninteressen wieder einmal durch: Die SPD ließ das Magnetbahnplanungsgesetz im Bundesrat passieren. Für 10 Milliarden Mark Steuergelder kann nun die Strecke Hamburg-Berlin geplant und gebaut werden.  (24) 

Wo die sozialen Forderungen auf eine "Standortdebatte" reduziert werden, wo die Optimierung der Kapitalverwertungsmöglichkeiten das einzige Kriterium politischen Handelns ist, da wird menschliches Dasein nur noch als "jung" und "risikofreudig" gegen "veraltet" und "in sozialen Sicherheiten eingezwängt" kategorisiert. Das mutige Draufgängertum des profitorientierten Individuums, das Glotz und Thomas verherrlichen und von dem sich die sozialdemokratischen Wirtschaftspolitiker die ökonomische Wende versprechen, wurde schon in den 10er und 20er Jahren von der Konservativen Revolution zum Ideal eines "dritten Reiches" erkoren. Pate stand damals der Kulturschock des Ersten Weltkriegs, in dem Ungeahntes technisch möglich gemacht und bisher Geächtetes schlicht getan worden war. Die Schützengraben-Erlebnisse führten die Massen zur sozialistischen Revolution, viele Intellektuelle jedoch zum Heroismus des heraufziehenden Faschismus. Es fragt sich, ob Glotz zuerst vom "jungen Risiko" fasziniert war und sich daher vermehrt mit dem "Jungkonservativismus" der 20er Jahre beschäftigte, wie er die Konservative Revolution gerne nennt, aus deren Texten er Begriffe und Konzepte übernimmt. Oder ob er durch die Beschäftigung mit den rechtsextremen Intellektuellen - wie so viele - von deren Schreibtisch-Draufgängertum fasziniert wurde. Futurismus, 80 Jahre später nachempfunden: Die "Stahlgewitter" des Vaters aller Dinge sind inzwischen zu Elektronengewittern geworden, Emanzipation gibt es nur virtuell als Cyberlife der Computer-Kids. Oder vertritt Glotz einfach nur die Weltanschauung, die in der Münchner Hightech-Schickeria eben "hegemonial" ist und immer war - von Schwabing bis zum Nymphenburger Schloß, dem Sitz der Siemens-Stiftung Mohlers, bei der Glotz als Referet auftrat, von den Zirkeln rechtsextremer Literaten der 20er Jahre bis zum "Tempo" der luxusgeilen Beautiful People unserer Tage? Als langjähriger Chef des aufgelösten SPD-Bezirkes Oberbayern, als jemand, der in den Kreisen der Talk-Show-Intellektuellen und ihren Sprachwolken aufgeht, bewegt Glotz sich wohl eher dort als in den Arbeitervierteln oder unter den Obdachlosen am Münchner Hauptbahnhof. 

Noch in den 80ern bekämpfte die SPD die neue "Ellenbogengesellschaft". Deren geistig-moralische Grundlage - "freies Unternehmertum" als Weltanschauung - macht sie in den 90ern zum Wahlprogramm. Befreiung ist hier nur noch Deregulierung der Errungenschaften der linken Bewegung. Die sozialen Sicherheiten, in 150 Jahren erkämpft, galten dem Kapital immer schon als Fesseln. Die Freiheiten aber, die erst auf solchen Sicherheiten aufbauen, werden abgeschafft. An ihre Stelle treten höchstens noch die alten Fesseln (euro-) nationaler Borniertheit des Bewußtseins. 

Das Projekt M funktioniert nur bei formierter Gesellschaft. Klassengegensätze gibt es für die SPD-Mehrheit ohnenhin nicht mehr, doch selbst für Interessenskonflikte ist kein Platz mehr, wenn Unternehmer und Arbeitnehmer angeblich "in einem Boot" sitzen, das zudem "voll" sein soll mit eigenen Wohlstandsinteressen. Die emanzipatorische "Konfliktpädagogik" des hessischen SPD-Kultusministers Ludwig von Friedeburg wurde noch in den 70ern gekippt. Sie war erfunden worden, um auch die Unterschichtskinder in die Lage zu versetzen, ihre Interessen im gesellschaftlichen Prozeß geltend zu machen. 

Intellektuelle und psychische Konfliktfähigkeit der Bevölkerungsmehrheit sind kontraproduktiv, wo nur eine Elite die gesellschaftlichen Entscheidungen trifft, die Mehrheit aber gerade davon abgehalten werden soll, mitzuentscheiden. Denn das "Dritte Wirtschaftswunder" ist ein Milliardengrab, die Gelder würden von demokratischen Mehrheiten wohl anders verteilt als zwischen Konzernen. Milliarden - doch woher nehmen? Die Umverteilung des gesellschaftlich erwirtschafteten Wohlstands zugunsten der Konzernsubventionen geschieht zulasten des Sozialen und des Konsums. Allenthalben wohlfeil sind in der Sozialdemokratie heute Forderungen nach Konsumverzicht - ökologisch und national verbrämt - und nach "Umbau des Sozialstaates". Das Ergebnis der "Modernisierung" ist die Absenkung des Lebensstandards für Millionen. Nach einer alternativen Produktionsweise zu fragen, die ohne oder mit gefesselten Konkurrenzverhältnissen funktioniert und daher soziale Sicherheiten und ökologische Zusammenhänge erhält, erscheint bereits als illegitim. Die Frage allein wird als illusionär und abseitig betrachtet, der Warencharakter der Produkte steht nicht zur Diskussion. 

Das "Dritte Wirtschaftswunder" von Glotz und Thomas, Lafontaine und Scharping bedarf der Ideologie der "Neuen Rechten", um den faustischen Zugriff auf den Bauplan der Welt dort als heroische Tat der Menschheit zu verklären, wo er nichts als Profitgier der Konzerne des Nordens ist. Es bedarf der "Neuen Rechten" auch, um gegenüber der Mehrheit den Eindruck der Glaubwürdigkeit zu erlangen: Die Opfer der Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger auf dem "Heimmarkt" sollen mit neuem Nationalgefühl gelindert werden: nationale statt soziale Solidarität. Das Wohlstandsgefälle zwischen Metropolen und Peripherie - zwischen Großstadt und Vorstadt, zwischen München und Niederbayern, zwischen Nord und Süd - wird ethnopluralistisch gerechtfertigt: Bewahrung der kulturellen Identität. Die ökonomischen Eroberungen werden militärisch abgesichert: Bundeswehreinsätze weltweit, Aufbau einer Europaarmee als Eingreiftruppe im Rahmen der Westeuropäischen Union WEU. Die Deutschen müssen heute in den Weltraum hinaus, so wie zu Kaisers Zeiten auf die Weltmeere: Aus den einfachen Gründen der Kapitalverwertung - weil neue Produkte neue Gewinne bringen - ebenso wie aus strategisch-militärischen Gründen. 

Nationalstolz auf das "Made in Germany" erleichtert es sehr, die Gewinnspannen zu vergrößern. Die "Gefühlsgemeinschaft der Deutschen", von der Hans-Jochen Vogel immer wieder spricht, erleichtert es sehr, den Sozialabbau als "nationale Solidarität" mit den Ostdeutschen zu verkleiden. Wer die Gewinner am Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus sind, wer daran verdiente, die Industrie in den neuen Bundesländern platt zu machen - das wäre eine sozialistische Frage, keine sozialdemokratische. Otto Schily, SPD-MdB mit großbürgerlicher Herkunft, warf 1991 im "Vorwärts" zur Debatte um die Verfassungsreform dem Gewerkschaftsflügel "sektiererisches Eifern" vor und kritisierte: "Leider besteht auch bei Sozialdemokraten die Neigung, alles Erdenkliche aus dem eigenen politischen Programm für verfassungsgeeignet zu halten, beispielsweise das Recht auf Arbeit", das doch in Wahrheit nur "eine Fata Morgana" sei. Als Vorsitzender des Bundestags-Untersuchungsausschusses zur Treuhand-Anstalt sagte er 1994 gegenüber der "taz", wenn sich herausstellen sollte, daß sich private Unternehmen mit Hilfe der Treuhand-Anstalt zu Unrecht bereichert hätten, "wird das mit Sicherheit zu einer Rüge im Abschlußbericht führen". Was privaterseits wohl zu verkraften wäre.  (25) 

Scharpings Berater für Ostdeutschland und Ökologie, Jens Reich, ging im April 1995 im "Spiegel" noch den letzten Schritt weiter, als er unumwunden die Ökodiktatur forderte. Dabei wurde auch klar, wie er die tabuisierte Gentechnik gegen die Proteste der ökologisch sensibilisierten Bevölkerung durchsetzen will. Man brauche "neue politische Instrumente", denn "mit der üblichen Legislative wird man die Dinge nicht in den Griff bekommen", sagte er dem "Spiegel", der sofort zurückfrage: "Liebäugeln Sie mit der Ökodiktatur?". Darauf Reich: "Nur weil die Parteien sich nicht auf einen Konsens einigen können, weil irgendwelche Lobbys blockierende Stöcke in die Räder stecken, können wir nicht Jahrhunderte warten. Es muß möglich sein, der Legislative in den Hintern zu treten. Wirkliche Veränderung ist nicht möglich, wenn ständige Wahlkämpfe alles blockieren." Der "Spiegel": "Ihr Motto lautet offenbar 'Mehr Diktatur wagen'." Jens Reich: "Ja." 

Und dann plante der Scharping-Berater die Errichtung eines "Ökologischen Rates" mit "Verfassungsrang", über den er beim New Ager Rudolf Bahro gelesen hatte und der per "Ukas" und "Ordre du Mufti" regieren soll, wie Reich sagte: "Ich bin vehement dafür, daß man ein Instrument schafft, daß so laut befehlen kann, daß die Politik endlich aufwacht." Gewählt werden solle nur noch alle 15 Jahre. Wem Reich befehlen lassen will, sagte er auch: Sozialabbau und Gemeinschaftsgefühl in der Familie sollen Kapital freisetzen für Veränderungen, die er immer noch als ökologische Reformen bezeichnet; das finde er so sympathisch an Biedenkopfs Formierungs-Ideen. Hans Branscheidt von der linken Hilfsorganisation "medico international" schrieb dazu kritisch: "Kein Staatsanwalt regt sich, kein Verfassungsschutz wird irgend tätig, wenn der Wunschkandidat vieler für das Amt des Bundespräsidenten die Aufhebung der Verfassung propagiert." Im Gegenteil: Der stellvertrende SPD-Parteivorsitzende Oskar Lafontaine schlug vor, für eine große Koalition in Mecklenburg-Vorpommern ein Kabinett von vermeintlich unabhängigen Fachleuten unter der Führung eines Parteilosen zu wählen, "zum Beispiel Jens Reich".  (26)  

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Anmerkungen: 
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(9) Glotz, P. und U. Thomas: Das Dritte Wirtschaftswunder. Aufbruch in eine neue Gründerzeit, Düsseldorf 1994. Thomas war SPD-Minister für Wirtschaft, Technik und Verkehr in Schleswig-Holstein. 
(10) "Daimler-Benz High Tech Report. Berichte aus Forschung, Technik und Umwelt" Nr. 2 und Nr. 3/1995. 
Reuter-Interview in "Wirtschafts-Woche" 26. 11. 1993. 
(11) Pierer zit. n. "Der Spiegel" Nr. 12/1992. 
"Vorwärts" Nr. 2/1993. 
Pressemitteilung der SPD vom 6. 6. 1994. 
(12) Andres: Interview in "ppp", 8. 11. 1993. 
Horn zit. n. "Süddeutsche Zeitung" 8. 2. 1994. 
Voigt: "General-Anzeiger" 24. 2. 1995 und "junge Welt" 27. 5. 1995. 
Glotz, P.: Der Wahrheit eine Waffe, "Die Zeit" 10. 9. 1993. 
Fichter, T.: Bosnien - Krieg ohne Ende, in NG/FH, Nr. 5/1994. 
Glotz an Fichter ebd. 
Verheugen: "Frankfurter Rundschau" 25. 2. 1995. 
Gerster, F.: Wohin Blauhelme nicht gehören, "FAZ" 28. 1. 1994. 
Glotz und Duve zit. n. "Der Spiegel" Nr. 12/1992. 
(13) Debray, R.: Die Weltmächte gegen Europa, Reinbek 1986. 
"Krisis" nach "Searchlight" Nr. 4/1995. 
Ehmke im "Sozialdemokratischen Pressedienst Europa" 19. 1. 1989. 
Vgl. Faye, G.: Die neuen ideologischen Herausforderungen, in: Krebs, P. (Hrsg.): Mut zur Identität. Alternativen zum Prinzip der Gleichheit, Struckum 1988. 
Zur Siemens-Stiftung vgl. Kratz, P.: Siemens zum Beispiel ..., in: Hethey, R. und P. Kratz: In bester Gesellschaft. Antifa-Recherche zwischen Konservativismus und Neo-Faschismus, Göttingen 1991. 
Delors zit. n. "Der Spiegel" Nr. 42/1991. 
Glotz, P.: "J. R. Ewing gefährdet europäische Identität", "taz" 21. 3. 89. 
(14) Bäcker, G.: Grenzen des Sozialstaats?, in "Aus Politik und Zeitgeschichte" 16. 6. 1995. 
(15) Vgl. Hinz, M. O., H. Patemann und A. Meier (Hrsg.): Weiß auf Schwarz. 100 Jahre Einmischung in Afrika. Deutscher Kolonialismus und afrikanischer Widerstand, Berlin 1984. 
(16) Daubertshäuser in "Vorwärts" Nr. 9/1991. 
Scharping: Pressemitteilung vom 4. 6. 1994. 
"Dominanzstreben": "General-Anzeiger" 22. 5. 1995. 
Henkel nach "junge Welt" 5. 4. 1995. 
(17) Vgl. "spw" Nr. 75/1994, das erste Heft nach der Neukonzeption der Zeitschrift, die jetzt auch für nicht-sozialistische - rechte?, "neu-rechte"? - Politik offen ist, solange sie sich dem Primat des Antiamerikanismus unterwirft. 
Catenhusen: Pressemitteilung vom 24. 2. 1988. 
Heise, A., H. Tofaute und K. Bartsch: Grundzüge eines Modernisierungs- und Beschäftigungsprogrammes (MOB) für die Bundesrepublik Deutschland; U. Kremer: Allen Wohl und niemand weh? Zum Regierungsprogramm der SPD; beides in "spw" Nr. 79/1994. 
(18) Umfrage des "Instituts der deutschen Wirtschaft", "Die Welt" 21. 1. 1995. 
(19) "Bildung - Forschung - Kultur". Materialien zum SPD-Regierungsprogramm, hrsgg. vom SPD-Parteivorstand, Bonn 1994. 
SPD-Parteitag Bezirk Nordhessen nach "Frankfurter Rundschau" 12. 6. 1995. 
Glotz-Bundestagsrede am 25. 11. 1994. 
"Handesblatt" 20. 4. 1995. 
Einladungsprospekt FES-Tagung "Zukunftstechnologien". 
(20) Extrem z. B. "Vorwärts" Nr. 4/1990: Von 32 Heft-Seiten sind 9 Seiten an die Konzerne verkauft. 
(21) Puttkamer, J. von: nach "Süddeutsche Zeitung Magazin" 15. 7. 1994. 
Reich, J.: Glasnost für die Gentechnik, "Die Zeit" 25. 3. 1994. 
(22) In der "Kasino-Affäre" um "unerlaubtes Glücksspiel" in einer Bar ihrer Schwester mußte Ulla Schmidt nach Berichten der Aachener Lokalpresse vor Gericht ihre Beteiligung an dem Barbetrieb eingestehen. In einem früherem "Rotlicht"-Etablissement der Schwester namens "Barbarina" - so berichtete der "stern" - habe die Staatsanwaltschaft sogar bei einer Razzia Ulla Schmidt als "Bedienungspersonal" registriert und Videofilme mit Vergewaltigungs-Pornographie beschlagnahmt: "Notzuchtsszenen", "Brutalitätsszenen" zitierte der "stern" aus den Akten. Vgl. "Geld, Gier und Genossen", "stern" 13. 3. 1995. 
(23) ESA: Europea Space Agency, Europäische Weltraumagentur. Sie koordiniert die staatlichen, wissenschaftlichen und privatökonomischen Weltraumprojekte innerhalb der Europäischen Union. 
Catenhusen, W.-M.: Pressemitteilung vom 9. 3. 1988. 
(24) Junker in der Zeitschrift "zweiwochendienst" Nr. 17/1987. Die Zeitschrift wurde dann von Vosen an alle Fraktionsmitglieder verschickt. 
Catenhusen, W.-M.: Pressemitteilung vom 4. 2. 1994. 
Müller zit. n. "Süddeutsche Zeitung" 25. 6. 1987; "Die Woche" 2. 9. 1993. 
Vosen, J.: Pressemitteilung vom 11. 3. 94. 
(25) Schily in "Vorwärts" Nr. 8/1991; in "taz" 2. 7. 1994. 
(26) Reich, J.: "In den Hintern treten", Spiegel-Gespäch in "Der Spiegel" Nr. 14/1995. 
Branscheid in "medico Rundschreiben" Nr. 1/1995. 

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