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E-Mail an BIFFF...














Zwei, die sich immer verstanden: Pensionär Paul Kratz (links) und Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Johannes Rau im Jahr 1992:



Zwanzig Jahre vorher, 1972, hatte Rau den linken Gewerkschafter Kratz auf einen sicheren Listenplatz der SPD-Landesliste in Nordrhein-Westfalen zur Bundestagswahl und damit als Abgeordneten in den Deutschen Bundestag gehievt.


Paul Kratz (Mitte) 1972 mit Willy Brandt und dem damaligen SPD-Bundesgeschäfts- führer Holger Börner:



Paul Kratz in den 70er Jahren
mit Willy Brandt:





Der IG Metall-Gewerkschafter Paul Kratz (Mitte) mit dem IG-Metall-Vorsitzenden Eugen Loderer (links) und Nordrhein- Westfalens SPD-Ministerpräsidenten Heinz Kühn (rechts):




Paul Kratz 1976 im kritischen Gespräch mit Helmut Schmidt vor einem Bild des ersten Nachkriegs-Vorsitzenden der SPD, Kurt Schumacher:





Die Presse schrieb über Paul Kratz: "... kein Konformist nach der Devise 'Immer mit mit'm Schmidt'". Aber er war auch jemand, der nicht mit dem politischen Gegner gegen seine Partei stimmte, sondern bei Dissenz zur Mehrheits-SPD lieber der Abstimmung fernblieb und dies öffentlich erklärte, wie in einer Frage im Kriegsdienstverweigerer-Recht.

Konsequent und konziliant -- deshalb konnte er trotz der sozial- und friedens- politischen Differenzen im persönlichen Gespräch auch mit Helmut Schmidt, der ihm immer zuhörte:

 


Mit SPD-Schatzmeister Alfred Nau:




Im Straßenwahlkampf mit der damaligen Bundesvorsitzenden der Jungsozialisten, Heidemarie Wieczorek-Zeul:



Politisch wurde Paul Kratz ebenso von den Gewerkschaften wie von den Jungsozialisten unterstützt.




Kandidatenbrief zur Landtagswahl 1958 in Nordrhein-Westfalen:



Tja, so sahen Sozialdemokraten damals aus, aber wichtiger war ihre politische Botschaft (Rückseite des Flugblattes):



Paul Kratz (links) 1958 mit dem SPD-Parteivorsitzenden Erich Ollenhauer (rechts):









Antifa-Gedenken, als Parlamentarier gelebt: In den 80er und 90er Jahren hatte Paul Kratz immer eine Fotokopie der Debatte des Reichstages zum Ermächtigungsgesetz dabei, um zu zeigen, wer den Nazis die Macht der Diktatur gegeben hatte:



Die ach so Liberalen, das ach so christliche Zentrum, die Junker-, Adeligen- und Kapital-Parteien stimmten dem Ermächtigungsgesetz zu; die kommunistischen Reichstagsabgeordneten waren schon totgeschagen oder geflohen, von den Sozialdemokraten saßen etliche schon in den KZ; alle SPD-Reichstags- abgeordneten, die noch frei waren, stimmten als einzige gegen die totale Nazi-Macht. Die Fotokopie des Protokolls der Reichstagssitzung ist tatsächlich das einfachste und schlagendste Argument, das man bei sich tragen kann.

























Ein zuverlässiger Sozialdemokrat:



"Westdeutsche Zeitung" 1978



Gewerkschafter unter sich: Paul Kratz mit dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung Walter Arendt, dem vormaligen Vorsitzenden der Bergarbeiter-Gewerkschaft IG Bergbau und Energie:



Arendt bei einem Empfang zu Ehren von Paul Kratz in den 80er Jahren, als beide schon im Ruhestand waren:





Ehre, wem sie gebührt:




Über die Parteigrenzen hinweg wurde Paul Kratz als Demokrat, Gewerkschafter und Sozialpolitiker gewürdigt ("Westdeutsche Zeitung" 1981).



Zwei, die sich gut verstanden und die sich immer wieder trafen in der Sorge um die Schicksale der "kleinen Leute" -- Herbert Wehner und Paul Kratz:


Oben: "Westdeutsche Zeitung" 1985. Im Bild links Herbert Wehner, rechts Paul Kratz, auf dessen Einladung Wehner vor altgedienten Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten und verdienten Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern sprach.

Politische Freunde ...



... privat in den 80er Jahren:

 

"Onkel Herbert" Wehner zu Gast im Hause Kratz (oben).
"Für Wehner war mein Vater 'der Paule'. Als Vorsitzender der Bundestagsfraktion sagte er, wenn er das Wort erteilte: 'Jetzt spricht der Paule'. Und wenn jemand von den akademischen Großkopfeten dazwischen quatschte, paffte Wehner ein paar mal heftig durch seine Pfeife und schrie: 'Der Paule spricht!' Und für meinen Vater war Wehner, wie für viele andere, 'de Onkel Hebbet'."







Anerkennung: Noch ein Jahrzehnt nach seinem Ausscheiden aus dem Deutschen Bundestag würdigte die Bundestags- zeitung "Das Parlament" die Person Paul Kratz und seine Arbeit:





Oben: Auch die konservative "Rheinische Post" erinnerte 1991 an die erfolgreiche Sozialpolitik des Gewerkschafters und Sozialdemokraten, der auch vom  CDU-Landrat und dem von der CDU gestellten Verwaltungschef des Landkreises geehrt wurde.
"Was ich heute bin und machen kann, verdanke ich meiner sozialistischen, katholischen, rheinischen und internationalistischen Familie -- und letztlich auch Johannes Rau"

BIFFF...-Leiter Peter Kratz spricht im Interview
über seine Zeit in der deutschen Sozialdemokratie.



Sie gehen oft zum Grab von Johannes Rau?


Nein, aber wo wir schon mal in der Gegend sind, können wir das Gespräch ja auch bei einem Gang über den Dorotheenstädtischen Friedhof führen. Und wenn ich mal zu Brechts Grab gehe am Sonntag, wenn der Weg in den Grunewald zu weit und die Zeit zu kurz ist, dann geh ich selbstverständlich auch bei Rau vorbei, er war ja ein politischer Freund und Gönner der Familie. Wir könnten aber auch durch Kreuzberg gehen, zum Denkmal für Wilhelm Leuschner in der Eisenbahnstraße, dann wäre es etwas abstrakter.

Bleiben wir erst mal bei Rau. Haben Sie ihn gekannt?

Ja, sicher habe ich ihn gekannt, aber er mich nicht! Ich bin ihm zwar einmal begegnet, als er schon Bundespräsident war, bei einem großen Bürgerempfang im Schloss Bellevue, aber das zählt ja nicht. Es reichte noch nicht mal für einen Händedruck unter Fremden. Man kann auch Menschen viel verdanken, die einen gar nicht kennen. Und sogar Menschen, mit denen man keineswegs hundertprozentig übereinstimmt. Das Verhältnis ist indirekter: Rau und mein Vater kannten sich gut, und als mein Vater 1972, im "Willy wählen!"-Jahr und in der hoch politisierten Atmosphäre am Ausgang der Studentenbewegung, für die SPD zum Bundestag kandidierte am pechschwarzen Niederrhein, da war es Rau, der in den Parteigremien klar und entschieden sagte: der Paul Kratz bekommt einen guten Listenplatz, denn wir brauchen Menschen von der Basis im Parlament. So kam's.



Paul Kratz (rechts) mit Johannes Rau (dritter von rechts, damals Minister für Wissenschaft und Forschung in Nordrhein-Westfalen) und dem SPD-Parteivorsitzenden Willy Brandt (links) im Wahlkampf 1976.

Mein Vater war als konsequenter, ja radikaler Gewerkschafter in der SPD Nordrhein-Westfalens bekannt, und obwohl er weithin als Linker galt, der auch von den damals marxistischen, jedenfalls sozialistischen Jusos unterstützt wurde, unterstützte ihn auch Annemarie Renger aus dem Nachbarwahlkreis, die ja eher rechts stand in der Partei. Da lief viel über persönliche Sympathien und die damals noch vorherrschende Weisheit, dass die Sozialdemokratie ein breiter Strom sein müsse. Und mein Vater konnte mit vielen gut, lachte gern, hatte immer einen Ulk parat, ging auf Menschen zu und kam ins Gespräch. Der war ja auch viel toleranter als ich.

Und worin besteht jetzt Ihr Dank?

Ich machte im selben Jahr Abitur und ging ins Studium, war aber am Wochenende immer zu Hause, um die Geschichten aus dem Bundestag nicht zu verpassen, die mein Vater mitbrachte. Das war ja alles sehr interessant, es war eine politisch aufgewühlte Zeit, und wir waren, so lange ich denken kann, immer zuerst eine politische Familie. Hätte Rau meinen Vater nicht in den Bundestag gehievt, säße ich heute vielleicht im Knast, als Psychologe versteht sich, Seelengespräche mit Knackis und so, wie einige Kommilitoninnen von mir. So aber wurde indirekt auch mir der Weg geebnet in die Politik. Apropos Weg: hier geht's lang zu Hegel, aber stolpern Sie nicht über die Wurzeln und Auswüchse da. Ja. 1970 war ich in die SPD eingetreten, Schülermitverwaltung, Schülerzeitung, dann haben wir viel bei den Jusos gemacht, ein Jugendzentrum gefordert, eine lokale Alternativzeitung gegründet, die sogar in der etablierten Presse wie "Rheinische Post" oder "Westdeutsche Zeitung" Aufsehen erregte, obwohl sie nur sporadisch erschien; selbstverständlich stellte sie auch die Politik meines Vaters dar. In einer Kleinstadt ist ein Bundestagsabgeordneter prominent, da rutscht man - Vorsicht Pfütze, da vor Hegels Grab, da rutscht man leicht nach rechts ab! - als dessen Kind fast schon automatisch in die Politik, die den Jungen überlassen bleibt. Es war ein fließender Übergang von der Schüler- in die Juso-Politik.




Immer im Gespräch: So zeigte die konservative Zeitung "Rheinische Post" Paul Kratz (links) 1975 auf dem Parteitag der SPD Nordrhein-Westfalens mit Willy Brandt, dem damaligen SPD-Ministerpräsidenten Nordrhein-Westfalens Heinz Kühn (2. v. rechts) und dem NRW-Arbeits- und Sozialminister Friedhelm Farthmann (rechts).
 
Ein guter und lieber Juso-Genosse war damals übrigens Norbert Schüren, der kam aus der evangelischen Jugend, war ein Jahr unter mir am Gymnasium. Wir haben zusammen eine Juso-Broschüre zum Grundgesetz und seiner Verteidigung gemacht. Der hatte immer eine Reclam-Ausgabe des Grundgesetzes dabei und zog sie bei Bedarf aus der Hemdtasche: Ich habe zufällig ein Grundgesetz dabei, sagte er dann und zitierte daraus. Heute ist er ja in Hessen und ein Ypsilanti-Mann, sollte wohl Staatssekretär werden, wie man las. Es ist schon manchmal schmerzlich zu sehen, welchen Weg alte Freunde gegangen sind, vom Grundgesetz zum Ypsilantismus, da muss man erst mal die Freiheit des Abgeordnetenmandats und des Parlaments überwinden hin zur Gleichschaltung. Aber vielleicht sieht man das ja hier in Berlin nicht so streng, wo ein Parlamentspräsident einen zum Regierenden Bürgermeister zu vereidigen versuchte, obwohl der in der vorherigen Abstimmung gar keine Mehrheit bekommen hatte. Das hat sich nicht mal der Göring getraut. Der liebe Norbert: früher das Grundgesetz griffbereit in der Hemdtasche, pah!, das steckt die Ypsilanti-SPD doch heute in die Westentasche!

Sie schweifen ab. Wir waren beim Dank.

Ach so, ja. Friedhöfe verleiten immer dazu, gleich eine Gesamtbilanz zu ziehen. Also: Als ich 1978 mit meinem Einser-Diplom kam, und der Herr Papa sich auch noch bei den Fraktionskollegen umgehört hatte, wer einen Mitarbeiter brauche, da wollten mich einige als MdB-Assistenten einstellen, und so habe ich bis 1994 sechzehn Jahre für linke SPD-Abgeordnete gearbeitet, Petitionen und parlamentarische Anfragen bearbeitet, Reden und Pressemitteilungen geschrieben, viel Antifa-Politik gemacht und viel Geld verdient. Das ging damals noch, wenn man gut war. Heute ist ein Universitätsabschluss ja eher schädlich in der SPD, ich habe ja noch mein Latinum, sogar das große, kann sogar lateinische Grabsteine lesen, aber heute gilt man als Hoffnungsträger des linken Flügels der SPD, wenn man sein Studium abgebrochen hat!

Ja ja, wir haben die Annen-Geschichte auch gelesen. Können wir jetzt mal wieder ernst werden, bitte. Antifa-Politik in der SPD?     

Das war eine lange Zeit sehr leicht, bis in die 90er Jahre, bis die Scharping- und Schröder-Fraktion die Geleise wechselte. Ich hatte ja vieles bei meinen Eltern gelernt. Mein Vater war als Pazifist und Antifaschist aus dem Krieg gekommen, hatte meine Mutter getroffen, die aus einem katholischen und sozialdemokratischen Elternhaus stammte. Mein Vater hatte sich in den frühen 30er Jahren als Mitglied der "Katholischen Jungschar" noch auf der Straße mit den "Hitler-Jungen" geprügelt, auch wenn die Kirche das nicht gerne sah. Der Vater meiner Mutter hatte als Straßenbahnfahrer den kleinen alltäglichen Antifaschismus im Kollegenkreise gelebt. Er trug die drei Pfeile der "Eisernen Front", der SPD-Organisation gegen die SA der NSDAP, an seiner Straßenbahner-Uniform, erzählte meine Mutter immer, und wenn sich die Straßenbahnen begegneten, lehnten sich die Fahrer raus und begrüßten sich mit erhobener linker Faust und dem Ruf "Freiheit!", das war damals ein antifaschistischer Kampfgruß der Sozialdemokraten und Gewerkschafter. Und seine erzkatholische Frau hatte Angst, die Nazis würden ihn zusammenschlagen. Der Traum jedes Jungen: ein Lokomitivführer zum Großvater! Leider starb er schon 1934 plötzlich einen Herztod, aber was war in der Zeit der Nazi-Morde an den Genossen und Kollegen, die man miterleben musste, schon ein "natürlicher" Tod! Ich konnte ihn nicht kennen lernen, er hätte mir sicher noch mehr erzählen können über die Kampfzeit der Demokarten in den frühen Dreißigern. Na, wenigstens trage ich seinen Vornamen. Für meine Mutter war es eine Selbstverständlichkeit, bei der ersten freien Wahl, an der sie teilnehmen konnte, den Kommunalwahlen im Herbst 1946, die SPD zu wählen, die Partei, die ihr so früh verstorbener Vater immer gewählt und für die er bis zu ihrem Verbot durch die Nazis immer offen geworben hatte.

Sicher, aus historische Sicht ist manches zu kritisieren an Organisationen wie dem sozialdemokratischen "Reichsbanner", an den Aufmärschen, zu denen auch gewerkschaftliche, sozialdemokratische und katholische Organisationen hinter ihren "Führern" aufliefen und die sie gegen das Brimborium der Nazis setzten. Sie brachen nicht die autoritären Strukturen auf, von denen die Nazis profitierten, im Gegenteil, sie festigten noch den autoritären Charakter vieler Menschen und setzten auf Nationalgefühle statt auf Internationalismus, was es dann wieder nur den Nazis leichter machte. Das habe ich ja in meinem SPD-Buch kritisiert. Meine Eltern waren keine Intellektuellen, sondern einfache Leute, aber das hatten sie kapiert und an ihre Kinder weiter gegeben: dass Duckmäusertum, Gehorsamkeitskult und Autoritätsglaube nur der Rechten nutzt, und dass Nationalismus im seit der Römerzeit internationalen Rheinland nur ein Anachronismus ist. Daher kam wohl auch ihre Sympathie für das Antiautoritäre der Studentenbewegung in den 60er Jahren, die ja maßgeblich von Max Horkheimer mit beeinflusst war, bei dem mein Vater Anfang der 50er Jahre an der gewerkschaftseigenen "Akademie der Arbeit" in Frankfurt studiert hatte, wo Horkheimer als fester Dozent tätig war. Und das hat mein Vater bei seiner Landtagskandidatur für die SPD 1958 schon in seinem Kandidatenflugblatt ausgedrückt, als er sich gegen jede unumschränkte Macht aussprach, als seine Lehre "aus der Nazizeit".

Pflege des antifaschistischen Erbes als Selbstverständlichkeit:

Die konservativ-christliche "Rheinische Post" brachte den Artikel (oben), in der Familie wurde er gelesen, am Mittagstisch darüber gesprochen: "In dieser Atmosphäre aufzuwachsen, dafür darf man dankbar sein." Wie kleinlich die gesellschaftliche Atmosphäre vor der Studentenbewegung war, zeigt sich daran, dass man auf "Le Monde" verweisen musste, um an den Widerstand der Arbeiterbewegung zu erinnern, weil der linke Widerstand noch weitgehend tabuisiert und im Nachkriegs-CDU-Staat vom allzu späten Widerstand der konservativen Militärs überdeckt war. Sogar die eher linksliberale Presse wie die "Westdeutsche Zeitung" (unten) griff sich dann auch lieber den Antidemokraten Carl Friedrich Goerdeler für die Überschrift heraus als etwa den Gewerkschafter Wilhelm Leuschner:



In den 60ern hat mein Vater dann als Gewerkschaftssekretär und SPD- Kommunalpolitiker immer wieder die Tradition des linken Widerstands gegen die Nazis hoch gehalten, hat dafür auch die Öffentlichkeit gesucht, wie etliche Presseartikel zeigen. Das war vor der gesellschaftlichen Politisierung durch die Studentenbewegung keineswegs selbstverständlich. Leider sind viele von den alten Gummi-Fotokopien heute kaum noch lesbar, also hohe Zeit, sie mal zu digitalisieren. Er hat auch Schulungen abgehalten über den opferreichen Widerstand der Arbeiterinnen und Arbeiter. Die Grundlagen waren ihm auf der "Akademie der Arbeit" in Frankfurt vermittelt worden, wo er ein Jahr lang studiert hatte. Die Akademie kooperierte, glaube ich, mit hessischen Unis, von denen die Professoren zu Gastvorlesungen kamen, oder die Studenten - gab es da auch gewerkschaftliche Studentinnen? Eine, glaub ich, war in dem Jahrgang meines Vaters, aber auf den alten Fotos sind keine zu sehen! - fuhren zu deren Unis, ich weiß es nicht. Mein Vater hat immer erzählt, wieviel er von dem damals noch sozialdemokratischen Marxisten Wolfgang Abendroth und dem katholischen Sozialethiker Eugen Kogon gelernt hat, die ja auch beide von den Nazis eingekerkert worden waren. Da gibt es noch Aufzeichnungen meines Vaters über diese Vorlesungen, die aber handschriftlich und schwer zu lesen sind. Deshalb sagte ich vorhin, wir könnten auch zum Leuschner-Denkmal gehen. Der Gewerkschafter und SPD-Innenminister von Hessen Wilhelm Leuschner, sicher kein Antiautoritärer, aber jemand, der noch wusste, was die Freiheit des Gewissens bedeutet, im Gegensatz zu weiten Teilen der heutigen Hessen-SPD, traf sich im Umkreis des "20. Juli" mit Leuten des Kreisauer Kreises und mit Carl Friedrich Goerdeler, der ja alles andere als ein lupenreiner Demokrat war. Aber Willy Brandt hatte ja auch die andere Seite seiner Kontakte zum konservativen Widerstand, die so gegensätzlich zum "Mehr Demokratie wagen!" war; in meinem SPD-Buch bin ich darauf eingegangen. Die Presse in den 60er Jahren griff sich dann Goerdeler raus als Überschrift für einen Artikel über die antifaschistsche Arbeit meines Vaters, obwohl ihm die Erinnerung an den sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Widerstand viel mehr am Herzen lag. An den Offizieren um Stauffenberg kritisierte mein Vater immer, dass sie lange mit den Nazis gegangen waren und schon Gegner der Weimarer Demokratie gewesen waren, bei Leuschner kann man das aber nicht so sagen, der gehörte von Anfang an zum Arbeiter-Widerstand. Im Bücherregal meines Vaters stand, so lange ich denken kann, das berühmte Buch "Das Gewissen entscheidet" über die Prozesse gegen die Widerstandsgruppen vor dem Volksgerichtshof, aber gleichzeitig wies mein Vater immer auf die Mitverantwortung eines Teils der viel zu späten Widerständler für die Naziverbrechen hin, weil sie eben so lange mitgemacht hatten.

Und immer hat er
daran erinnert, dass die demokratische Mitte und Rechte der Weimarer Republik die Hauptverantwortung für die Errichtung der Nazi-Diktatur trug, weil sie ohne Not dem "Ermächtigungsgesetz" zugestimmt hatten. Das Ermächtigungsgesetz war für meinen Vater die Entscheidung. Er wäre nicht der Meinung des heutigen Bundespräsidenten gewesen, dass der erste Nachkriegs- Bundespräsident Theodor Heuss "ein Glücksfall für Deutschland" gewesen sei. Immer, wenn Heuss im Fernsehen gezeigt wurde, rief mein Vater ins Wohnzimmer: "Der hat auch dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt!" In späteren Jahren trug er immer eine Fotokopie des Protokolls der Reichtagssitzung bei sich, auf der die Sozialdemokraten, die sich noch frei bewegen konnten (einige waren schon verhaftet oder im Exil, die KPD-Abgeordneten mussten sich schon verstecken, um nicht totgeschlagen zu werden), als einzige gegen das Ermächtigungsgesetz gestimmt hatten. Heuss hatte als liberaler Reichstagsabgeordneter dafür gestimmt. Mein Vater pflegte auch, so lange es gesundheitlich ging, Kontakt zu Josef Felder, dem lange Zeit noch einzigen lebenden SPD-Reichstagsabgeordneten, der bei der Abstimmung 1933 dabei gewesen war, mit dem er sich immer wieder über diese Reichstagssitzung unterhielt. Da lernte der jüngere Bundestagsabgeordnete viel vom älteren Reichstagsabgeordneten und erzählte es uns, wenn sich am Wochenende die Familie traf. Mein Vater war eben im Kern ein Parlamentarier, deshalb suchte er die Verantwortung für die Hitlerdiktatur im Parlament und sah seine Verantwortung für das "Nie wieder!" in der politischen Bildung.

Bildungsveranstaltungen zum frühen Widerstand von links hat mein Vater auch noch nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag für Jusos abgehalten. Überall verteilte er seine Reichstagsprotokoll-Fotokopien, was manche dann schon altersschrullig fanden, und bis zuletzt ist er auf den Friedhof gegangen und hat am 9. November an einem kleinen Denkmal für die lokalen Opfer der Shoah Grablichter aufgestellt. Ich hab dann mal zu ihm gesagt: In Deinem Alter, es ist doch viel zu neblig und kalt draußen!, aber er hat nur geantwortet: "Hier macht das ja sonst niemand", und ist zum Friedhof gegangen mit seinem Gehstock und seinen roten Kerzen. Eine katholische Ehrung für die jüdischen Opfer der Deutschen. Meinem Vater hätten sicher die Konsequenz und unerbittliche Deutlichkeit gefallen, mit der Bundeskanzlerin Angela Merkel heute das Existenzrecht Israels und die unabdingbare Solidarität mit den jüdischen Menschen zur Staatsraison der Bundesrepublik Deutschland erklärt. Das hat kein SPD-Kanzler je so deutlich getan, wohl aber Johannes Rau, weshalb ihm viele Besucher einen Stein auf sein Grab legen, obwohl er ja Christ war. Hier sind wir übrigens angekommen bei "Bruder Johannes", das Grab ist nicht so schön, oder was finden Sie? Ein bissschen trist. Und dieser Osterkorb da auf der Ecke abgestellt, das sieht blöd aus.
Und sehen Sie da! Gegenüber von Rau liegt wohl ein alter Nazi, mit Runen auf dem Grabstein, das ist peinlich!

Das sieht ja wirklich seltsam aus!

Es sind wohl überwiegend die jüdischen Berliner, die heute noch an Rau denken, denn in der Wowereit-SPD ist kein Platz für jemand, auf dessen Grabstein der Bibelspruch steht: "Dieser war auch mit dem Jesus von Nazareth." Wollen wir es mal als Bekenntnis zur Befreiungstheologie verstehen, d
enn der Satz ist eigentlich aus dem antisemitischen Matthäus-Evangelium. Trotzdem ein schöner, fast schon weltlicher Satz, der auf die irdischen Botschaften dieses Jesus verweist, die soziale waren. Mein Vater sympathisierte, nachdem er Ende der 60er Jahre aus der katholischen Kirche ausgetreten war, weil die Bischöfe in einem Hirtenbrief wenig verblümt zur Wahl der CDU aufgerufen hatten und das von der Kanzel verlesen worden war, mit der Befreiungstheologie. Oder das, was er dafür hielt, er war ja ein Praktiker und kein großer Denker. Das holte er aus seinen Studien bei Oswald von Nell-Breuning, der auch an der "Akademie der Arbeit" gelehrt hatte. Meine Eltern sympathisierten auch mit Johannes XXIII., weil der angeblich so viel für die Armen tat und aus einer armen Bauernfamilie kam statt aus dem italienischen Adel. Den haben die sogar live gesehen, 1961 bei einer kleinen Audienz für wenige Gäste in der päpstlichen Sommerresidenz in Castel Gandolfo, da hatten italienische Freunde meiner Mutter zwei der heiß begehrten Eintrittskarten organisiert. Hat auch nicht jeder, 'nem Papst mal Guten Tag gesagt! Eine Privataudienz war es freilich nicht, aber im Frühsommer 1961 - die CDU hatte in der Bundesrepublik noch die absolute Mehrheit, Adenauer regierte und beriet sich bei allem mit dem Kölner Erzbischof, es war mein Erstkommunionsjahr und es war noch in der Zeit, bevor die großen Autoritäten abzuschmelzen begannen, das darf man ja nicht vergessen - da galt das was in einer damals noch sehr katholischen Familie. "Ihr ward beim Papst!", hieß es dann immer ehrfurchtsvoll aufschreiend in der Verwandtschaft. Ist es blasphemisch, jetzt zu erwähnen, dass ich später jemanden gut kannte, dem Elvis Presley ungefähr zur selben Zeit über den kahlen Baby-Kopf gestreichelt hatte? 1976 ist dann die "neue bildpost", damals ein katholisches klerikalfaschistisches mieses Drecksblatt, das mit Propagandalügen die sozial-liberale Koalition bekämpfte - als hätte es nicht genügend anständige Kritik an Helmut Schmidts Politik gegeben! - in einem riesigen Artikel über meinen Vater hergezogen, weil er immer offen sagte, dass und weshalb er aus der Kirche ausgetreten war. Den Artikel hab ich auch noch, den bringen wir aber nicht auf der BIFFF...-Webseite, das sag ich gleich, so'n Dreck!

Jetzt wird's aber heftig. Der Sinnspruch von Johannes Raus Grabstein hat wohl den Korken gezogen und beflügelt Sie?! Noch sind wir auf einem Friedhof, bitte leiser!

Und der Spruch ist ja in der Bibel zweifach denunziatorisch gemeint, einmal gegen Petrus gerichtet, der mit diesem Hinweis verraten werden sollte, und vom Evangelisten Matthäus gegen die Juden gerichtet, die ihn verrieten. Heute benutzen ihn die Christen umgekehrt als positives Bekenntnis, mit Stolz, aber seine antisemitische Konnotation verliert er auch nach zweitausend Jahren christlichem Antisemitismus nicht, auch wenn man ihn gegen die Christenverfolgung durch die Nazis lesen könnte, was Rau ja wohl getan hat, als Bekenntnis eben. Am Grab meines Vaters, dieses alten rheinischen Sozialisten, der kein Atheist sein konnte, wurde sogar ein Vaterunser gesprochen, von einem evangelischen Pastor, einem alten Mitkämpfer für soziale Gerechtigkeit aus der lokalen SPD, der immer ein enger Verbündeter meines Vaters bei innerparteilichen Auseinandersetzungen gewesen war. Das hatte sich mein Vater vor seinem Tod so gewünscht, und meine Mutter hatte es still, aber konsequent und für viele Trauergäste überraschend organisiert. Und dieser Vater aus dem Gebet soll ja die Christen mit den Juden wieder verbinden nach neuer Lesart der Päpste, obwohl das Vaterunser ja auch aus dem Matthäus-Evangelium stammt, aus der Bergpredigt nämlich, dem sozialen Vermächtnis, aus dem sich die Befreiungstheologie speist. Das war schon was: ein paar Hundert Leute am Grab, und von den Sozialdemokraten und Gewerkschaftern waren wohl viele schon seit Jahrzehnten nicht mehr in einer Kirche gewesen, viele auch ausgetreten und in atheistischem Selbstverständnis, und dann dieser evangelische SPD-Pastor, der ja in ziviler Trauerkleidung kam, nicht als Vertreter seiner Kirche, und, als der Sarg meines Vaters ins Grab gelassen wurde, laut in die Menge rief: "Wir sprechen jetzt gemeinsam das Vaterunser. 'Vater unser im Himmel ...'", und die sprachen alle mit! Wie sie gekommen waren, von CDU bis Atheist! Oder bewegten wenigstens die Lippen, in den hinteren Reihen.

Ich bin ja gegen harte Drogen, auch wenn es das Opium des Volkes ist. Die überflüssigste Erfindung des Zwanzigsten Jahrhunderts war sicher die der Bischöfin, das hätt's wirklich nicht mehr gebraucht, nach Feuerbach.

Sie müssen sich wohl mit allen anlegen?

Jetzt sagen sicher viele, die das hier lesen, über mich: der Kratz ist familiär vorbelastet, der kann eben nichts anderes als bifffen, aber in dieser Atmosphäre aufwachsen zu können, dafür darf man dankbar sein, auch wenn es für meine Eltern nur eine Selbstverständlichkeit war. Klar zu lernen, wo links und wo rechts ist, so eine Tradition zu bewahren, das lohnt sich.

Dann hätte Ihr Vater wohl demnächst die pro-israelische Pastorentochter Angela Merkel gewählt statt Wowi?

Das glaube ich nicht, der hätte niemals gegen seine Partei gestimmt, der wäre eher gestorben vor einer solchen Wahl, wenn er diese aktuellen katastrophalen Entwicklungen in der SPD noch mitbekommen hätte. Er hat schon von der Schröder-Riege nichts gehalten, geschweige denn von Schröders Ziehkind Wowereit, dessen Aufstieg er freilich nicht mehr erlebte. Mit dem Namen "Struck" konnten Sie ihn jagen, daraus hat er auch in der Partei nie ein Hehl gemacht, der war für ihn schon Angang der 90er Jahre einer der Hauptverantwortlichen für den Niedergang der Partei, bei jeder Fehlentscheidung der Parteiführung dabei! Und dem Münte mit seinem "Heuschrecken"-Ausfall, den er sich aus dem "Jud Süß"-Nazihetzfilm abgeguckt hat, dem hätte mein Vater einen seiner gefürchteten Briefe geschrieben und die Meinung gegeigt, das können Sie aber glauben!


Nein, nein, als die Sozialkürzungen sich abzeichneten Ende der 70er Jahre, da hat mein Vater gesagt: "Das mache ich nicht, ich höre auf", und verzichtete 1980 auf eine erneute Kandidatur, gegen den Protest vieler Gewerkschafter, die ihn wieder wählen wollten, aber auch der Annemarie Renger, die jemanden wie meinen Vater für wertvoll in der Bundestagsfraktion ansah und zu der sich ja auch ein herzliches Verhältnis entwickelt hatte, nachdem aufgefallen war, dass die genau an demselben Tag geboren worden war wie meine Mutter, das war immer ein großes Hallo, wenn die sich trafen, obwohl man politisch eher entfernt war. Ziemlich weit sogar. Außer bei Israel, die Renger war ja, genau wie Rau, aus tief empfundener Scham über deutsche Schuld eine große Freundin der Juden und des jüdischen Staates. Zu Rengers "Seeheimer Kreis" ging mein Vater nicht, die waren ihm zu rechts, nach einem Pflicht- und Freundschaftsbesuch auf Rengers Drängen sagte er: "Da geh ich nicht mehr hin!" Aber er ging zu den "Kanalarbeitern", die heute manchmal mit den "Seeheimern" verwechselt werden. Die "Kanaler" galten ja nur fälschlich als generell rechts, da waren eben auch viele "Traditionssozialisten" aus den Gewerkschaften darunter, gestandene Sozialisten, aber eben wertkonservativ, wie man heute sagt, manche würden auch sagen: spießig. Mein Vater ging zu den Treffen der "Kanalarbeiter" in den "Kessenicher Hof" in Bonn und kloppte da mit Helmut Schmidt und Gustav Heinemann einen zünftigen Skat! Zu Heinemann, dem damaligen Bundespräsidenten, vorherigen SPD-Justizminister, der ja zuerst Mitbegründer der CDU gewesen war, ein intellektueller Protestant und Pazifist, Förderer und später durch Raus Heirat posthumer Verwandter von Johannes Rau, hatte der linke Gewerkschafter Paul Kratz einen Draht, auf der jovialen Ebene und eben über die Bergpredigt. Davon hat er auch immer erzählt am Wochenende in der Famlie, wie er Schmidt und Heinemann manchen Stich abgenommen hat! Die haben sich wohl beim Kartenspiel ganz gut verstanden, die Pazifisten mit dem vorherigen Verteidigungsminister, die in der Widerstandstradition Lebenden mit dem, der nach seiner Aussage als Offizier ins Publikum des Volksgerichtshofprozesses gegen die Widerständler nur abkommandiert worden war. Fragen Sie mich nicht, ich war nicht dabei. Mein Vater war, wie gesagt, sehr tolerant, auf einer persönlichen Ebene.

Tolerant, aber schlau, mit dem richtigen Riecher. Auf Lafontaine zum Beispiel ist er nie reingefallen. Dass der kein Linker, sondern ein Gegner von Arbeitnehmerrechten und Gewerkschaftsforderungen war, hat mein Vater früh erkannt, als Lafontaine in den 80ern gegen das arbeitsfreie Wochenende agitierte und offen Unternehmerpositionen vertrat, von wegen: "Ein guter Ingenieur hat niemals Feierabend und denkt sowieso immer an seine Arbeit", na ja, das war jetzt kein wörtliches Lafontaine-Zitat, aber so ähnlich. Der DGB klebte ja in den 60er Jahren Plakate, auf denen das Kind sagte: "Samstags gehört Vati mir!", um für das arbeitsfreie Wochenende zu werben. Leider hatte man als Kind eines IG Metall-Gewerkschaftssekretärs und SPD-Politikers oftmals nichts von der Botschaft, denn samstags gehörte mein Vati der Partei.

Aber der linke Gewerkschafter Paul Kratz ging auch zum "Leverkusener Kreis", das waren in den 70er Jahren die linken Bundestagsabgeordneten, die frisch aus den Jusos kamen. Mit vielen von denen hatte er regen Kontakt, las denen aber auch die Leviten über Realpolitik und aus seinem reichen Erfahrungsschatz der konkreten gewerkschaftlichen Arbeit mit den "Kumpels vor Ort", wie er immer sagte, die weniger von theoretischen Debatten als von solider Sozialpolitik hielten. Deshalb war er ja so beliebt, weil er mit den meisten im demokratischen Spektrum diskutieren konnte. Und deshalb hatte ein Schmidt Interesse an ihm, um mal direkt zu hören, was der "Leverkusener Kreis" denn so denkt, macht und plant. Leider haben sich manche aus diesem Kreise dann ja gar nicht so gut entwickelt, siehe Dieter Schinzel.

Ein Portrait der "Westdeutschen Zeitung" aus dem Jahr 1975:


Mit Rau und Heinmann verband ihn auch der Pazifismus?

Den man freilich nicht verabsolutieren darf, sonst wären Rau und Heinemann ja nicht in die SPD gegangen und hätten nicht Regierungsämter für einen Staat mit einer großen Armee übernommen, nachdem sie erst mal gegen die Wiederbewaffnung protestiert hatten. Meine Eltern fuhren in der Nachkriegszeit zu den großen internationalen Friedensdemonstrationen, die die Gewerkschaften mit organisierten, nach Belgien und Holland. Das weiß ich nur aus Erzählungen. Mein Vater hat sich später insbesondere um die Kriegsdienstverweigerer gekümmert, war, wie später auch meine Mutter, Beisitzer in den Gewissens-Prüfkammern für Kriegsdienstverweigerer. Aus den Erfahrungen heraus hat er dann im Bundestag für die Abschaffung der Gewissensprüfung gekämpft, was dann ja auch Gesetz wurde. Da war er mit dem "Leverkusener Kreis" d'accord und hat dafür bei den Gewerkschafts-MdB's geworben. Leider haben die Konservativen das Gesetz als "Postkartenlösung" verunglimpft und vor dem Bundesverfassungsgericht wieder zu Fall gebracht. Darunter hat er dann sehr gelitten. Ich habe für ihn damals ein paar Artikel formuliert, in denen er die Freigabe des Gewissens forderte.
Manchen in der Partei war seine unbedingte Verteidigung und Einforderung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung gar nicht recht. Aber er war unabhängig genug, die Veröffentlichung seiner Meinung auch im SPD-Pressedienst  durchzusetzen.


Aber seinen Namen hat er sich mit dem gewerkschaftlichen Einsatz für seine Kumpels gemacht. Da konnte er radikal werden. Aus den Erfahrungen mit einer Konkurswelle Anfang der 70er Jahre in kleineren Metall-Betrieben in seinem Gewerkschaftsbezirk, bei denen die Arbeiter die Löhne für geleistete Arbeit nicht bekommen sollten, weil die Banken zuerst bedient wurden aus der Konkursmasse, hat er dann in Bonn das Gesetz zum Konkursausfallgeld durchgesetzt. Da musste dann ein finanzieller Fonds gebildet werden von den Unternehmern, aus dem im Konkursfall die ausstehenden Löhne finanziert wurden. Ja, darauf war er mächtig stolz, konnte er auch sein, und sogar die konservative Presse hat diese Leistung immer wieder anerkannt.



Freilich ging es nicht ohne Drohungen. Er musste sich vorwerfen lassen, zu "erpressen", ein Konkursverwalter beschwerte sich schließlich sogar bei Bundeskanzler Brandt über meinen Vater, zum Papst war's ihm wohl zu weit. Oder er wußte die Faxnummer nicht, haha. Solche Zeitungsartikel waren schon die Themen bei uns zu Hause am Mittagstisch, wenn wir aus der Schule kamen und unsere Mutter schon mit dem Essen auf den wieder mal verspäteten Mann wartete, der sich zu spät von einer Verhandlung mit einem Unternehmer oder einem Betriebsratsgespräch hatte losreißen können. "Jetzt ist alles verbrutzelt!", das war ein Satz meiner Mutter aus meiner Kindheit und Jugend, den ich niemals vergessen werde. Meine Mutter war nämlich eine sehr gute Köchin, von der ich auch in dieser Hinsicht viel gelernt habe. Die war natürlich sauer, wenn das Essen zu lange warm gehalten werden musste; der Satz fiel immer, wenn mein Vater zu spät zum Mittagessen kam. Aber eigentlich traf sich die Familie jeden Mittag zum Essen, wenn es eben ging, das war eine Regel, und die gehört auch zu meiner familialen Sozialisation. So was prägt, wenn man der Sohn einer Kämpfernatur ist, da soll sich mal niemand Illusionen machen!

Ein Kämpfer für seine Arbeiter:



Oben: Die Drohung von IG Metall-Gewerkschaftssekretär und SPD-Stadtratsmitglied Paul Kratz, mit den Arbeitern einer bankrotten Eisengießerei zum Rathaus zu marschieren und in eine Stadtratssitzung hinein zu gehen, um von einem Hauptgläubiger, der Stadtsparkasse, die ausstehenden Löhne der Arbeiter gesichert zu bekommen, reichte schon aus. Die städtische Wirtschaftsförderungsgesellschaft sprang ein, weil der Gewerkschafter überzeugend darlegte, dass Löhne auch Wirtschaftsförderung sind. Da konnte sich auch die kommunale Mehrheits-CDU nicht mehr verweigern. Mit Kratz wollte sich niemand so schnell anlegen. Die Stadtsparkasse rückte freiwillig einen Scheck für die Arbeiter heraus.
(Oben: Artikel der "Rheinischen Post" von 1971)


Unten: Wenige Jahre später, schon SPD-Bundestagsabgeordneter, rief der Gewerkschaftssekretär Paul Kratz seine Arbeiterinnen und Arbeiter kurzerhand zum wilden Streik auf, wenn ihre Ansprüche an einen weiteren in Konkurs gegangenen Betrieb nicht befriedigt würden. Auch hier ging es um ausstehende Löhne, die Kratz durch seine radikale Aktion sichern konne; da half auch kein wütender Beschwerdebrief des Konkursverwalters an Bundeskanzler Willy Brandt, um sich über den linken Bundestagsabgeordneten zu beschweren. Der Konkursverwalter gab schließlich lieber nach, weil die Entschlossenheit von Kratz, für "seine Kumpels" das Beste herauszuholen, bekannt war.





(Oben: Artikel der "Rheinischen Post" 1974)


Sie haben jetzt viel über andere erzählt, aus der Vergangenheit. Wie ging es denn weiter mit Ihrem Antifaschismus in der SPD?

Tja, das war alles, bevor die Struck, Schröder, Scharping, Lafontaine oder gar ein Wowereit anfingen, die Partei mit Selbstsucht kaputt zu machen.

(Dieses Gespräch wird demnächst bei einem Spaziergang im Park am Leuschnerdamm in Kreuzberg fortgesetzt.)
(April 2009)
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