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Bisher unbeachtete Verbindung:

Hirschfeld - Viereck - Münsterberg

Strategen der Verhaltenslenkung der Menschen setzten auf Auslese

Eine Zusammenführung unserer Forschungen über Magnus Hirschfelds Jahrzehnte lang engen Freund George Sylvester Viereck, der Hirschfelds Denken und Arbeiten breit beeinflusste, und über die Vortragsreise Hirschfelds durch die USA 1930/31, die von Viereck organisiert worden war, sowie über die Publikationen Hirschfelds in den USA, die Viereck anlässlich dieser Vortragsreise in Tages- zeitungen und Wochenmagazinen organisierte, zeigt einen bisher völlig unbeachteten Aspekt in Hirschfelds Arbeit auf: seine Orientierung auf die psychotechnische Testeritis, die in den USA seit der Jahrhundertwende von dem Viereck-Freund und -Förderer Hugo Münsterberg entwickelt und propagiert worden war. Und tatsächlich zeigt Hirschfelds Ehetauglichkeitstest, den er auf seiner USA-Reise als eines seiner Hauptwerke und wichtiges Projekt seines Berliner "Instituts für Sexualwissenschaft" (IfSw) vorstellte, die Orientierung an Münsterbergs technizistischem Verständnis des Induviduums, das  als bloßes Zahnrädchen in einem großen Gesellschafts-Getriebe nützlich sein soll.


Der Psychologe, Mediziner, Wirtschaftswissenschaftler, Hobby-Lyriker und deutschnationale chauvinistische Publizist Hugo Münsterberg beförderte das "psychologische" Aussortieren der Menschen durch Tests, um sie "optimal" (im Interesse des funktionierenden Kapitalismus) in Fabriken und Betrieben an Arbeitsplätzen einsetzen zu können. Als Psychotechniker und Industriepsychologe, der 1892 einem Ruf an die Harvard-Universität gefolgt war, entwickelte er in den USA maßgeblich die Betriebspsychologie als Teil der praktischen, Angewandten Psychologie mit. In seiner Schrift "Philosophie der Werte" von 1908 und in einem seiner Hauptwerke, "Psychologie und Wirtschaftsleben" von 1912, legte er die Ziele seiner Angewandten Psychologie nieder: "Schaffen, mit ganzer Seele mitschaffen an dem Wunderwerk des Wirtschaftsgetriebes, das ist das Verlangen und der Ehrgeiz der Begabtesten" (1912). Entsprechend sollten diese durch Tests festgestellt und von den vermeintlich Unbegabten getrennt werden, um das von ihm unkritisch als Menschheitsziel gepriesenes "Wirtschaftsgetriebe" des US-Kapitalismus, der zu dieser Zeit einen breiten Aufschwung erlebte, am Laufen zu halten. "Die Jagd nach dem Gewinn ist der stürmische Drang nach erfolgreicher Betätigung. Der Gewinn wird geschätzt, weil er allein besagt, dass die Aufgabe gelöst, der Sieg errungen ist" (1908, S. 356).

1912 wandte er dies auf die Psychologie als Wissenschaft an und wertete das Glück des Individuums in seinem frei gefundenen eigenen Lebensentwurf als nutzlos ab: "Nur das, was allen gemeinsam bleibt, konnte in den Wissensbestand der modernen Psychologie aufgenommen werden, alles übrige musste durch die Maschen des Forschungsnetzes zu Boden sinken" (S. 4f).

Nicht Glück und Freiheit des Individuums, sondern seine "Eignung" für bestimmte Tätigkeiten im "Wirtschaftsgetriebe" war das Forschungsziel Münsterbergs: "Fabriken, deren Leiter eingesehen haben, dass die Individualauslese der Angestellten für die verschiedenen Betätigungen einer der wichtigsten Faktoren zum Erfolge ist, sehen sich bereits heute überall in der alten wie in der neuen Welt ängstlich nach solcher Hilfe um", damit "mit Hilfe von experimentellen Testversuchen eine zuverlässige Angleichung von Mann und Werk ermöglicht wird", schrieb er 1914 in seinem Werk "Grundzüge der Psychotechnik" (S. 419).

Münsterberg gab der Berufs- und Betriebspsychologie damit für Jahrzehnte das "Paradigma" und den psychologischen Berufseignungsuntersuchungen das "Leitideal" vor, wie es Psychotest-Kritiker Rudolf Schmid ausdrückt (vgl. Rudolf Schmid: "Sozialhistorische und sozialpolitische Aspekte von psychologischen Testverfahren", in: Siegfried Grubitzsch und Günter Rexilius (Hg.): "Testtheorie - Testpraxis", Reinbek 1978, S. 29). Die "Anpassung des Individuums an den Beruf" und die "möglichst optimale Zuordnung von Arbeitsplatz und Arbeitskraft" (Schmid, ebd.) zum höheren Ziel des ökonomischen Gewinns der Kapitaleigner waren Münsterbergs Zielvorgaben für die praktische Psychologie.

Und er gab sie gleichzeitig als Wohltat für die Arbeiterinnen und Arbeiter aus, denen Stress an einem Arbeitsplatz, dem sie nicht gewachsen seien, erspart bliebe: "Der Nutzen solcher Arbeit käme aber nicht nur der Leistungsfähigkeit der Fabrik zugute, sondern gleichzeitig der Psyche der Arbeitenden und dadurch mittelbar der gesamten Volkskultur" (Münsterberg 1914, S. 404). Doch es ist auch bei ihm nur das immer wiederkehrende "Jedem das Seine" und "Jeder an seinem Platz", das nichts anderes als die Zementierung der hergebrachten Macht-, Wohlstands- und Armutsverhälnisse bedeutet. Weder der philosophische noch der politisch-ökonomische Begriff der entfremdeten Arbeit spielten für Münsterberg eine Rolle, denn er hatte nur das Weiter- drehen der kapitalistischen Schraube auf immer höhere Profitniveaus für die Kapitaleigner und die Nützlichkeit des arbeitenden Individuums in diesem Prozess im Sinn.

1977 zitierte Rudolf Schmid in seinem Buch "Intelligenz- und Leistungsmessung. Geschichte und Funktion psychologischer Tests" (Frankfurt a. M., S. 77) bereits Münsterbergs politische Philosophie aus dessen Buch "Amerika und der Weltkrieg" von 1915 (dort S. 188): "Ein Staat solcher Art" (ein Staat nach M's Ideal, P.K.) "muss Wert auf Symbole legen und muss fest zu einer Regierungsform halten, in der der Führer unabhängig ist von den rein individuellen Wünschen der Bürger" -- eine Position, die Viereck später bis zum Schwur auf Adolf Hitler ausbaute.

Als man in den 70er Jahren noch einen Begriff von "entfremdetem Leben" und eine Utopie von selbstbestimmtem Leben hatte, kritisierte Rudolf Schmid Münsterbergs Idee, das Glück der Menschen von psychologischen Tests abhängig zu machen, als fremdbestimmte "Zuordnung von Individuen zu sozialen Orten, speziell zu gesell- schaftlichen Rängen" und ihre "Legitimierung mittels quantifizierbarer Verfahren, mit denen die 'Geeignetheit' der Individuen für bestimmte Rangplätze innerhalb der genannten Orte - aber auch ihre Festschreibung auf sie - wissenschaftlich bestimmt und demonstriert werden" solle (in Grubitzsch und Rexilius 1978, S. 32). Heute scheint sich kaum noch jemand vorstellen zu können, was ein selbst- bestimmtes Leben jenseits des Facebook-Profils, dessen Funktionen ebenfalls vorgegeben sind, überhaupt sein könnte.

Wie wir in unserer kritischen Dokumentation eines Hirschfeld-Textes von 1931 aus seiner USA-Reise gezeigt haben, verfolgte Hirschfeld im IfSw mit seinem Fragebogen zur Eheberatung letztlich dieselben Ziele wie Münsterberg, wenn auch eher mit qualitativen statt quantitativen Testmethoden. Bemerkenswert ist, dass diese Hirschfeld-Texte in den USA nur durch die Vermittlung George Sylvester Vierecks erschienen, einem Freund Münsterbergs, der auch Hirschfelds USA-Reise organisiert hatte.

Insbesondere die erotischen Gedichte des deutsch-amerikanischen Publizisten und Verlegers G. S. Viereck, mit dem Hirschfeld seit den 1890er Jahren bekannt und später eng befreundet war (was die Hirschfeld-Forschung bisher gänzlich unberücksichtigt gelassen hat), erfuhren eine breite Förderung durch den deutsch-amerikanischen Psychologen Hugo Münsterberg, woraus sich schnell eine Freundschaft zwischen Münsterberg und Viereck entwickelte. Münsterbergs Position an der Harvard- Universität, seine Arbeit für das US-amerikanische Kapital und seine Verankerung in der deutsch-amerikanischen Kolonie in den USA halfen Viereck enorm bei der Verbreitung seiner schriftstellerischen Arbeit und politischen Agitation zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie die Viereck betreffenden Archive bzw. Archivteile in Harvard/Massachusetts und Illinois zeigen.

Diese Freundschaft fußte auch auf dem gemeinsam geteilten deutsch-nationalen Chauvinismus, der sich mit Beginn des Ersten Weltkriegs bei beiden noch steigerte. Münsterberg und Viereck propagierten in den USA das "Deutschtum" und die "deutsche Wesensart" als Vorbild für die US-amerika- nische Gesellschaft; sie propagierten auch die deutschen Kriegsziele und rühmten die teutonische Kriegsmacht
(und Hirschfeld schloss sich ihnen zumindest 1914 eine Zeit lang an). Viereck druckte in seiner deutsch- amerikanischen Zeitschrift "Rundschau zweier Welten" 1912 auch einen peinlichen lobhudelnden Text Münsterbergs auf Kaiser Wilhelm II. und die deutsche Kriegsmarine, den Münsterberg am Ende des Artikels mit seinem Unterschriftszug noch bekräftigte. Nach Kriegsbeginn fielen Münsterberg und Viereck in der amerikanischen Öffentlichkeit wegen ihrer politischen Stellungnahmen gegen die anglo-amerikanischen Verbündeten und ihres Einsatzes für das Deutsche Kaiserreich weitgehend in Ungnade, was ihre wütenden nationalistischen Ausfälle nur noch steigerte. Münsterberg starb 1916 plötzlich, was Viereck zum fast alleinigen, zumindest aber schriftstellerisch gewaltigsten Wortführer der prodeutschen Kriegsagitation an der US-Ostküste machte.

Was in der kritischen psychologischen Diskussion von Münsterbergs Ansätzen, die in den 70er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland stattfand, unbekannt blieb: Münsterberg kam wie Hirschfeld aus einer assimilierten jüdischen deutschen Familie, hatte sich wie Hirschfeld gänzlich von der Religion abgewandt und mit pseudo- wissenschaftlichen naturreligiösen Ansätzen geliebäugelt (wobei Münsterberg trotz allem wohl eher bürgerlicher Materialist bleib als Hirschfeld, der sogar Mitglied der deutschvölkisch-naturreligiösen Sekte "Monistenbund" wurde).

Münsterberg hing - wie Hirschfeld - der eugenischen Bewegung an, deren US-amerikanischer Zweig zur Durchsetzung sozialdarwinistischen und rassistischen Ziele große Hoffnungen auch auf psychologische Tests setzte, für deren Verbreitung Münsterberg warb. Schmid wies 1978 darauf hin, dass Sozialdarwinismus und Rassismus "von Anfang an" die "Testbewegung" in den USA mit bestimmte (S. 34). So wurde der kurz nach Münsterbergs Tod veröffentlichte Intelligenztest "Stanford-Binet" mit eugenischen Propaganda- Tiraden verkauft, die inhaltlich identisch mit Hirschfelds Ausfällen
vom Ende der 20er und Beginn der 30er Jahre gegen "Behinderte", "Alkoholkranke", "Straftäter" oder gar nur gegen innerhalb der bestehenden Mehrheits- gesellschaft schlicht Unerwünschte waren. Zitate aus der Erstveröffent- lichung des "Stanford-Binet"-Intelligenztestes, die Schmid zitiert, entsprechen der eugenischen Propganda, die Volkmar Sigusch in seinem Werk "Geschichte der Sexualwissenschaft" von 2008 aus Hirschfelds "Geschlechtskunde", Band III, von 1930 zitiert.

Ideologisches Dreieck zur gesellschaftlich konformen
Verhaltenssteuerung:




Hugo Münsterberg - George Sylvester Viereck - Magnus Hirschfeld


Schmid zitiert (1978, S. 34) aus dem Vorwurt des "Stanford-Binet" von 1916: "In der näheren Zukunft werden Intelligenztests Zehntausende dieser hochgradig Schwachsinnigen unter die Überwachung und den Schutz der Gesellschaft bringen. Dies wird letztlich in einer Beschränkung der Fortpflanzung der Schwachsinnigen resultieren sowie in einer Eliminierung eines beträchtlichen Umfangs von Verbrechen, Pauperismus und industrieller Ineffektivität."

Sigusch zitiert (2008, S. 380) aus Hirschfelds "Geschlechtskunde" Band III:
"250.000 Geisteskranke, ebenso viele Schwachsinnige und Idioten, in noch größerer Menge Psychopathen aller Art, außerdem 90.000 Epileptiker, 120.000 Alkoholiker, 18.000 Taubstumme, 36.000 Blinde, 70.000 Fürsorge- zöglinge und dazu ein ganzes Heer von Krüppeln, Vagabunden, Dirnen und Verbrechern (jeder siebte erwachsene Mann ist in Deutschland vorbe- straft). Wie sehr der erblich belastete Bevölkerungsteil auch den Geldbeutel des Staates belastet" (1930, in der Weltwirtschaftskrise, nicht verges- sen!) "geht aus einer Berechnung hervor ..." -- wir sparen uns die Reichsmark- Zahlen, die Hirschfeld allein "für die Verpflegung von 33.000 Minderwertigen ... 1911 in Preußen" hier ausrechnete, zitieren lieber aus Siguschs Buch (ebd.) noch die Schlussfolgerung Hirschfelds, die Sigusch in Hirschfelds "Geschlechtskunde" fand: "Solche Zahlen machen es begreiflich, dass auch in Deutschland das Sterilisierungs- problem in steigendem Maße die Aufmerk- samkeit immer weiterer Kreise auf sich zieht; andererseits geht aber aus ihnen hervor, welche ungeheuren Schwierigkeiten eine Zwangssterilisierung mit sich bringen würde, die wirklich eine nennenswerte Entlastung des Volksganzen von den erblich belasteten Volkskreisen bedeuten würde."

Hirschfelds USA-Reise 1930/31 fand denn auch zu den US-amerikanischen Eugenikern statt, vor denen er seinen Ehefragebogen zur Feststellung der Ehe- und Fortpflanzungs-"Tauglichkeit" und seine eugenische Arbeit am Berliner IfSW in Reden darstellte. Sein Artikel im Magazin "Liberty" vom 21. August 1931, in dem er den Menschen als Maschine definiert und kritisiert, dass "in Liebesdingen" den vor Liebe Irren unkontrolliert freier Lauf gelassen werde, während man doch längst begiffen habe, dass man sein Auto in der Werkstatt durchchecken lassen muss, und in dem er dazu auffordert, dem Auto-Werkstatt-Beispiel zu folgen und zahlreiche solcher "love clinics" zum Zwecke der Ehetauglichkeitsberatung zu errichten, wie er es mit seinem IfSw in Berlin gemacht habe, zeigt dieselbe technizistische Orientierung, wie sie Münsterberg in der Betriebspsychologie verfocht. Die Wünsche und das Glück des Individuums, hier der Liebenden, bildeten für Hirschfeld - wie für Münsterberg - nur ein Verkaufsargument für die Auslese von Menschen zum höheren Zweck: nur die sollten sich fortpflanzen, die ein brauchbares Arbeitstier-Produkt herzustellen in der Lage seien, den anderen sei zur Trennung zu raten, Liebe hin oder her. (Einzelheiten in unserer Kritik.)

Während sich Münsterbergs Nützlichkeits-Erwägungen auf das unhinterfragt affirmierte kapitalistische "Wirtschaftsgetriebe" richteten, dessen (psychologische) Funktionäre die Menschen auswählen rsp. aussondern sollten, wandte Hirschfeld die Testeritis gleich bevölkerungspolitisch an: nur die (für wen?) Brauchbaren sollten überhaupt erst er-(ge-)zeugt werden. Wo sich Münsterbergs "Psychotechnik" auf das "taugliche" (!) "Durchschnittsindividuum" (Schmid 1977, S. 78) bezog und Individualität als unerwünschte Abweichung und "Fehler" angesehen wurde (mit Bezug auf die "Nützlichkeit" zum Zwecke der Kapitalverwertung), sprach Hirschfeld von der biologischen "Ausjätung" der Unerwünschten, und zwar gleich aus der ganzen "Natur". Beiden gemeinsam ist eine totalitäre Sicht auf das menschliche Individuum, das nicht mehr sich selbst gehört, sondern nur für ein abstraktes, fremdbestimmtes Ziel existiert. Begutachtet, eingeteilt, zugeteilt, ausgesondert, überwacht, ausgemerzt, total verwaltet -- eine "rationale" bzw. "rationalisierte" Gesellschaftsvision des "1984". Wo Münsterberg die menschliche Gesellschaft als bloßes "Wirtschaftsgetriebe" sieht, spricht Hirschfeld von der "Liebe" als dem "Dynamo" und dem "Motor", dessen Ausfall "die ganze Maschine" zum Stillstand bringe: "Yet love is the dynamo that keeps the whole world going. If there is trouble with the love motor the whole machine goes on the rocks" (in seinem "Liberty"-Artikel von 1931, den Viereck wohl ediert hatte).

Letztlich steht bei beiden doch nur die Rationalität des Marktes als die einzig gültige Ethik, eine von jeder Menschlichkeit entkleidete instrumentelle Vernunft der Profit- maximierung, der alles Bunte nur Duselei ist (wenn man nicht eine Ware daraus machen kann!), die Abweichungen beseitigt (außer sie seien als Teilmarkt nutzbar!), weil individuelle Variabilität den Lauf der Maschine stört. Nur der Durchschnitt ist effektiv verwaltbar, in seinem Lauf und Ergebnis vorhersagbar. Der "Schlupfwinkel" für das "Nichtidentische" (Adorno) muss als Schlupfwinkel verschwinden, existiert nur formal weiter, wenn er als Marktplatz genutzt werden soll. Individualität als Ware ist eben keine mehr; das mussten die Zünfte bitter lernen beim Aufkommen der Industrie.
Für Hirschfeld war klar, dass es sexuelle Selbstbestimmung - ein Hauptpunkt heutiger Freiheitsrechte und auch Grundlage des Sexualstrafrechts - nicht geben dürfe. Statt dessen sollte Sexualität dem Erhalt und der Höherentwicklung des "Volkes" und des "Staatsganzen" dienen - wie es Münsterberg für die menschliche Arbeitskraft verlangte, die ebenfalls nicht selbstbestimmt ausgeübt werden durfte. Die Kriterien für die Lenkungsentscheidungen, wer was unter welchen Bedingungen arbeiten darf (Münsterberg), wer Sexualität wie leben und sich fortpflanzen darf (Hirschfeld), sollte von "Experten" nach nicht hinterfragbaren Kriterien, auf die die betroffenen Individuen keinen Einfluss haben, festgelegt werden. Dazu dienten die Auslese-Tests, die Münsterberg für die Berufseignung im Sinne der Konkurrenz-Profitwirtschaft und Hirschfeld für die Ehetauglichkeit im Sinne eines biologisch starken Volkes in der Konkurrenz zu anderen Völkern (hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder und flink wie die Windhunde) und eines kostensparenden Gesundheits- und Justizsystems propagierten und entwarfen. Beide orientierten sich am Sozialdarwinismus und an festgelegten gesellschaftlichen Rollen, also an antidemokratischen, antiemanzipatorischen und einer modern-bürgerlichen "durchlässigen" (letztlich sozialdemokratischen) Gesellschafts- konzeption entgegen gesetzten gesellschaftspolitischen Visionen und Zielen. Ihr beider Freund Viereck propagierte diese Visionen und Ziele literarisch, zum Beispiel in seiner Trilogie des siegreich durch die Jahrhunderte schweifenden Übermenschen oder in seinen noch zu Münsterbergs Lebzeiten erschienenen "Confessions of a Babarian / Bekenntnisse eines Barbaren".

Ein an Michel Foucaults Gouvernementalitäts-Kritik (und nicht an Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Kritik der instrumentellen Vernunft) orientiertes Forschungs- projekt des Instituts für Germanistik der Philosophisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien unter Roland Innerhofer über "Regulierungswissen und Möglichkeitssinn 1914-1933" in den Jahren 2008 bis 2010 versprach eine Betrachtung der gesellschaftlichen Lenkungstechnologien, die Münsterberg und Hirschfeld verfochten. Bedauerlicherweise musste Hirschfeld aus Kapazitätsgründen aus dem Projekt wieder heraus genommen werden, wie uns Innerhofer mitteilte. Die Disziplinierung von Sexualität zum Zwecke der Bevölkerungsregulierung nach den nicht hinterfragten Kriterien der vorgefundenen Gesellschaft, und das heißt letztlich nach den Kriterien des Marktes, wie sie Hirschfeld mit seinem Ehetauglichkeitsfragebogen verfocht, wurde daher nicht näher untersucht.

Angekündigt war auch eine Untersuchung literarischer Entwürfe "möglicher Körper" und "möglicher Räume ... als Bestandteil einer Geschichte der Gewalt und der Regierung", "wobei jenen Momenten, in denen die Konstruktion imaginärer Möglichkeitswelten in Regulierungsphantasien umschlägt, besondere Aufmerksamkeit zukommt." Auch hier muss man bedauern, dass der im deutschsprachigen Raum heute weitgehend unbekannte George Sylvester Viereck und insbesondere seine Übermensch-Trilogie und ihr Bezug zu Hirschfelds biopolitischem Regulierungswahn nicht betrachtet wurden.

Andererseits ist darauf hinzuweisen, dass Hirschfeld mit seinen bis zur Zwangs- sterilisierung und der von Auguste Forel übernommenen "Schmerzloser Tod"- Vernichtungsphantasie vor-neoliberal agitierte, statt hinzuarbeiten auf eine "Selbstführung", "Selbstbemeisterung" und "Selbstkultivierung" (Roland Innerhofer und Katja Rothe, in: Innerhofer, Rothe und Karin Harrasser (Hg.):
Das Mögliche regieren. Gouvernementalität in der Literatur- und Kulturanalyse, Bielefeld 2011, S. 15f). Hirschfelds Steuerungsinstrumente waren plump und totalitär, seine "biopolitische Führungsmethode" (Innerhofer und Rothe, S. 16) war letztlich terroristisch, nach Art der Rackets und damit nicht nur inhaltlich nahe am Faschismus, sondern auch formal. Allenfalls seine mystizistische Ansicht, homosexuelles Verhalten diene "der Natur" dazu, "Erbfehler" aus der menschlichen Keimbahn auszusondern und auf diese Weise quasi natürlich ein starkes Volk zu züchten, weshalb die wilhelminische Strafnorm des Paragraphen 175 abzuschaffen sei, könnte man noch als eine sophisticated Lenkungsstrategie ansehen, wenn sie nicht so irre wäre.

Demgegenüber würde es lohnen, Max Hodanns eugenisch ausgerichtete Sexual- erziehung, die er am Institut für Sexualwissenschaft entwickelte, foucaultistisch zu untersuchen:
"Ein 'normalisierendes' Regulierungswissen trachtet danach, die freigesetzten Energien durch Sicherheitsdispositive (wie Risikoabschätzung, Gesundheitsvorsorge, Verdurchschnittlichung von Verhalten) zu kanalisieren", schreiben Innerhofer und Rothe (S. 10); die Entäußerungen der menschlichen Psyche werden Objekte der "Verwaltung" (Horkheimer/Adorno).
(Mai 2012)
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